Ausgabe 2 / 2022 Andacht von Geertje Bolle

Vom Einander-Anschauen

Weihnachtsandacht mit Menschen mit Demenz

Von Geertje Bolle

Andachten mit Menschen mit Demenz erfordern von uns in besonderer Weise Präsenz, Sich-Einlassen, In-Beziehung-Gehen. Das ist viel wichtiger als der vorbereitete Text. Haben Sie diesen nicht dabei? Nicht so schlimm. Haben Sie nicht durchgeatmet und sind mit den Gedanken woanders? Ein No-Go.

Das Begrüßen der Einzelnen vor dem Gottesdienst ist eigentlich schon Teil des Gottesdienstes. Mit Namen angesprochen werden (wenn’s irgend geht, dass Sie die Namen wissen), angeschaut werden, gesehen werden, gemeint sein – das kann nicht nur das Gefühl willkommen zu sein hervorrufen, darin wird letztlich auch das Von-Gott-Gewollt-Sein und Von-Gott-Gesehen-Werden menschlich erfahrbar.

Klang der Glocken – darauf bitte nicht verzichten! Gibt es keine Glocken, spielen Sie 
gerne eine digitale Aufnahme ab.

Musik: Haben Sie vielleicht die Chance, an einen Leierkasten zu kommen? Wir feiern unsere Andachten oft mit unserer Drehorgel; sie ist vielen der heute Alten vertraut und oft geliebt und passt zu Advent und Weihnachten. Ansonsten: Leibliche Musiker*innen sind an diesem Ort besonders wichtig. Für Gottesdienste in Pflegeheimen gibt es oft keine finanziellen Mittel für die Kirchenmusik, dabei ist es gerade für Menschen mit Demenz so kostbar, wenn reale Menschen musizieren. Wenn’s gar nicht anders möglich ist, halt aus der Konserve. Aber: Musik!

Es ist Weihnachten. Jesus wird geboren. Seien Sie herzlich gegrüßt zu unserem Weihnachtsgottesdienst. Gott wird Mensch. Dieses Wunder feiern wir heute.
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

(Für das Votum traditionelle, vertraute Worte wählen. Menschen wollen erleben: Es ist Gottesdienst.)

Lied   Süßer die Glocken nie klingen

Beim Propheten Jesaja lesen wir: Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter. Und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst. Jes 9,6

Lasst uns beten:

Barmherziger Gott, wir kommen zu dir. Du wirst Mensch. In unserem Dunkel wird es hell. Amen.

Lied   Ihr Kinderlein kommet (EG 43, 1-2)

Die Weihnachtsgeschichte ganz lesen – auch wenn sie lang ist und für Menschen mit fortgeschrittener Demenz die Worte vielleicht nicht verstehbar. Aber bei vielen ist sie so bekannt, dass die Satzmelodie Vertrautes in die Gegenwart holt – darum bitte in vertrauter Übersetzung lesen. Im evangelischen Raum ist das meist noch Luther; 
hier darum in der Übersetzung von 1912.

Lesung: Lk 2,1-7
Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger von Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Da machte sich auch auf Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe, die ward schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, da sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.

Lied   Ihr Kinderlein kommet (EG 43, 3-4)

Lesung: Lk 2,8-14
Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde.
Und siehe, des HERRN Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des HERRN leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der HERR, in der Stadt Davids.
Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.

Lied   Ich steh an deiner Krippen hier (EG 37, 1-2)

Predigt
Gnade sei mit uns und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.
Amen.

Liebe Gemeinde,

Haben Sie die Krippe schon gesehen? Hier vorne.

(Am Altar steht eine große Krippe.)

Eine Futterkrippe. Wie im Stall von Bethlehem.

(Ich gehe hin, schaue hinein, staune.)

Wollen Sie auch schauen?

(Mit der großen Krippe gehe ich zu den Menschen. Jede*r einzelne schaut hinein.)

Da liegt ja ein Baby. In der Krippe – das Christuskind. Es ist Weihnachten. Das Kind in der Krippe. Wir bekommen Gott zu sehen – als Mensch. Als kleines Kind. Als Baby in der Krippe. Wie schön. Wie besonders!

Es gibt Momente im Leben, die sind so besonders. Da können wir fast gar nicht anders als mit all unserer Liebe, mit dem Herzen schauen. Vielleicht wissen die Mütter unter Ihnen noch, wie es war, als Sie geboren haben. Ihr Baby das erste Mal anschauen. Das ist doch bis heute in unserem Herzen.

(Ich fasse mir aufs Herz.)

Gott hat sich auch ein Herz gefasst und uns dieses Kind in die Krippe gelegt.
An Weihnachten. Dass wir hinschauen. Dass wir Christus schauen.
Einer wie wir. Dass wir einander angucken. Von Mensch zu Mensch.
Und staunen lernen.
Ich schau Ihnen ins Gesicht.

(Ich gehe herum und bleibe vor einer stehen, die ich freundlich anschaue.)

Und in die Augen.

(Ich gehe zu einer nächsten.)

Wie schön, dass es Sie gibt.

(Bei einigen wiederholen)

Wunderbar von Gott gemacht. Jede von uns. Wunderbar von Gott gemacht. Jeder von uns anders. Jede mit dem, was sie ausmacht. So wie Sie geboren sind und im Laufe Ihres Lebens geworden sind und heute da sind. Jeder einmalig und unverwechselbar. Mit unserem Herzen können wir das sehen.

Und so dürfen wir uns gesehen wissen. Von anderen. Und von ganz oben, von Gott. Der uns mit großem Herzen ansieht und auf uns achtet. Auf jedes seiner Kinder. Lauter Kinder Gottes. Von Gott gesehene und geliebte Menschenkinder. Wir alle.

Einander anschauen. Das ist schön, wenn Menschen zusammenkommen und sich anschauen. Und sich von Angesicht zu Angesicht begegnen. So wie wir heute hier. Wo Wärme strahlt und es leuchtet. Dann glaube ich, dass Gott gegenwärtig ist. Wo die Liebe wohnt, da ist unser Gott. Amen.

Und der Friede Gottes, der größer ist als all unser Verstehen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Lied   Stille Nacht (EG 46, 1-3)

Lasst uns beten:
Danke, dass du da bist, Gott.
Dass du uns nahekommst.
Du lädst uns ein an die Krippe
Du rufst uns, dich zu sehen, einander zu sehen.
Die Menschen neben uns so zu sehen, wie du sie gemeint hast.
Wir legen dir alle Menschen auf dieser Erde ans Herz – all deine Kinder.

Vaterunser

Lied   O du fröhliche (EG 44, 1-3)

Und nun geht in diese Weihnachtstage mit dem Segen unseres Gottes:
Der Herr segne euch und behüte euch.
Der Herr lasse leuchten sein Angesicht über euch und sei euch gnädig.
Der Herr erhebe sein Angesicht auf euch und schenke euch Frieden. Amen.

(Wenn möglich, gerne ein Segen mit Handauflegung. Dieser ist leiblich, persönlich, ganzheitlich erfahrbar und vergegenwärtigt besondere Momente.)

Musik

Geertje Bolle ist Pfarrerin und Klinikseelsorgerin, Existenzanalytikerin und Logotherapeutin. Sie arbeitet als Theologische Leitung im Geistlichen Zentrum Demenz in Berlin. Information und Kontakt unter www.ts-evangelisch.de/glaube-und-demenz

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