Die herrliche Abendsonne beschien mit ihren goldenen Strahlen einen großen Fichtenbaum, welcher an einer felsigen Berghalde stand. Sein stachlichtes Laub prangte im schönsten Grün, und seine Äste waren wie mit Feuer übergossen und glänzten weithin durch die Gegend. Er freute sich dieses Glanzes und meinte, all diese Herrlichkeit gehe von ihm selbst aus und sei sein eigenes Verdienst, sodaß er sehr eitel ward und prahlend ausrief: „Seht her, ihr andern Gewächse und Geschöpfe um mich her, wo erscheint eines in solcher Pracht wie ich edle Fichte? Gewiß, ihr seid sehr zu bedauern, daß euch der Schöpfer nicht schöner geschmückt hat.“
Die Sonne hörte diese eitle Rede und wurde darüber unwillig, sodaß sie ihre Strahlen von dem Baume weg auf einen dunklen Teich wandte, der unten am Berge in tiefer Ruhe lag. Der Fichtenbaum sah nun so öd und traurig aus wie vorher; der Teich aber bewegte sich freudig in kleinen goldenen Wellen und widerstrahlte das Bild der Sonne in tausend Feuerpunkten. Allein auch er wurde stolz darauf und glaubte am Ende, er selbst sei die Quelle all dieser Klarheit, und verspottete die anderen Gewässer, welche im Schatten lagen.
Da wurde die Sonne abermals unwillig, zog Wolken zusammen, in denen sie sich verhüllte, und der Teich lag nun wieder in seinem düsteren melancholischen Grau wie zuvor und schämte sich. Die Wolken hingegen begannen jetzt zu glühen und zu scheinen wie Purpur und verbreiteten sich wohlgefällig im abendlichen Himmel, als die Erde schon im Schatten lag. Da wurden auch sie übermütig und riefen: „Erglänzen wir nicht viel schöner denn die Sonne?“
Und zum dritten Male wurde die Sonne unwillig, und indem sie hinter den Horizont hinabstieg, entzog sie ihre Strahlen den undankbaren Luftgebilden, und Wolken, See und Bäume verschwammen nun in der grauen Dämmerung, endlich die Nacht all diese eitlen Geschöpfe der Vergessenheit übergab.
zitiert nach Projekt Gutenberg
(http://gutenberg.spiegel.de/buch/gottfried-keller-fabeln-3382/2)
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