Ausgabe 2 / 2012 Material von Antje Rösener

Vom halben Glück

Von Antje Rösener

Kürzlich saß ich im Großraumwagen eines ICE neben einer 4-köpfigen Familie. Vater, Mutter, ein etwa 5-jähriges Mädchen und ein Säugling, vier, vielleicht fünf Wochen alt.

Die Fahrt ging über mehrere Stunden. Ich weiß gar nicht: Lag es an meiner langweiligen Zeitschrift oder daran, dass ich lange kein Neugeborenes mehr gesehen hatte, aber: Die Familie zog mich in ihren Bann.

Dabei war von Idylle keine Spur. Beide Eltern total übermüdet. Man sah es auf den ersten Blick. Auch die 5-Jährige nicht gerade in bester Verfassung. Sie musste immer wieder in ihre Schranken verwiesen werden. Papa und Mama hatten weder Kraft noch Zeit, mit ihr ohne Ende Karten zu spielen oder aus Büchern vorzulesen. Mal schuckelte er das Baby, damit sie schlafen konnte, mal war es umgekehrt. Und dann waren da ja auch noch die anderen Zuggäste. Deren freundlich-interessierte Blicke konnten sich blitzartig in vorwurfsvolle Mienen verwandeln, wenn der Säugling länger als zwei Minuten zu quaken gedachte.

Nein, von einer gemütlichen Familien-Bahnfahrt konnte wirklich nicht die Rede sein. Die Vier schafften es so gerade, mit ihren Kräften über die Runden zu kommen.
Du lieber Himmel, dachte ich. Da kommt niemand auf seine Kosten. Am ehesten vielleicht noch der Säugling, aber schon die 5-Jährige muss sich bremsen und einschränken, ganz zu schweigen von Papa und Mama.
Nichtsdestotrotz: Es lag – kaum zu beschreiben – ein Hauch von Segen über diesem sorgsamen Miteinander am Rande der Kräfte.

Natürlich erkannte ich mich wieder und auch die vielen anderen, die in dieser mittleren Lebensphase manchmal mehr schlecht als recht versuchen, alles unter einen Hut zu kriegen: Familie und Freunde, Partnerschaft, den Beruf und dann auch noch die eigenen Hobbys und Interessen.

Das kann es doch nicht sein: der Alltag eines Erwachsenen. So viel Mühsal, so viele Pflichten, soll es das dann gewesen sein?
Solche Sätze habe ich mit siebzehn in mein Tagebuch geschrieben und manchmal holen sie mich heute noch ein.

„Man ist immer nur ein halb guter Vater, eine halb gute Lehrerin, ein halb glücklicher Mensch“, schreibt Fulbert Steffensky, ehemals Mönch, dann Professor, Ehemann und Vater. „Es ist nicht versprochen, dass die Menschen sich den Himmel auf Erden bereiten. Aber man kann sich Brot sein, manchmal Schwarzbrot, manchmal Weißbrot. Man kann sich Wasser sein, gelegentlich Wein.“
Tatsächlich, wenn einem das Halbe gelingt, so ist das oft schon viel.

Für das Ganze, das Vollkommene steht Gott.
Ich muss es nicht schaffen: Die perfekte Ehefrau,
Mutter, Freundin und Kollegin – diesen Druck
mache ich mir
ganz alleine.
Für das Ganze, das Vollkommene steht Gott.
Steht Gott ein. Manchmal ahne ich es.
Manchmal spüre ich es.

So wie neulich im Zug.

aus:
Momente der Gelassenheit –
Kurze Geschichten zum Atemholen
Gütersloh 2005
© bei der Autorin

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