Alle Ausgaben / 2009 Artikel von Klara Butting und Gerard Minaard

Vom Leben zu träumen wagen

Projekt Woltersburger Mühle

Von Klara Butting und Gerard Minaard


Die Jüngsten sind gerade einmal 16 Jahre alt, die Ältesten 24. Vierzig junge Frauen und Männern lernen und arbeiten in der Produktionsschule Uelzen (PSU). Sie alle haben Brüche in ihren noch kurzen Lebensläufen: eine abgebrochenen Ausbildung, einen unvollendeten Schulabschluss, persönliche Krisen. Sie alle sind arbeitslos und sollen für eine Ausbildung oder auch eine Anstellung fit gemacht werden.

Dieses Fit-Machen erfolgt in der PSU über die Verbindung von praktischem und theoretischem Lernen. Lernprozesse finden hier über Produktionsprozesse statt. Den Kern der Schule bilden Werkstätten in den fünf Bereichen: Textil und Design, Bautechnik, Elektro, Hauswirtschaft und Büro. Der Unterricht findet so viel wie möglich im Rahmen der Arbeit statt. Neben dem fachlichen Lernen wird der Ganztagsbetrieb der PSU durch Unterricht in schulischen Kernfächern komplettiert, so dass sogar der Hauptschulabschluss nachgeholt werden kann. Selbst Einzelunterricht in Fächern wie Mathematik ist möglich und nimmt etlichen der jungen Frauen und Männer die Furcht vor den so wichtigen Zahlen.

In der PSU geht es zu wie in einer Großfamilie. Die Jugendlichen können und sollen hier erfahren, was sie größtenteils nicht zu Hause bekommen haben. Nämlich Geborgenheit und Hilfe, kurzum: Liebe. Und auf der Basis dieser Liebe fußt das gemeinsame Ringen um eine bessere Zukunft. Deshalb wird gemeinsam gegessen. Und wenn jemand Geburtstag hat, gibt es eine kleine Torte aus dem Hauswirtschaftsbereich und eine Kerze. Nichts Besonderes eigentlich, aber ohne diese Basis sieht das Leben anders aus.


Die Woltersburger Mühle

Träger der PSU ist das Arbeitslosenzentrum IDA (Integration durch Arbeit), ein Zweckbetrieb des als gemeinnützig anerkannten Vereins „Gemeinwesenorientierte Arbeit im Kreis Uelzen“. IDA ist auf die Suche gegangen nach geeigneten Räumen für die PSU, in denen die Werkstätten, eine Kantine und 40 junge Leute mit Anleiterinnen und Anleitern in einem Gebäudekomplex unterkommen  können – und nicht wie bisher in verschiedenen Häusern. Bei dieser Suche ist IDA auf die Woltersburger Mühle gestoßen. Innerhalb einer Woche war die Entscheidung gefallen. Das 1,5 ha große Gelände mit Wasser und Wald in 4 km Entfernung von Uelzen wurde in einer Zwangsversteigerung erworben. Hier wird die PSU einmal ihr Zuhause finden. Allerdings ist das bis jetzt noch Zukunftsmusik. Denn die Gebäude auf dem Mühlengelände bestehen aus mehr oder weniger verfallenen Außenwänden, es gibt weder Heizung noch sanitäre Anlagen. Den Kern bildet eine alte Wassermühle aus dem 19. Jahrhundert, idyllisch gelegen an einem Flüsschen. Hier soll die Kantine entstehen. Die Werkstätten der PSU werden in die Wirtschaftsgebäudekomplexe einziehen, die ebenfalls von Grund auf saniert werden müssen. Beziehbar ist bisher nur ein Wohnhaus, das zum Teil als Büro der Bauplanung und -leitung in Betreib genommen wurde und zum anderen Teil an zwei Mitarbeiter von IDA vermietet wurde.

Wer das Gelände der Woltersburger Mühle betritt, spürt sofort, dass dieses Projekt eine eigene Dynamik hat. Das Gelände ist ein Kleinod, das zum Träumen verleitet. Bald entstand der Gedanke, das Ganze auch touristisch zu erschließen. Ein öffentlicher Radweg führt an der Mühle vorbei. Es bietet sich an, die Kantine, die die PSU sowieso braucht, auch als Cafe für Spaziergänger/innen und Tourist/innen zu nutzen und an Stelle eines zerfallenen Hühnerstalls Übernachtungsmöglichkeiten zu errichten: kleine Pfahlhäuschen, mit Küche und Bad und einigen Zimmern.

Besucher und Besucherinnen begeistern sich für das Projekt und so zieht die Vision ihre Kreise. Mitglieder des BUND haben in einem eingefallenen Erdkeller einen idealen Ort für Fledermäuse erkannt. Eins kam zum anderen – jetzt plant der BUND eine Streuobstwiese mit alten Apfelsorten und achtet darauf, dass bei allen Plänen der natürliche Charme des Geländes bewahrt wird. Also kein Event-Tourismus, sondern „Natur erleben“! Das Gelände soll zu Ruhe und Einkehr einladen.

Von seiner gesamten Anlage her ist das Mühlengelände ein Kontrapunkt gegen die ständige Gewalterfahrung „Lärm“, mit der wir leben. Dass es in unserem Leben Fragen gibt, für die wir Ruhe brauchen, soll auch architektonisch im Gesamtplan Raum bekommen. Wie komme ich mit mir selber klar? Wie halte ich es mit mir selber aus? Ein Raum der Stille soll bei den Jugendlichen und Besucher/innen die Auseinandersetzung mit solchen Fragen anstoßen.

Unterdessen ist der Verein „Erev-Rav“  als Kooperationspartner in das Projekt eingestiegen und hat sich des Ausbaus dieser spirituellen Dimension angenommen. Schon seit über 20 Jahren organisiert Erev-Rav – ein Netzwerk europäischer Christ/innen, die durch die Arbeit an einer Befreiungstheologie im Kontext Europas verbunden sind – Bibel-Lesetagungen, die in Zukunft auf der Mühlengelände angesiedelt werden sollen. Der Name Erev-Rav geht zurück auf die hebräische Bibel und bezeichnet dort das „zahlreiche Menschengewimmel“ nicht jüdischer Herkunft, das mit Israel aus der Unterdrückung in die Freiheit zieht (2. Mose 12,38).

Ein Qualifizierungszentrum für Jungendliche, die am Arbeitsmarkt gescheitert sind, ist ein guter Ort für die Bildungsarbeit dieses Vereins, dessen Name programmatisch die Zielsetzung seiner Arbeit benennt: die Inspiration von gesellschaftlichen und kirchlichen Aufbrüchen aus Unterdrückung. Tagungsmöglichkeiten sollen entstehen, aber auch Sabbat-Räume: Wohnmöglichkeiten für Menschen, die für einige Zeit aus ihrer Arbeit und ihrem gewohnten Alltag hinaustreten möchten, die Ruhe, aber auch Impulse und geschwisterliche Begleitung suchen.

Durch Gespräch und Vernetzung vieler Menschen lebt die Vision von dem Projekt Woltersburger Mühle, das auf mehreren Säulen ruht: soziales Engagement, Arbeit von Arbeitslosen für Arbeitslose, biblischen Theologie, Nachhaltigkeit, Spiritualität im sozialen und biblischen Kontext.


Macht der kleinen Schritte

Am Anfang haben wir auf das große Geld aus der EU gehofft. Und uns unter den Jüngerinnen und Jüngern Jesus wieder gefunden, die betreten dastehen und ihr Geld zählen, als Jesus sie mit den Worten „Gebt ihr ihnen zu essen“ an die in der Ödnis versammelte Menschenmenge verweist (Markus 6,36). Sie sind aufs Geld fixiert und fragen: „Sollen wir für 200 Denare Brot kaufen und ihnen zu essen geben?“ (Mk 6,37) Erst Jesu Frage „Was ist vorhanden? Wie viel Brote habt ihr? Geht hin und seht nach!“ befreit sie aus ihrer Geld-Starre (Mk 6,38). Diese Frage „Was ist vorhanden?“ begleitet seitdem die Arbeit in der Woltersburger Mühle. Die Mahnung „Lasst euch nicht erschrecken, sondern vertraut auf Gott“ wird konkret in dem Gebot: „Geht hin und seht nach, was da ist!“ Der Blick richtet sich von dem Geld, das fehlt, hin zu den Menschen, die da sind.

Das sind zuerst die Frauen und Männer, die an dem Auf- und Ausbau des Mühlengeländes arbeiten. Denn IDA hat zur Realisierung des Projektes zusammen mit der Agentur für Arbeit und der Kreishandwerkerschaft ein Qualifizierungskonzept entwickelt, das vorsieht, dass Gesellen und Meister aus regionalen Betrieben Qualifizierungsaufgaben für Arbeitslose übernehmen. Ein Meister bzw. ein Geselle arbeitet mit drei bis vier Arbeitslosen am Objekt. Parallel dazu wird versucht, einen Praktikumsplatz und schließlich einen Ausbildungsplatz oder eine Arbeitsstelle zu vermitteln. So ist die Woltersburger Mühle schon heute ein Qualifizierungszentrum für Arbeitslose – auch wenn es noch lange dauern wird, ehe die PSU mit ihren Werkstätten zur Mühle umziehen kann. Das Zentrum entsteht von Arbeitslosen für Arbeitslose.

Anna Jaensch, 21 Jahre alt, arbeitet im Rahmen der Maßnahme „Arbeit durch Qualifizierung“ auf dem Mühlengelände. Sie erzählt von ihren Erfahrungen: „Nach der Schule ging ich in einem Zierpflanzenbetrieb in die Lehre. Das Arbeitsklima dort war so katastrophal, dass ich nach einem Jahr in eine Baumschule gewechselt bin. Da habe ich meinen Abschluss als Baumschulgärtnerin gemacht und war danach arbeitslos. Die Maßnahme bringt mir einen geregelten Tagesrhythmus und ich verdiene ein paar Euros. Außerdem habe ich auch etwas dazulernen können, wie z.B. das Fahren mit der Baggermaschine.“

Das große Ziel von sanierten und bewirtschafteten Gebäuden kann und darf die Freude über die kleinen Schritte und Erfolge nicht verdrängen. Bei aller notwendigen Sorge um Geld und Material bleibt die Sorge um die Menschen, die in Maßnahmen der Agentur für Arbeit auf dem Gelände arbeiten, im Zentrum der Arbeit.

Timo Reimschüssel beschreibt die Bedeutung einer solchen Maßnahme für sein Leben: „Nach meiner Ausbildung als Bau- und Metallmalerhelfer war ich fünf Monate arbeitslos. Ich bin dann in diesem Projekt gelandet, was für mich sehr gut war, denn ich war neu in Uelzen. Ich habe in der Maßnahme prima Leute kennen gelernt, die mir Uelzen gezeigt haben. Über sie habe ich auch meinen Fußballverein gefunden. Inzwischen habe ich aus dem Praktikum heraus einen Ausbildungsplatz als Maler bekommen. Für mich war die Maßnahme genau das Richtige. Ich habe eine Lehrstelle gefunden und kann jetzt weitermachen.“

Die Frage „Was ist vorhanden?“ verändert die Blickrichtung und verändert damit auch die Suche nach Geld, die bei so einem großen Projekt zur ständigen Begleiterin wird. Die Menschen aus der Region, die mit ihrer Zeit und ihrem Geld die Woltersburger Mühle unterstützen, treten in den Vordergrund. Sibylle Bahrmann-Rueben, eine der ersten Spenderinnen für das Projekt, erzählt, wie es dazu kam, und beschreibt damit eine Reaktion, die uns immer wieder begegnet. „Ich habe für die Woltersburger Mühle gespendet, weil mich das Projekt total begeistert hat. Ich finde es wichtig, dass für junge Menschen, die es schwer haben, mehr getan wird. Es gibt für jeden Menschen etwas, was er selber für andere Menschen tun kann. Für einen ist es vielleicht das Unterschreiben einer Petition, der andere gibt ein bisschen Geld, der Dritte widmet sein ganzes Leben anderen Menschen. Nur eines geht gar nicht, und das ist: nichts tun.“ (zitiert aus Anstoß, Arbeitslosenzeitung für Uelzen 4/2007, S. 2)


Eine Baustelle voller Leben

Das Projekt Woltersburger Mühle hat angefangen. Arbeitslose Frauen und Männer werden aufgefangen, zwei Mitarbeiter von IDA wohnen auf dem Gelände. In den warmen Monaten gibt es jeden Sonntagnachmittag Kaffee und Tee, und die Menschen aus der Region kommen und interessieren sich dafür, wie die Bauarbeiten voran kommen.

Auch die Sabbat-Räume haben erste Vorboten auf dem Gelände. Erev-Rav organisiert in den Sommermonaten, in denen die unbeheizten Scheunen nutzbar sind, Sabbattage für Frauen. Lernen und Stille, gemeinsame Diskussion und Kontemplation prägen den Ablauf eines solchen Tages. Wir erproben verschiedene Übungsschritte biblischer Spiritualität wie biblische Texte lesen und diskutieren; ihrer Wirkung im eigenen Körper nachspüren; in der Stille sitzen; mit biblischen Sätzen murmelnd gehen.

Bis jetzt gehören die Frauen, die auf dem Gelände arbeiten, nicht zu den Teilnehmerinnen. Zunächst stoßen Welten aufeinander, doch dann finden Gespräche statt, und das Wissen um einander wächst. Auf jeden Fall aber nimmt der Ort Einfluss auf Textverständnis und Spiritualität derjenigen, die kommen. Einmal sollten wir mit Worten aus Jesaja über das Gelände laufen: „Ich setze meine Reden in deinen Mund und schütze dich mit dem Schatten meiner Hand, um die Himmel zu pflanzen, um die Erde zu gründen und zu Zion zu sprechen: Du bist mein Volk.“ (51,16) Der Ort schlüsselte die Sätze auf: Ich kann an Gottes Vorhaben teilnehmen, die Welt zu einem Lebensort zu machen. Ich kann mithelfen, dass Menschen Geborgenheit erfahren und festen Boden unter den Füßen gewinnen.

Ein anderes Mal waren wir mit der Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies unterwegs, in der es heißt: „… dass der Mensch nur nicht auch noch seine Hand ausstreckt, vom Baum des Lebens nimmt, isst und ewig lebt“ (Gen 3,22). Wieder eröffnete der Ort einen Zugang zu den biblischen Worten. Uns stand vor Augen: Die Vision Woltersburger Mühle ist nicht machbar. Sie ist ein Weg –  mit Widerständen und Rückschlägen und vielen unvollendeten Fragmenten. Keine/r von uns kann sich irgendwo das eigene Paradies gestalten. Wir haben Teil an der Suche nach gutem Leben, in dem jeder Mensch Geborgenheit und Wertschätzung erfährt, die nur gemeinschaftlich, als gesamt-gesellschaftliche Veränderung gelingen kann.


Für die Arbeit in der Gruppe

Ziel

Die Teilnehmerinnen sollen sich gegenüber visionärem Denken öffnen und sich austauschen, wo sie in ihrem Leben an visionären Prozessen partizipieren. Gegebenenfalls sollen sie gemeinsam beraten, wie die eigene Gruppe sich in Kirche und/oder Gesellschaft verändernde, visionäre Prozesse einbinden kann.


Zeit

1 – 1,5 Stunden


Material

– Flyer von Projekten der Region, gegebenenfalls auch der Woltersburger Mühle
– Plakat mit „Sprüche 29,18″:
Wenn ein Volk keine Vision hat,
verwildert es,
wenn es sich an die Weisung hält, wird es glücklich.


Ablauf

– Die Leiterin informiert die Gruppe über die Woltersburger Mühle und leitet damit den Austausch zu den Fragen ein:
Gibt es in meiner Umgebung Menschen mit Visionen?
Lebe ich mit einer Vision?

– Gespräch über Sprüche 29,18 mit den Fragen:
Wieso geht ein Volk ohne Visionen zugrunde?
Warum ist in Sprüche 29,18 „Weisung / Tora“ ein sachverwandtes Wort zu Vision? Was haben Visionen und Weisung miteinander zu tun?

Hier sollte die Leitung Jesu Weisung „Geht hin und seht nach, was da ist“ einbringen – als einen notwendigen Schritt der Vision, dass alle statt werden.

– Was können wir tun? Gibt es ein Projekt in der Region, bei dem sich die Gruppe engagieren will?


Dr. Klara Butting, geboren 1959, arbeitet nach 15 Jahren Gemeinde- und Studierendenpfarramt als freiberufliche Theologin und Autorin und ist als Privatdozentin tätig. Seit über 20 Jahren ist ihr – meist nebenberuflicher – Arbeitsschwerpunkt die Leitung von Erev-Rav, einem Netzwerk europäischer Christ/innen, die durch die gemeinsame Arbeit an einer Befreiungstheologie im Kontext Europas verbunden sind (www.erev-rav.de). Erev-Rav organisiert internationale Tagungen und betreibt einen Verlag, der u.a. die Zeitschrift „Junge Kirche“ herausgibt (www.jungekirche.de).

Gerard Minaard ist Sozialpädagoge und Pastor und Leiter des Projektes Woltersburger Mühle. Mehr dazu unter: www.woltersburger-muehle.de

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