Ausgabe 2 / 2018 Artikel von Susanne Krahe

Von der Bibel streiten lernen

Von Susanne Krahe

„Aber Christinnen streiten sich doch nicht!“
Solche Behauptungen haben mir immer schon Zahnschmerzen bereitet. Ähnlich wie das elterliche Verbot von „Widerworten“, das in meiner Generation noch geläufig war, verbannen sie jegliche Rebellion in eine „unchristliche“ Ecke. Neinsagen, Verweigerung, Gegenargumente, Widerstand gegen einsame, autoritäre Entscheidungen – alles Schläge ins sanftmütige Gesicht Jesu?

Die Evangelien dokumentieren auch seine schroffen Seiten. Der Mann aus Nazareth hatte etwas Aufmüpfiges, Unangepasstes. Mit revolutionärem Eifer stieß er den Jerusalemer Tempelhändlern ihre Verkaufsstände über den Haufen (Mk 11,15ff). Außerdem neigte er eindeutig zu „Widerworten“. Unter dem Motto „Ich aber sage euch!“ (Mt 5,22 u.a.) setzte er sich mit den Autoritäten seiner Zeit auseinander und rüttelte an allem, was in der jüdischen Tradition als gut und richtig gegolten hatte – von einer sklavischen Sabbatobservanz bis zu unverständlichen Reinheitsvorschriften. Solche Botschaft stieß nicht überall auf Gegenliebe, sie provozierte und polarisierte. „Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter.“ (Mt 10,34f)

Schwertworte

In der Generation der Nachfolger*innen Jesu kam es nicht selten zu Brüchen und Trennungen. Mancher Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, manche Tochter knallte die Tür ihres Elternhauses für immer hinter sich zu. Lebenslange Freundschaften zerbrachen. Ehen wurden geschieden, weil der eine sich zu Jesus als Christus bekannte, die andere nicht. Und es gab auch Kränkungen durch Jesus selbst. Nicht genug damit, dass er seine Gegner als „Schlangen und Natterngezücht“ diffamierte: Wie mag sein Freund Petrus sich gefühlt haben, als Jesus ihn als „Satan“ titulierte und von sich stieß?

Schwer enttäuscht wird auch seine Freundin Martha gewesen sein, weil der Rabbi nicht sie und ihre „Hausfrauenrolle“ lobte, sondern die intellektuellen Interessen ihrer Schwester Maria (Lk 10,38-42). Diese Episode zeigt aber auch, dass der Messias der Christ*innen unterscheiden konnte zwischen strittigen Grundsatzfragen und den Menschen, die eine andere Meinung vertraten als er selbst. Als er mit seinen Begleitern ins Haus kam, setzte sich Maria einfach zu den Männern, um mit ihnen zu diskutieren. Höchst unanständig! Martha hingegen bediente die Gäste und wuselte in der Küche herum, wie sich das für die Frauen gehörte. Sie wollte, dass Jesus ihre Schwester an die traditionelle Rollenverteilung erinnerte und sie entsprechend zurechtwies. Der aber stärkte Maria den Rücken, nicht ihrer empörten Schwester. Martha erhielt eine – wenn auch sanfte – Abfuhr. Ganz einfühlsamer Seelsorger, anerkannte der Rabbi erst einmal ausdrücklich, wie sehr Martha sich gemüht und gesorgt hatte; nur, dass es manchmal wichtigere Dinge gebe als die traditionellen Frauenpflichten. Martha sollte sich nicht vor den Kopf gestoßen, sondern eingeladen fühlen, in Marias Verhalten ein Beispiel der Freiheiten zu erkennen, die Jesus den Frauen seiner Zeit gebracht hatte.

Nicht bis aufs Messer kämpfen

Manchmal ist es besser, wenn Streitende sich trennen, bevor ein Pulverfass aus Zorn und Grimm explodiert. In der Bibel ging es ja nicht immer bloß um abweichende Meinungen, sondern um handfeste und unteilbare Lebensbedingungen: um Wasser, um fruchtbares Land, um Nachkommen. Zu Abrahams Zeiten zankten sich die nomadischen Sippen um die spärlichen Brunnen im Lande (Gen 13,1-12), bei Jakob und Esau stand der Segen Gottes und letztlich die Geschichte des Gottesvolks zur Debatte (Gen 27,1-40). Beide Konfliktlagen boten keinerlei Raum für Kompromisse. Wenn Abrahams und Lots Sippen sich nicht getrennt hätten und in verschiedene Richtungen gewandert wären, wenn Jakob nach dem Betrug an seinem Bruder nicht das Weite gesucht hätte, wäre es vermutlich zu Mord und Totschlag gekommen. Trennung ermöglicht Deeskalation. Somit kann sie Voraussetzung für eine friedliche Koexistenz von Rivalen sein, mitunter sogar für eine spätere Versöhnung der Widersacher.

Dem Ideal, dass christliche Gemeinschaften „wie ein Herz und eine Seele“ zusammenleben (Apg 4,32), zum Trotz hat sich auch die Geschichte der Christenheit als eine Geschichte der Entzweiungen entwickelt. Bereits wenige Jahre nach Jesu Tod gab es zwei Glaubensrichtungen, die auf Dauer nicht miteinander auskamen. Sie hatten unvereinbare Auffassungen über das christliche Verhältnis zu seinen jüdischen Wurzeln. Wie jüdisch musste eine werden oder sein, um als richtige Christin zu gelten? Mussten männliche Nachfolger Jesu sich beschneiden lassen? Sollten auch Christ*innen sich an jüdische Speisevorschriften halten? Wie weit waren Christ*innen, die nie Jüdinnen oder Juden gewesen waren, überhaupt dem jüdischen Gesetz verpflichtet? Die strittige Frage wurde Mitte des 5. Jahrzehnts unserer Zeitrechnung auf dem sogenannten Apostelkonzil von Jerusalem diskutiert; die Apostelgeschichte erzählt im 15. Kapitel von der spannungsgeladenen Veranstaltung. Die Leiter der Jerusalemer Urkirche, allen voran Petrus, plädieren für die grundsätzliche Bindung an die Tora, der Apostel Paulus spricht sich dagegen aus. Zum Ende der Konferenz reichen die Parteien sich die Hände. Die Missionsgebiete werden geteilt. Wirklich einig scheint man sich jedoch nicht geworden zu sein. Jedenfalls geraten Petrus und Paulus bereits kurz nach dem Konzil wieder aneinander. Paulus beschreibt den Krach in eindeutigen Worten: „Als Kephas aber nach Antiochia gekommen war, bin ich ihm offen entgegengetreten, weil er sich ins Unrecht gesetzt hatte.“ (Gal 2,11) Paulus erkennt schnell, dass sich die Idee, sich gegenseitig zu tolerieren, nicht umsetzen lässt. Der Zusammenstoß mit Petrus wird zum Anlass für ihn, seine Zelte in Palästina abzubrechen, um sein Missionsglück in Europa zu suchen. Dort predigt er einen Glauben „ohne Gesetz“. Das Christentum trennt sich von seinen jüdischen Wurzeln und bekommt ein neues, ein „paulinisches“ Profil.

Konkurrenz unter Christuskindern

Leistungs- und Konkurrenzdenken sind an kein politisches System gebunden, etwa den Kapitalismus. Vielleicht gehört das Ellbogenprinzip zum evolutionären Erbe der Menschen? Jedenfalls waren auch die Jünger Jesu nicht frei davon. Sie stritten darüber, wer wohl der Größte im Freundeskreis des Meisters sei (Mk 9,34). Wem war eine Führungsrolle zuzutrauen, wer kam als Weichei dafür nicht in Frage? Jakobus und Johannes beanspruchten gar einen Ehrenplatz vor allen anderen im Himmel (Mk 10,41). Noch das Paradies stellen Menschen sich offenbar als einen Ort mit besserer und schlechterer Bestuhlung vor. Nur wer sich anstrengt, nur wer sich – etwa mit vorbildlicher Frömmigkeit – profiliert, hat Aussicht auf einen Platz in der ersten Reihe. Bis heute übersehen „verdiente“ Christ*innen, dass Selbstbehauptung meist auf Kosten anderer geschieht. Jesu Wort von den Letzten, die die Ersten sein werden, trifft genau in diese Kerbe (Mk 9,34; Mt 20,16). Es führt alle eigenmächtigen Macht- und Geltungsansprüche ad absurdum.

Nach Jesu Tod wurde die Frage akut, wer denn nun die Führung innerhalb seiner Anhängerschaft übernehmen sollte. Als Favoriten wurden Petrus und Jo-
hannes gehandelt. Das Johannesevangelium berichtet von einem geradezu skurrilen „Wettlauf“ der beiden Männer (Joh 20,3-10). Jeder wollte unbedingt als Erster das Grab Jesu erreichen. Ein Sieg in dieser Disziplin würde ihn zum ersten Osterzeugen machen. Und wer diesem Maßstab gerecht wurde, konnte die Führung in der Gemeinde beanspruchen. Dabei hatte doch Maria Magdalena als Erste entdeckt, dass Jesu Grab leer war (Joh 20,1f)! Sie war also die erste Zeugin der Auferstehung gewesen. Aber damals liefen Frauen, wenn es um Macht in der Kirche ging, bekanntlich außer Konkurrenz.

Neid und Eifersucht in den Griff bekommen

Zurück zu Maria und Martha. In ihrer Kontroverse ging es zwar um die Grundsatzfrage der Frauenrolle in der Gemeinde, aber in Marthas Ärger über Marias „Dreistigkeit“ klingt unterschwellig noch ein weiteres Motiv an: Geschwisterneid. Dieses Thema zieht sich durch die ganze Bibel. Es beginnt mit Kain und Abel (Gen 4), kehrt in der Rivalität von Jakob und Esau (Gen 27) wieder, liefert die Basis in der Geschichte von Joseph und seinen Brüdern (Gen 37-50) und hinterlässt in den Berichten über die Thronnachfolge König Davids (2 Sam 9; 1 Kön 2) und dessen rivalisierenden Kindern dicke Blutspuren.
Im Neuen Testament taucht der Geschwisterneid in einem der berühmtesten Gleichnisse Jesu auf, der Geschichte vom barmherzigen Vater (Lk 15,11-32). Als der Vater die Rückkehr seines verlorenen Sohnes mit einem großen Fest feiert, beschwert sich der Bruder des Rückkehrers: „Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich wäre. Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet.“ (Lk 15,29f) Das ist ein massiver Vorwurf. Läuft die Nachsichtigkeit des Vaters mit dem einen nicht auf eine ungerechte Behandlung des anderen Kindes hinaus? Wohl nicht zufällig lässt das Gleichnis die Frage offen, ob der Bruder des verlorenen Sohnes doch noch mitgefeiert hat.

Neid und Eifersucht gehören offensichtlich zum Menschsein. Die Bibel leugnet das an keiner Stelle. Dennoch traut sie Menschen zu, ihre destruktiven Gefühle in den Griff zu bekommen. Schon die Überlieferer der Geschichte von Kain und Abel lassen Gott den eifersüchtigen Kain auffordern, der Sünde ins Gesicht zu sehen (Gen 4,7). Diese Konfrontation mit sich selbst wäre ein erster Schritt gewesen, seine zerstörerischen Gefühle in einen anderen Kanal als den Brudermord zu lenken. Wie andere biblische Figuren – etwa Hiob, die Verfasser der Klagepsalmen oder die Propheten – hätte er mit Gott streiten und ihn fragen können, warum er sein Opfer nicht annahm, Gott sagen können, dass er das als grundlose Demütigung empfand.

Aber Kain schweigt. Er verweigert den Streit. Und damit auch die Kommunikation mit Gott.

Gen 13,1-12
1 So zog Abram von Ägypten hinauf in Richtung Negev, er und seine Frau und alles, was ihm gehörte, auch Lot war bei ihm. 2 Abram war schwerreich an Vieh, an Silber und an Gold. 3 Es ging etappenweise vom Negev bis nach Bet-El, bis an die Stätte, wo sein Zelt zu Anfang gestanden hatte … 5 Aber auch Lot, der mit Abram zog, hatte Kleinvieh und Rinder und Zelte. 6 So ertrug sie das Land nicht mehr, solange sie zusammenwohnten. Weil ihr Besitz groß war, konnten sie nicht mehr zusammenwohnen. 7 Es entstand Streit zwischen den Leuten, die Abrams Vieh, und denen, die Lots Vieh hüteten … 8 Abram sprach zu Lot: »Es sollte doch keinen Streit geben zwischen mir und dir, oder zwischen denen, die mein und die dein Vieh hüten, wo wir doch Männer und Brüder sind. 9 Liegt nicht das ganze Land vor dir? So trenne dich von mir! Nach links? Dann geh ich nach rechts. Nach rechts? Dann ich nach links.« 10 Da hob Lot seine Augen und erblickte den gesamten Umkreis des Jordanflusses, dass da alles bewässert wurde. Denn bevor Adonaj Sodom und Gomorra zerstörte, war es dort wie im Garten Adonajs, wie im Land Ägypten – bis hinüber nach Zoar. 11 Da wählte sich Lot den ganzen Umkreis des Jordan. Er brach nach Osten auf, und so trennten sie sich, ein Mann von seinem Bruder. 12 Abram blieb im Land Kanaan wohnen, Lot aber wohnte in den Städten des Jordankreises und zeltete bis nach Sodom hin.

Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache

Zur Arbeit in der Gruppe

Zeit 60 min

Material Papier, Kärtchen, Stifte

vorbereiten   Gen 13,1-12

hinführen   Heute geht es um die zunächst vielleicht etwas ungewöhnliche Frage, ob wir von der Bibel etwas über richtiges Streiten lernen können. Denn sie ist von Anfang an voll von Erzählungen über Menschen und deren Umgang mit Konflikten. – Einige Beispiele aus dem Beitrag vorlesen oder erzählen [ circa 5 Minuten ]

sich erinnern   Welcher Streit in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft…, in den ich verwickelt war, kommt mir als Erstes in den Sinn? Worum ging’s? An welche Gefühle erinnere ich mich? Wie ist der Streit ausgegangen? Von heute aus gesehen: Würde ich wieder genauso oder anders verhalten? – Für die TN liegen Papier und Stifte bereit. Sie werden eingeladen, sich in Ruhe zu erinnern und, wenn sie mögen, für sich (!) etwas dazu zu notieren.  [ circa 10 Minuten ]

reflektieren   Wir alle haben Erfahrungen mit Streit. Und wir haben dabei erlebt: Es gibt „bösen“ Streit, der uns (und/oder andere) „am Boden zerstört“ zurücklässt – und es gibt „guten“ Streit, der uns (und/oder andere) nach vorne bringt. Was macht einen Streit zerstörerisch, was macht ihn fruchtbar? – evtl. Stichworte auf Kärtchen notieren und in die Mitte legen  [ circa 10 Minuten ]

lesen   Die Abram-Lot-Strategie  „Getrennte Wege gehen“ ist eine von vielen Möglichkeiten, die die Bibel als gute Möglichkeit sieht, einen Streit zu beenden.
– Genesis 13,1-12 versweise reihum gemeinsam lesen

austauschen   Zwei eng verwandte Familienzweige geraten aneinander. Und zwar nicht wegen einer belanglosen Meinungsverschiedenheit, die bis zur nächsten Familienfeier vergessen ist. Bei diesem „Brunnenstreit“ geht es ans Eingemachte, es geht um die Existenz. Einen „Kompromiss“ gibt es nicht, er würde keinem der Beteiligten weiterhelfen …  – Was halten Sie von der Lösung, die Abram vorschlägt? Wie beurteilen Sie das Verhalten der beiden Streitführer Abram und Lot?

besprechen   Die Trennung macht Abram und Lot nicht zu Feinden. Es gibt auch andere biblische Trennungsgeschichten – zum Beispiel beim Erbstreit zwischen Jakob und Esau. Die führt allerdings dazu, dass Jakob Hals über Kopf vor dem mörderischen Zorn des betrogenen Bruders fliehen muss. Worin genau unterscheiden sich diese beiden so unterschiedlichen Trennungsgeschichten? Entdecken wir darin Lehrreiches für unser eigenes Verhalten im Streitfall? [ circa 25 Minuten ]

segnen   Gottes heilige Geistkraft | tröste euch, wenn ihr traurig seid, | stärke euch, wenn ihr euch ohnmächtig fühlt, | heile euch, wenn ihr verletzt worden seid. || Sie schenke euch Sanftmut, | wo verständnisvolles Nachgeben der richtige Weg ist, um einen Streit zu beenden. | Sie beflügle euern Verstand, wo ihr gute Argumente braucht, um eine notwendige Auseinandersetzung zu führen. | Sie stärke eure Weisheit, wo ihr kluge Auswege aus festgefahrenen Konflikten sucht. || Dabei begleite und leite euch Gottes Segen. Amen

Susanne Krahe ist ev. Theologin. Sie lebt als frei schaffende Theologin und Autorin in Unna. –www.susanne-krahe.de

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