Ausgabe 2 / 2015 Material von Monika Hille

Von Müttern, Söhnen und Gamern

Von Monika Hille

Rumms! Da knallt sie zu, die Tür zum Kinderzimmer. Hinter der Tür sitzt der Heranwachsende, 15 Jahre alt, Headset auf dem Kopf, hinter zugezogenen Vorhängen, seit Stunden schon, draußen scheint die Sonne, drinnen erhellen zwei Monitore das dunkle Zimmer. Mit ihm sind vier gleichaltrige Jungs im Raum – allerdings nur virtuell, das reale Getöse ist jedoch ohrenbetäubend: „Ey Alter, sieh zu! Los! Mach was, der ist hinter dir. Shit!“ Es wird lauthals angefeuert, gewarnt, gelacht und extensiv gezockt.

Vor der Tür steht die Mutter, 45 Jahre alt, Stehhaare, will mit dem Heranwachsenden raus. Es sind Ferien, die Sonne scheint vom wolkenlosen Himmel, Verbote, Abmachungen, Familienkonferenzen, monetäre Lockangebote, Stromsperre, Entfernen des Computers – die Liste der gescheiterten Versuche, den hauseigenen Gamer aus der League of Legends zu befreien und beispielsweise stattdessen aufs Surfbrett zu stellen, ist lang.

Die Welt, in der der Junge offensichtlich jede Menge Spaß hat und sich köstlich mit seinen Freunden – die alle übrigens auch im echten Leben neben ihm in der Schule sitzen – amüsiert, ist seiner Mutter vollkommen fremd. Wälder, Höhlen, Dörfer, Gebirge – und mittendrin schwebende Heiler, Kämpfer mit vielen Leben, multitalentierte Identitäten, hoch komplizierte Angriffsstrategien. Es knallt, scheppert und ballert, übertönt vom Palaver der fünf skypenden Neuntklässler.

Die Mutter ist besorgt: „Was soll bloß aus dem Jungen werden?“ Hatte sie sich nicht einen intellektuell-sportlichen Tausendsassa gewünscht? Eine größere Version des quirligen 5-Jährigen, der ständig mit aufgeschlagenen Knien durch die ECHTE Natur raste. Vor ihrem geistigen Auge sieht sie ihn immer dicker werden, an Diabetes erkranken, wegen starker Haltungsschäden mit Muskelschwund an Krücken gehen, langsam, aber sicher verblöden und zu guter Letzt – wie ein Vampir zu Staub zerfallen, wenn er von einem Sonnenstrahl getroffen wird. Das alles interessiert den Sohn nicht die Bohne. Er findet Eltern blöd und ahnungslos. Und das kommt der Mutter jetzt wieder sehr bekannt vor.

Es ist immer noch Sommer, Mitte August. Köln lädt zur gamescom. Der Sohn will unbedingt hin. Die Mutter auf gar keinen Fall. Nach langen Debatten steigen die beiden an einem Freitagmorgen in den Zug nach Köln. Vorsichtshalber stellt sie sich auf der Fahrt schon einmal das Szenario vor: jede Menge anämischer, dicklicher, krummer Nerds schleichen durch düstere Hallen.

Immerhin nutzen die beiden die Anreise für echte Mutter-Sohn-Gespräche. „Merkwürdig, wie gewählt sich dieser nicht lesende Kerl ausdrücken kann. Wo er das herhat? Lesen ist ja nicht so sein Ding?!“ Immer mehr junge Leute mit elektronischen Gerätschaften aller Art steigen in den Zug. Sie kommen in Grüppchen, sie stecken die Köpfe zusammen, sie sind meist männlich und sie sehen sympathisch aus. Endstation Messe Köln – die Massen streben gen gamescom.

Zwischen den jungen Männern schlendern auch ein paar ebenso junge Frauen. Dazwischen wunderschöne Gestalten aus mystischen Welten mit unglaublich fantasievollen, aufwendigen Kostümen – großartig. Das sind Cosplayer, erfährt die Mutter. Sie imitieren die sagenhaften Helden ihrer Spiele – ihnen ist ein ganzes Areal bei der gamescom gewidmet. Überhaupt ist die Stimmung friedlich, freundlich und gelassen. Trotz des unfassbaren Andrangs wird nicht geschubst, gerannt oder gerempelt.

Die Gespräche der Gamer, die man in der Warteschlange ungestraft belauschen kann, lassen auf ein erkleckliches Maß an Bildung schließen: „Gar nicht mal so dumm, dies Leute!“ Überall sitzen und warten sie geduldig auf Einlass zu ihren favorisierten Games. Unerschrocken und gelassen, trotz der Warnungen am Wegesrand: „Ab hier 90 Min.“

Gamer sind gechillt – auch das lernt die Mutter an diesem Tag und entspannt sich zusehends. Der Sohn nicht. Fünfzehn zu sein, ist ein Fluch hier auf der gamescom. Noch nicht sechzehnjährig ist man gezwungen, mit einem entwürdigenden grünen Bändchen am Handgelenk herumzulaufen. Damit ist er auf der Stufe der zwölfjährigen „Kinder“ und darf nichts. Die Stimmung ist am Boden.

Jetzt geschieht das Unglaubliche: Die Mutter überredet den Sohn, doch noch ein bisschen zu bleiben. Gemeinsam betreten sie die Halle der „League of Legends“. Die Ränge sind pickepackevoll, auf der Bühne sitzen die zehn Helden des Tages, angetreten zum Semifinale. Die Jungs werden gefeiert wie Popstars. Jeder hier scheint sie zu kennen – die Mutter nicht. Und dann beginnt das Spiel, moderiert auf Englisch! Der Sohn versteht jedes Wort, die Mutter muss ständig nachfragen. „Englischvokabeln? Wann hatte er sich je damit beschäftigt?“

Übertragen wird der Battle auf riesigen Monitoren in der Halle, die Wettkämpfer sitzen in Sesseln wie Captain Kirk und Mister Spock auf der Enterprise. „Nice, hast du diesen Zug gesehen?“, begeistert sich der Sohn. Die Mutter hat weder den Zug gesehen noch das hoch komplizierte Spiel verstanden. Aber wenn sie wieder zu Hause sind, wird sie nie mehr beschämt den Namen des Spiels verschweigen: „League of Legends“ ist weder dumm noch brutal – auch diese Lektion hat die Mutter gelernt.

Überhaupt wird die häusliche Situation nach der gamescom eine andere sein. Statt wie gelähmt und voller Furcht das Treiben des Sprösslings täglich eingehend zu beobachten und zu bewerten, legt die Mutter mehr Gelassenheit an den Tag. Gamer statt Surfer – diese Vorstellung hat ihren Schrecken verloren.

RUMMS! Da knallt sie zu, die Wohnungstür. Es ist Anfang Dezember. Hinter der Tür steht die Mutter. Vor der Tür ist der Sohn auf dem Weg nach draußen.

Das hat er eigentlich auch im Sommer schon getan – das hatte die Mutter allerdings bei der ganzen „Mach doch mal endlich den Computer aus“-Debatte übersehen. Keine Monitore erhellen jetzt das dunkle Zimmer hinter der geschlossenen Tür. Die „Liga der Legenden“ muss warten – bis er zurück aus der realen Welt ist. Aber es wird keine weiteren Vorträge über die mannigfaltigen Vorzüge von Bewegung an frischer Luft und über die Jugend der Mutter in selbst gebauten Baumhäusern geben.

Monika Hille . Pressesprecherin der BKK vor Ort und Redaktionsleiterin der inform .
© inform . BKK vor Ort . Kundenmagazin . Nr. 03/2014, S. 8f

Gamer: Computerspieler
League of Legends: Online-Rollenspiel
Skype: Bildtelefonie
gamescom: weltgrößte Computer­spielermesse
Nerd: engl. für Fachidiot, Computerfreak, Sonderling
gechillt: entspannt
Battle: Wettkampf
Raumschiff Enterprise: erfolgreiche Scifi-TV-Serie aus dem vergangenen Jahrtausend
nice: engl. für famos
Baumhaus: Real-Life-DIY-Outdoor Basis

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