Ausgabe 2 / 2023 Artikel von Heidrun Miehe-Heger

Wache Liebe

Unterwegs für Gottes Gerechtigkeit

Von Heidrun Miehe-Heger

„Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“ – eine klare Botschaft des Paulus an die Gemeinde in Korinth. Klare Botschaften machen mich unruhig, misstrauisch. Sie können Sprengkraft bergen oder sich in Banalitäten verlieren. Vermeintliche Eindeutigkeit fordert mich heraus genau hinzuschauen: Was meint Paulus mit Liebe?

Dem Begriff Liebe gehen im Vers vor der Jahreslosung 1 Kor 16,14 kernige Begleiter voraus: wachsam, mutig und stark sein, fest im Glauben stehen. Damit eröffnen sich neue Bedeutungsaspekte. Das klingt in den Zuhörenden mit, wenn sie den Appell zur Liebe hören. „Seid wachsam“ spielt auf die Vorstellung der Naherwartung, die Hoffnung auf das baldige Wiederkommen Christi an, könnte aber auch schlicht mahnen, sich Fehlentwicklungen in der Gemeinde entgegenzustellen.1 Im Kontext des Briefes passt beides, da Paulus viele aktuelle Probleme in der Gemeinde kritisiert und im Kapitel zuvor seine Auferstehungstheologie und die Naherwartung zum Thema macht.2

Die Gemeinde in Korinth setzte sich in der Mitte des 1. Jh. neben wenigen wohlhabenden Mitgliedern vor allem aus den unteren Bevölkerungsschichten zusammen.3 Menschen, deren Alltag von Gewalterfahrungen geprägt war, die große Armut, schwere Arbeit und geringe Bildungsmöglichkeiten bis heute mit sich bringen. Die Korinther*innen wussten um die Brutalität des Todes mit seinen vielen Gesichtern – sozialer, geistlicher oder leiblicher Tod war und ist der tägliche Begleiter der Armen. Gegen diese bitteren Erfahrungen prägte ihnen ihr Apostel die Leben schaffende Kraft Gottes ins Herz, die den Gekreuzigten zum Leben erweckte. Diese Kraft wurde in der Gemeinschaft der Glaubenden zu einer Gegen-Erfahrung, weckte Hoffnung auf eine neue, andere Welt und ließ die sie umgebenden Strukturen von Gewalt und Ungerechtigkeit rissig werden.

Oft genug wurde diese Hoffnung als geistliche Droge missbraucht, um Menschen auf das Jenseits zu vertrösten. In dieser Gefahr stehen wir heute wohl weniger; unsere Fragen sind eher: Wie können wir uns im 21. Jahrhundert diese große Hoffnung erhalten? Wie können wir die Zuversicht leben, die in dieser Erwartung wohnt, und ihr kreatives, revolutionäres Potenzial in uns freilegen? Jürgen Moltmann entwickelt in seiner „Theologie der Hoffnung“ einen neuen Blick auf die eschatologische Ausrichtung christlicher Theologie. Christliches Leben beschreibt er als Leben, das von Hoffnung auf das „Kommen Gottes“ geprägt ist. Eine Hoffnung, die Kraft verleiht, auf Wandel zu bestehen: „Wer auf Christus hofft, kann sich nicht mehr abfinden mit der gegebenen Wirklichkeit, sondern beginnt an ihr zu leiden, ihr zu widersprechen.“4

Glaubende, die Zugang zur auferweckenden Kraft Gottes haben, verlieren die Angst vor den vielen Toden, die ein Mensch in seinem Leben sterben kann. Sie lassen sich nicht ruhigstellen. „Seid wachsam!“ heißt also, in Aussicht auf etwas zu leben, nicht im Sinne einer frommen Naivität, die passiv auf einen Gott hofft, der es schon richten wird, sondern in einer tätigen Erwartung, die sich reibt an dem, was ist und nicht sein soll, und wach bleibt für das, was kommen kann und wird.

„Seid wachsam, steht fest im Glauben, seid mutig, seid stark“ – große Forderungen, die in die nächste starke Erwartung münden: „Alles, was ihr tut…“5 Es geht um die innere und die äußere Realität der Gemeinde. Welche Probleme es gab, und welche Stärken die Gemeinde entwickeln kann, wenn sie Christus verbunden ist, diesen Fragen widmete sich Paulus in den vorherigen Kapiteln anhand vieler Einzelthemen. So entwirft er etwa in 1 Kor 12,12-31 das Bild vom Leib Christi. Die Metapher, dass eine Gruppe wie ein Körper funktioniert, an dem jedes Glied unterschiedliche Aufgaben erfüllt und so harmonisch für ein gemeinsames Ziel wirken kann, dürfte den Korinther*innen bekannt gewesen sein. Luise Schottroff sieht in dem Bild vom Leib Christi mehr als nur eine Metapher. Sie deutet „Leib Christi“ mystisch als einen „kollektiven Menschen“, den Gott erweckt und geschaffen hat: „Die Gemeinschaft der Glaubenden ist ein lebendiges Wesen, das von Gott ins Leben gerufen wird und an seiner Arbeit für die Gerechtigkeit Gottes wächst. Das Ziel dieser Gemeinschaften ist die Heilung der Menschen und der Erde.“6  Die glaubende Gemeinde „verkörpert“ den Messias. Mit diesem kollektiven Körper handelt Gott in der Welt.7

Das „Hohelied der Liebe“ (1 Kor 13) schließt direkt daran an. Das Griechische kennt verschiedene Begriffe für Liebe: Eros, Agape und Philia. Im Sprachgebrauch des Neuen Testaments entwickelt sich die bis dahin wenig gebräuchliche Vokabel „Agape“ zu einem Begriff mit großem Sinnpotenzial. Daran haben die Schriften des Paulus einen besonderen Anteil.8 Die Eigenschaften, die Paulus in 1 Kor 13 der Agape zuschreibt, bilden den Sinnhorizont für die Verwendung des Begriffs in 1 Kor 16,14. Viel Missbrauch und Verharmlosung hatte dieses Loblied der Liebe zu ertragen! Sehr willkommen waren Beschreibungen einer Liebe, die alles erträgt, alles duldet, sanftmütig und demütig ist, damit insbesondere Christinnen still blieben und nichts zu fordern wagten. Doch hier ist von Gottes Liebe die Rede, vor der jeder Vergleich mit menschlicher Liebe versagt. Als eine Kraft Gottes übersteigt sie jede Summe menschlicher Tugenden und Möglichkeiten. Und auch in anderen paulinischen „Liebestexten“ erschöpft sich der Bedeutungshorizont der Agape nicht in duldsamen Eigenschaften. Paulus kann sie so kraftvoll und widerständig denken, dass sie Todeskräften standhält: „Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Schwert?“ (Röm 8,35)

Es ist die Agape Gottes, die eine Gemeinschaft befähigt, Christus zu verkörpern und messianisch nach innen und außen zu handeln. Die göttliche Liebe verbindet die Glaubenden mit Christus über Grenzen von Zeit und Raum hinweg. Sie entwickelt innerhalb der Gemeinde und in ihr Umfeld hinein eine drängende Kraft, die neues Leben gestaltet. Sie treibt Glaubende zu einer anderen Existenz. Oda Wischmeyer spricht vom „Agape-Konzept“, das sie in verschiedenen neutestamentlichen Schriften ausmacht, „als gemeinsame Lebensform der Christus-bekennenden: als soziale Kultur, die theologisch basiert ist“.9 Sie macht die Gemeinschaft der Glaubenden zu einem lebendigen Wesen, das Christus in der Welt verkörpert, indem es sich für Gerechtigkeit unter den Menschen und die Heilung der Schöpfung einsetzt. Eine Gemeinschaft, die befähigt ist, für das Leben zu wirken. Eine Gemeinschaft im Sinne des Leben spendenden, Leben erweckenden Gottes.10

Paulus kämpfte in seinen Briefen dafür, dass die Gemeinden im Sinne dieses „Liebes-Konzeptes“ eindeutig blieben. Sein Anliegen trifft hier und heute auf eine Kirche, die mit dem rasanten Schwinden ihrer Mitglieder ringt und sich angesichts ihres gesellschaftlichen Bedeutungsverlustes fragt, wie sie wirksam bleiben kann.

Die dringend notwendigen Reformen haben eine Selbstbeschäftigungsspirale in Gang gesetzt. Manche Kirchengemeinden ziehen sich auf ihr „Kerngeschäft“ zurück, andere wenden sich von der volkskirchlich begründeten Ortskirche ab und rufen „dritte Orte“ aus, wieder andere versuchen mit niederschwelligen Angeboten, wie etwa mit Pop-up-Taufen, eine neue Anschlussfähigkeit kirchlichen Lebens in der kirchenfernen Gesellschaft zu bewirken.11 Zugleich ist die sich immer stärker säkularisierende Gesellschaft längst im Inneren der gemeindlichen Praxis angekommen – bis hin zur Formen der Selbstsäkularisierung, wenn beispielsweise in Kirchengemeinden vieles an Musik- und Sportereignissen stattfindet, während der Gottesdienst zum marginalen Nebenangebot wird. Als Christ*in die Agape Gottes in dieser zunehmend religionsfernen, manchmal sogar religionsfeindlichen Gesellschaft sichtbar werden zu lassen, Christus in dieses Umfeld hinein zu verkörpern, könnte und sollte mehr sein. Selbstvergessener Rückzug in die eigenen kleiner werdenden Kreise, Verharren in der Selbstbeschäftigung, Entzug von Spiritualität und geistlicher Nahrung aus den kirchlichen Angeboten, das heißt, der Welt die Liebe Gottes zu verweigern. So wie die Liebe Gottes beständig ist und treu, aber nicht „unter sich“ blieb und bleibt, ist die Kirche, die auf der Agape gründet, berufen wach zu bleiben in dieser Liebe, sich treu und zugleich nicht unter sich zu bleiben.

Anlässlich des 20. Todestages von Dorothee Sölle im April 2023 erinnerten viele an eine Theologin, die zeitlebens in ihrem theologischen Werk darum rang, die Agape lebendig werden zu lassen.12 Sie stand in besonderer Weise für beide Realisierungen der Liebe Gottes: die innere, als seelische Rückbindung des Menschen an Gott, und die äußere, als Handeln in der Welt. Eines ihrer großen Werke „Mystik und Widerstand“ ist ein Manifest ihrer Lebenshaltung, dass zur christlichen Existenz beides gehört, Kontemplation und Aktion, und Gerechtigkeit nichts anderes ist als Liebe, die öffentlich wirksam wird. Sölle ist mit diesem doppelten Anspruch wieder oder noch erstaunlich aktuell. Und auch ihre theologische Weggefährtin Luise Schottroff vermittelt in ihrer lebensnahen Interpretation des Ersten Briefes an die Gemeinde in Korinth diese Haltung: „Die Gemeinde verkörpert mit allen ihren Gliedern den Messias und handelt messianisch, nach innen und nach außen. Sie nennt die Gewalt öffentlich beim Namen und baut eine Gemeinschaft auf, die Gottes Gerechtigkeit verwirklicht.“13

Weil Kirchen vielerorts nur noch eine Akteurin unter anderen sind, gilt es, sich für das Verwirklichen von Gottes Gerechtigkeit Verbündete in Sachen wache Liebe zu suchen. Dafür gibt es bereits inspirierende Beispiele.

– Hass schadet der Seele – Liebe tut der Seele gut: Die Kampagne eines Berliner Kirchenkreises setzt ein Zeichen gegen Homophobie, Rassismus und Menschenfeindlichkeit.14
– Kühle Räume:
Für die Kampagne im Sommer 2023 bat der Berliner Senat Kirchengemeinden um Mithilfe. Kirchen wurden dabei als Oasen erlebt – als kühle Räume und als Orte der Stille und Kontemplation. Und: Kirchen konnten durch die Kooperation mit Kommune und sozialen Trägern aus den „kleinen Kreisen“ ausbrechen.
– Zufluchtsort: Eine Kirchengemeinde stellte Schlafräume für Geflüchtete zur Verfügung. Mittels öffentlicher Fördergelder konnten zwei Projektstellen geschaffen werden.
– Friedenswächterin: Beim Kirchentag in Nürnberg wurde auf einem Podium an das Wächteramt der Kirche appelliert und von Kirche und Theologie gefordert, der Verteidigungspolitik nicht nach dem Mund zu reden. So notwendig Unterstützung eines angegriffenen Landes mit Waffenlieferungen politisch sein könne – die Kirche habe eine andere Aufgabe, denn ihr Denkhorizont sei der Gekreuzigte.

Beispiele für eine wache Liebe, die Christus in der Welt „verkörpert“. Kleine Botinnen einer „anderen Existenz“, ausgerichtet auf den Gott, der Tote auferweckt – in einer Zeit, in der die Utopien abhanden zu kommen drohen. In ihnen steckt die Kraft, in einer Welt struktureller Gewalt den alltäglichen Toden entgegenzutreten. Seid stark!

Heidrun Miehe-Hege ist Theologin und Supervisorin. Sie ist Pfarrerin der Dreifaltigkeitskirchengemeinde im Pfarrsprengel Lankwitz und Stellvertretende Superintendentin in Berlin-Steglitz.


Zum Weiterlesen:
Günther Bornkamm: Paulus, Stuttgart 71993.
Christoph Fleischmann, Swantje Amelung: Widerständig und fromm. Dorothee Sölle – Eine Theologin für heute, Publik Forum 8/2023, S. 12-18.
Jürgen Moltmann: Theologie der Hoffnung, München 1964.
Luise Schottroff: Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth, ThKNT 7, Stuttgart 22020.
Oda Wischmeyer: Liebe als Agape, Tübingen 2015.

Anmerkungen
1) Vgl. Balz, Horst; Schneider, Gerhard (Hgg.), EWNT, Bd. I, Stuttgart, Berlin, Köln 21992: Artikel: ????????, S. 638f.
2) Vgl. Wolff, Christian, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, ThHNT 7, Leipzig 21996, S. 434.
3) Vgl. ebd., S. 5.
4) Moltmann, S. 15.
5) Im griechischen Text steht ???? (euch); beide Übersetzungen sind möglich: Alles bei euch / von euch geschehe in Liebe.
6) Schottroff, S. 252.
7) Ebd., S. 292.
8) Vgl. Bornkamm, S. 222. Bornkamm weist auch darauf hin, dass Paulus mit seinem zentralen Liebesbegriff auf theologische Grundlinien des Alten Testaments aufbaut – etwa auf den Gedanken der Liebe Gottes als Garant des Bundes mit Gottes Volk – und diese in seinen Briefen christologisch und ekklesiologisch weiterentwickelt. (Vgl. ebd., S. 223).
9) Wischmeyer, S. 15.
10) Schottroff, S. 256.
11) Vgl. https://berlin-evangelisch.de/blog/127148/wir-brauchen-eine-kirchenreform-berthold-hocker-wird-beim-csd-gottesdienst-verabschiedet, aufgerufen am 25.07.2023.
12)  Vgl. u.a. Fleischmann und Amelung.
13) Schottroff, S. 19.
14) Siehe https://tut-der-seele-gut.info 

_________

Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit / 90 Minuten

Lesen Sie den Artikel „Wache Liebe“ gemeinsam (abschnittweise reihum) und klären evtl. Verständnisfragen. [circa 30 Minuten]
Wenn die Zeit dafür nicht reicht, tragen Sie zusammengefasst wesentliche Gedanken des Artikels vor und geben den TN die Kopien zur persönlichen Vertiefung mit nach Hause.

Reflektieren Sie jede*r für sich  [circa 20 Minuten]

„Von deiner anfänglichen Liebe ist nicht mehr viel übrig. Weißt du noch, mit welcher Hingabe du einmal begonnen hast? … Kehr um und handle wieder so wie zu Beginn.“ (Offenbarung 2,4-5 HfA)
– Wie hat das angefangen mit meinem Glauben, mit mir und der Kirche, mit mir und (m)einer Gemeinde? Was hat mich angezogen? Mit welchem Engagement bin ich eingestiegen? Wofür habe ich gebrannt?
– Wie ist das heute? Möchte ich (wieder) mehr für das tun, wofür ich brenne? Wie lebe ich für das, was ich liebe?

Tauschen Sie sich in Gruppen aus  [circa 30 Minuten]

– Was stärkt und belebt meine Seele? Welche geistliche Nahrung tut mir gut? Wo habe ich gute Erfahrungen gemacht?
– Welche konkrete Hoffnung unseres Lebens als Gemeinde braucht besondere Aufmerksamkeit, braucht unsere wache Liebe? Wer und was kann uns unterstützen beim Hüten und Wachsenlassen unserer Visionen? Wie finden wir Verbündete?
Halten Sie kurz inne und überlegen Sie: Was nehme ich mit, worüber möchte ich weiter nachdenken? – Jede*r schreibt ein Stichwort auf eine farbige Moderationskarte.

Abschluss [circa 15 Minuten]

Lied, z.B.:

Da wohnt ein Sehnen tief in uns (SJ 128); 
Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehen (SJ 171); Liebe bist du (SJ 162); Hilf, Herr meines Lebens (EG 419)
– Die von den TN notierten Stichworte werden (kommentarlos) verlesen und in die Mitte auf ein dunkles Tuch gelegt. Dazu wird ein Teelicht entzündet und neben die Karte gestellt. Wer kein Stichwort hat oder öffentlich machen möchte, legt die leere Karte in die Mitte und zündet ebenfalls ein Licht an.
– Vaterunser
– Lied, z.B.: Ubi caritas et amor (Taizé)
Die Idee für diese Übung ist einem Vortrag von Klaus Douglass am 22.5.2023 auf der midi-Frühjahrstagung „Zurück zur ersten Liebe“ entlehnt. Video zugänglich unter https://www.youtube.com/watch?v=yz5DY7deVLs
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