Ausgabe 1 / 2017 Bibelarbeit von Rainer Kessler

Wähle das Leben, damit du lebst…

Deuteronomium 30,1 - Wahlentscheidungen im Alltag

Von Rainer Kessler

„Haben Sie schon gewählt?“, fragt die Bedienung. Was nehmen wir denn? Pizza Margherita oder doch lieber Vier Jahreszeiten? „Wer die Wahl hat, hat die Qual“, heißt es dazu im Volksmund. Manchmal, zum Beispiel bei politischen Wahlen, ist es sogar nur die Wahl zwischen dem größeren und dem kleineren Übel. Wir müssen uns dauernd entscheiden und oft hat das den Charakter einer Wahl zwischen zwei oder mehr Möglichkeiten.

Am Ende des Buches Deuteronomium spricht auch Mose eindringlich vom Wählen. Nachdem er seinem Volk Israel Gottes Gebote vorgelegt, nachdem er Segen für das Befolgen der Gebote und Fluch für ihre Missachtung angekündigt hat, fordert er zur Entscheidung auf: „Das Leben und den Tod habe ich dir heute vorgelegt, den Segen und den Fluch. Wähle das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen!“ (30,19). Aber was ist das für eine Wahl? Bei dieser Wahl hat niemand die Qual. Die Wahl fällt natürlich auf den Segen und das Leben. Mose weiß das selbst. Er sagt ja nicht: „Wähle zwischen dem Segen und dem Fluch, wähle zwischen dem Leben und dem Tod.“ Er sagt selbstverständlich: „Wähle das Leben!“ Etwas anderes kommt nicht in Frage. Geht es also überhaupt noch um eine Wahl?

Echte Wahl – tägliche Entscheidung

Um auf diese Frage antworten zu können, müssen wir beachten, wo diese Verse stehen. Sie stehen ziemlich am Ende des Deuteronomiums. Nach den letzten Worten Moses in Kap. 30, wozu unser Vers gehört, beendet Mose seine Rede und schreibt die Tora auf, um sie den Priestern zur künftigen Beachtung zu übergeben. Er singt noch das so genannte Moselied, spricht den Segen über die Stämme und stirbt dann. Unser Vers von der Wahl des Lebens bildet also den Abschluss der eigentlichen Gesetzesverkündigung. In Dtn 4,44 steht als Überschrift: „Dies ist die Tora, die Mose den Israeliten und Israelitinnen vorlegte.“ Dann folgen die zehn Gebote, das „Höre, Israel!“ und vor allem in Kap. 12-26 eine Fülle von Gesetzesbestimmungen, eben das deuteronomische Gesetz. Wenn wir diese Einzelbestimmungen betrachten, dann wird schnell aus der nur scheinbaren Wahl von Dtn 30,19 eine echte Wahl, eine tägliche Entscheidung. Ich will drei Beispiele dafür geben.

„Ihr sollt den Fremden lieben“

Das erste Beispiel ist nicht den Gesetzesbestimmungen, sondern einer Mahn­rede Moses an das Volk entnommen. Mose sagt: „Denn Jhwh, euer Gott, ist der Gott der Götter und der Herr der Herren, der große, mächtige und furchtbare Gott, der kein Ansehen der Person kennt und keine Bestechung nimmt, der das Recht der Waise und der Witwe ausführt und den Fremden liebt, sodass er ihm Nahrung und Kleidung gibt. Ihr sollt den Fremden lieben, denn ihr seid Fremde im Land Ägypten gewesen“ (10,17-19). Jhwh liebt den Fremden, „sodass er ihm Nahrung und Kleidung gibt“, und deshalb sollen die Israeliten und Israelitinnen ihn auch lieben. Wir erleben in Deutschland, wie schnell es gehen kann, dass man da vor eine echte Wahl gestellt ist. Was soll man tun, wenn die Fremden kommen, nicht nur Einzelne, sondern zu Hunderttausenden? Soll man ihnen Nahrung und Kleidung geben? Solange man auf diesem Weg mit gutem Gewissen eh nicht mehr gebrauchte alte Kleider entsorgen kann, fällt die Entscheidung nicht schwer. Aber wenn es ans echte Teilen geht, an das Hergeben von etwas, was man gerne selbst behalten würde, dann sieht es schon anders aus. Betrachten wir die Aufforderung von 10,19, den Fremden zu lieben, im Licht von Moses Aufforderung, das Leben zu wählen, dann ist klar: Nur die Liebe zum Fremden, die mit ihm Nahrung und Kleidung – und Wohnraum und Arbeitsplätze und Wartezeiten in der Arztpraxis und so weiter – teilt, entspricht der Wahl des Lebens. Nur auf ihr liegt Segen. Auf einmal ist aus der nur scheinbaren Wahl – natürlich entscheide ich mich fürs Leben! – eine echte Wahl geworden.

„Tut Gutes und leiht“

In den Sozialgesetzen steht, man solle nach sieben Jahren alle Schulden er­lassen. Verschärft wird dies durch die Aufforderung, selbst dann noch einen Kredit zu geben, wenn das Erlassjahr nahe bevor steht und man ziemlich sicher mit einer Zurückzahlung nicht rechnen kann (Dtn 15,1-11). „Tut Gutes und leiht, ohne etwas zurück zu erwarten“, wird Jesus später in diesem Sinn sagen (Lk 6,35). Und wenn man einem, der es nötig hat, leiht, soll man zudem keine Zinsen nehmen (Dtn 23,20). Hier geht es ans Geld, und da hört bekanntlich bei vielen von uns der Spaß auf. Aber genau das ist nun eine dieser Wahlen, vor der wir stehen und deren Entscheidung nicht mehr so einfach und selbstverständlich ist wie die Wahl ­zwischen Segen und Fluch, Leben und Tod. Selbstverständlich wählen wir das ­Leben. Aber verzichten wir genauso selbstverständlich auf Verliehenes und wollen wir auch keine Zinsen dafür?

„… dazu Fremde, Waisen und Witwen“

Das dritte und letzte Beispiel greift in unser privates Familienleben ein. Damals wie heute sind Festtage ein Höhepunkt im Jahreslauf. Was bei uns das Weihnachtsfest und in den USA Thanksgiving ist, waren damals die Wallfahrten zum Tempel, bei denen in fröhlicher Runde das Opferfleisch gegessen und Bier und Wein getrunken wurden. Und ausgerechnet da soll man nun nicht im Kreis der Familie bleiben, sondern den ganzen Hausstaat und die armen Dorfbewohner mitnehmen: die Sklaven und Sklavinnen und den Leviten, der keinen Landbesitz hat, dazu Fremde, Waisen und Witwen (Dtn 12,12; 14,27; 16,11.14). Mit wem feiern wir unsere Feste? Wollen wir unter uns bleiben, oder nehmen wir die mit hinein, die sonst nicht feiern könnten? Das sind nun gar keine so leichten Entscheidungen wie die Entscheidung für das Leben, die uns so selbstverständlich vorkommt.

„Weg zum Leben“

In Dtn 30,19 ruft Mose dazu auf, das ­Leben zu wählen. Er spricht dabei wie ein Weisheitslehrer, deren Sprüche wir im Buch der Sprüche gesammelt finden. Auch da wird häufig dazu aufgerufen, sich für das Leben zu entscheiden. Das Gebot des Vaters und die Weisung der Mutter sind ein „Weg zum Leben“ (Spr 6,23). „Wer die Unterweisung beachtet, geht den Pfad zum Leben“ (10,17). Wie die Beachtung der von den Eltern und Lehrern gelehrten Tugenden zum Leben führt, so ist das Befolgen der Laster der Weg des Todes (14,12; 16,25). Der Verweis auf den weisheitlichen Hintergrund der Vorstellung von den beiden Wegen, dem Weg des Lebens und dem Weg des Todes, ist deshalb wichtig, weil in den Sprichwörtern noch andere Themen angesprochen werden als im Deuteronomium. Das Deuteronomium ist eine Gesetzessammlung. Die Haltung dem Fremden gegenüber, der Erlass von Schulden und der Verzicht auf Zinsen, auch die Forderung, die Bedürftigen an den Festen teilnehmen zu lassen – all das lässt sich in klare Bestimmungen fassen, deren Einhaltung man auch sichtbar überprüfen kann. Die Weisheit dagegen zielt in vielem auf etwas Anderes, auf die innere Einstellung, auf das Denken und Sprechen, die gar nicht so leicht von außen beurteilt werden können.

„Seine Worte wählen“

Ein Spruch heißt: „Tod und Leben sind in der Macht der Zunge“ (Spr 18,21). In der Erziehung wie im Zusammenleben in einer Partnerschaft kommt es entscheidend auf die Zunge, auf die Worte, an. Worte der Anerkennung und Liebe führen zum Leben. Worte der Geringschätzung und Verachtung können Menschen zerstören. Lehrer können Schüler bloßstellen und dem Spott preisgeben. Vorgesetzte können ihre Untergebenen mit Worten klein machen. Oder sie können stärken, anerkennen und aufbauen. Im Deutschen gibt es die schöne Wendung „seine Worte wählen“. Das ist nicht so scheinbar abstrakt wie das Leben zu wählen. Das ist bei jedem Wort eine echte Wahl. „Wähle das Leben“, zu dieser Aufforderung Moses lässt sich leicht Ja sagen. Aber im Alltag heißt sie auch, seine Worte zu wählen, ob sie Worte zum ­Leben oder Worte zum Tod sind. Und das bedarf großer Sorgfalt und kommt nicht schnell daher.

„… damit du lebst“

Wir könnten noch lange so fortfahren. Der Prophet Ezechiel stellt einmal so etwas wie einen Grundkatalog gebotener bzw. verbotener Handlungen und Haltungen auf (Ez 18). Interessanterweise ist wieder das Einfordern von oder der Verzicht auf Zinsen dabei. Aber auch das Verhalten in sexuellen und part­nerschaftlichen Beziehungen wird erwähnt. Auch hier stehen wir häufig vor der Wahl. Und wie im Fall von Mose und wie bei den Weisheitslehrern und -lehrerinnen geht es letztlich bei solchen Alltagsentscheidungen um Leben und Tod. So schließt Ezechiel sein Kapitel mit dem Gotteswort: „Ich habe kein Gefallen am Tod dessen, der sterben muss – Spruch des Herrn Jhwh. So kehrt um und lebt!“ (Ez 18,32).

Wenn wir vor die Wahl zwischen Leben und Tod gestellt werden, fällt uns die Entscheidung nicht schwer. Die Bibel zeigt aber, dass sich diese Grundentscheidung in zahlreiche und oft durchaus alltägliche Einzelentscheidungen auffächert. Sie sind oft gar nicht mehr so selbstverständlich. Die ganze Ethik der Bibel kann als eine einzige Aufforderung gelesen werden, sich in allen Einzelentscheidungen des Alltags für das Leben zu entscheiden. „Wähle das Leben, damit du lebst …“, wie Mose es sagt.

Für die Arbeit in der Gruppe

Ziel
Die Teilnehmerinnen entwickeln ein Gespür dafür, dass es auch bei alltäg­lichen Entscheidungen um die Wahl zwischen Segen und Fluch, zwischen Leben und Tod geht, nicht im Einzelfall als solchen, sondern in der Gesamtheit der Einzelfälle, die darüber entscheidet, ob Leben gelingt und gesegnet ist, oder ob es scheitert und in den Beziehungstod führt.

Material
– Gesangbücher
– Ein Bogen Papier oder eine Tafel.
– Ein „Fragebogen“, der etwa so aussehen könnte:
Bitte beantworten Sie die folgenden Fragen ganz ehrlich! Der Bogen wird nicht eingesammelt. Nur Sie wissen, wie Sie geantwortet haben.

Ablauf
Lied: Komm Herr, segne uns (EG 170)

Gesprächsrunde: Die Leiterin der Zusammenkunft liest den Text von Deuteronomium 30,15-20 vor. Sie erklärt den Zusammenhang mit dem Oberthema „Wahl(en)“ und stellt kurz den Gedankengang der vorstehenden Auslegung vor. Bevor sie den „Fragebogen“ ausgibt, erläutert sie dessen Funktion. Es geht nicht um eine Erhebung, weshalb der Bogen bei den Teilnehmerinnen verbleibt. Es geht nur darum, erst einmal für sich zu überlegen, wie ich mich entscheiden würde und warum. Darauf soll dann ein Gespräch aufbauen.

Zur Strukturierung des Gesprächs kann die Leiterin drei Kategorien vorgeben, die auf dem Bogen Papier oder der Tafel notiert werden: Die Entscheidung für ein Ja fällt leicht / Die Entscheidung für ein Nein fällt leicht / „Es kommt drauf an“ – aber worauf?

Es ist zu hoffen, dass sich daraus ein Gespräch ergibt. Vielleicht gelingt es, dass jemand berichtet, wie eine Entscheidung, die schwer gefallen ist, sich doch als segensreich erwiesen hat, oder wie jemand im Nachhinein eine abweisende Entscheidung als unglücklich erlebt.

Noch einmal das Lied: Komm Herr, segne uns (EG 170)

Prof. Dr. Rainer Kessler, geb. 1944, hat nach dem Studium der Ev. Theologie und Promotion als Pfarrer sowie als Assistent an der Kirchlichen Hochschule Bethel in Bielefeld gearbeitet. Von 1993 bis 2010 war er Professor für Altes Testament in Marburg. Seitdem befindet er sich im Ruhestand.

verwendete Literatur
Gerhard von Rad: Das fünfte Buch Mose.
Deuteronomium (ATD 8), Göttingen 1964

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang