Alle Ausgaben / 2006 Andacht von H. Günther, H. Schäfer

Walzer

Von H. Günther, H. Schäfer


Aus dem alpin-süddeutschen Raum trat der Walzer im 14. Jahrhundert seinen ersten großen Siegeszug an. Gegen 1550 hat die wilde, leidenschaftliche Werbetanzform ganz Deutschland bis zur Nordsee erobert. Er drang auch in die vornehmen Schichten der Städte ein. In Gestalt der Volte gelangte der deutsche Drehtanz in die höfische Gesellschaft von London und Paris. Plötzlich erfolgte jedoch der Rückschlag.
Luther war kein Feind des Tanzes. Von der Mitte des 16. Jahrhunderts an aber setzte sich die starre und puritanische Orthodoxie im Protestantismus mehr und mehr durch. Melchior Ambach, Pfarrer in Frankfurt am Main, greift den Drehtanz 1545 aufs Schärfste an: „Wie oft hat ein frommes Weib ihre lange behaltene Ehre am Tanz verloren … Leichtfertige, hurische Gebärden übet man nach süßem Saitenspiel und unkeuschen Liedern. Da begreifet man Frauen und Jungfrauen mit unkeuschen Händen, man küsst einander mit hurischem Umfangen, und die Glieder, welche die Natur verborgen hat, entblößt oft Geilheit. Tanzen ist eine Übung, nit vom Himmel kommen, sondern von dem Teufel erfunden.“
Der entscheidende Schlag gegen den Walzer wurde aber nicht von Pastoren geführt. Das 16. Jahrhundert war in Deutschland ein Jahrhundert der einfachen Leute gewesen, der Bürger und Bauern. Mit der Heraufkunft des Barock setzte der Gegenschlag ein. Der Absolutismus erwachte. Noch einmal triumphierten die aristokratischen Schichten. Diese aber bezogen ihre Lebensart aus Frankreich und Italien. Getanzt wurden Pavane, Gaillarde und Volte, Menuett und Allemande, aber kein Walzer, kein Ländler mehr.
Um 1770 aber – in der Sturm- und Drangzeit – brach der Walzer plötzlich aus dem Dunkel hervor. Jene Generation suchte den Rausch, die ungebundene Bewegung, lehnte das tändelnde Spiel, die klügelnde Vernunft, die Konvention ab. Herz, Gefühl, Leidenschaft, elementares, ursprüngliches Leben bestimmten sie, die das Volk als Urquell des natürlichen Daseins entdeckten. So wurde der Walzer „geschaffen“. Die Behauptung, die Aufführung der Oper „Cosa Rara“ (1787) habe den Walzer „kreiert“, ist eine Legende. Der Sieg des Walzers war ein Sieg des Volkes. Dass der Wiener Kongress (1815) Walzer tanzte, ist ein Beweis, wie sehr sich das neue Lebensgefühl bereits durchgesetzt hatte. Die Revolution war nicht mehr rückgängig zu machen.

aus: Vom Schamanentanz zur Rumba. Die Geschichte des ¬ Gesellschaftstanzes
© Verlag Fritz Ifland Stuttgart 2/1975 (zuerst erschienen 1959)

 

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