Ausgabe 2 / 2009 Artikel von Heidrun Kopp

Was bleibt sind Gefühle

Mit Demenz leben lernen

Von Heidrun Kopp


„Wer sind Sie?“ Wenn diese Frage nicht von einer fremden Person gestellt wird, sondern von einem Menschen, der uns schon viele Jahre vertraut ist, mit dem wir zusammen leben, dann ist das besonders schmerzhaft.

Das erleben viele Angehörige von Demenzkranken. Der Mensch, der sie gut gekannt hat und den sie gut kannten, ist ein ganz anderer geworden. „Manchmal ist es, als lebte ich mit einem Fremden unter einem Dach.“ So formuliert es eine Frau, die ihren demenzkranken Mann pflegt.

Demenz, das ist eine Diagnose und Krankheit, mit der immer mehr Menschen leben müssen. Mit der durchschnittlichen Lebenserwartung steigt auch das Risiko, an einer Demenz zu erkranken. So leidet im Alter zwischen 65 und 69 jede/r Zwanzigste daran, aber zwischen 80 und 90 ist schon fast jede/r Dritte betroffen.


Nur Vergesslichkeit?

Wenn junge Menschen etwas vergessen, dann sind sie eben vergesslich. Wenn alten Menschen Namen, Zahlen oder Begebenheiten nicht einfallen, wird schnell eine beginnende Demenz befürchtet. Da Angst, Unwissenheit und Panik keine guten Ratgeber sind, gilt es, sich der Angst zu stellen.
Vergesslichkeit und Veränderung der Persönlichkeit können Folge einer organischen Erkrankung sein oder auch durch Medikamente ausgelöst werden. Möglicherweise ist auch eine seelische Krankheit die Ursache, etwa eine Depression. Deshalb ist sorgsam abzuklären, was vorliegt. In vielen Städten gibt es inzwischen sogenannte „Gedächtnissprechstunden“, in denen Fachleute durch Gespräche, Testverfahren und manchmal auch durch die Hilfe von Medizintechnik wie Computer- oder Kernspintomografie sehr genau beurteilen können, ob jemand an einer Demenz erkrankt ist – und wenn ja, an welcher.

Bei einer Demenz-Erkrankung lassen die Hirnfunktionen schleichend und schrittweise nach und sind unwiederbringlich verloren. Zu Beginn schwindet nur das Kurzzeitgedächtnis: Was es zum Essen gab, wo die Brille liegt und ob die Post schon da war, kann jemand nicht erinnern, wohl aber genaue Szenen der Vergangenheit, zum Beispiel die Erlebnisse aus der Kindheit.

Im weiteren Verlauf der Krankheit ist auch das Langzeitgedächtnis betroffen, schwindet nach und nach auch die Vergangenheit. Immer weniger Details der eigenen Lebensgeschichte sind zugänglich. In dieser Phase reagieren viele Kranke sehr gereizt, werden aggressiv. Sie unterstellen, dass andere sie absichtlich mit falschen Angaben verwirren, sie bestehlen und betrügen. Für die nächsten Angehörigen ist dies eine extrem schwere Zeit. Schließlich gehen die Beziehungen zu Raum und Zeit verloren. Selbst in der eigenen Wohnung, in der jemand jahrzehntelang lebte, kann er sich verlaufen. Viele demenzkranke Menschen haben ein großes Bewegungsbedürfnis. Sie sind fast ununterbrochen unterwegs, manchmal Tag und Nacht.

In dem Maße, in dem die so genannte Alltagskompetenz sinkt, nimmt die Pflegebedürftigkeit zu. Die Kranken müssen nicht nur versorgt und betreut, sondern auch beaufsichtigt werden.


Diagnose Demenz

Sehr häufig ist eine Demenzerkrankung mit Scham besetzt. Die Betroffenen selbst und auch ihre Angehörigen reden nicht gerne darüber. Sie versuchen die Krankheit zu verstecken, ziehen sich zurück. Je schwieriger der Alltag wird, desto mehr Unterstützung brauchen sie aber. Und das heißt auch: Je früher und offener Betroffene und Angehörige reden können, desto mehr können sie entlastet werden. Es gibt viele Menschen in ähnlicher Situation, von deren Erfahrungen andere lernen können. Dieser Austausch kann beispielsweise in Gruppen von pflegenden Angehörigen stattfinden, die es an vielen Orten gibt. Da die Pflege eines demenzkranken Menschen nicht nur körperlich sondern vor allem auch psychisch anstrengend ist, brauchen besonders die Pflegenden Kraftquellen, wo sie regelmäßig auftanken können.


Hilfe im Alltag

Demenzkranke Menschen leiden darunter, dass sie sich an immer weniger Geschichten und Erlebnisse aus ihrem Leben erinnern können. Wenn ich mich nicht mehr erinnern kann, dann entgleitet mir meine eigene Person. Umso wichtiger ist es, die Erinnerungen zu pflegen. Dabei helfen Fotoalben, Bildbände zur Ortsgeschichte, Gegenstände, die zu einem Leben gehören, vertraute Orte und Gerüche. Alles, was dazu beiträgt, Erinnerungen zu wecken, ist wichtig und wertvoll. Erinnerungspflege und Anknüpfen an früher gepflegte Tätigkeiten sind wichtige Hilfsmittel, um die Lebensqualität der Kranken möglichst lange aufrecht zu erhalten.

Im Alltag helfen kurze und einfache Sätze. Konkrete Angaben wie Zeit, Datum, Ort und Namen bieten Erinnerungshilfen. Es braucht Zeit und Geduld, denn Antworten und Reaktionen kommen nicht mehr so schnell wie früher, aber sie kommen. Es lohnt sich zu warten. Anschuldigungen und Vorwürfe sind schwer zu ertragen, dennoch sind Entgegnungen oder Diskussionen meist sinnlos. Wertvoll ist alles, was zur Verlässlichkeit und Beständigkeit beiträgt. So helfen einfache Regeln, feste Tagesabläufe, regelmäßige Rituale. Je verlässlicher und erwartbarer der Tag abläuft, desto leichter fällt die Orientierung.

Viele Bereiche einer Person, wie Gedächtnis oder Motorik, sind von der Krankheit betroffen und entschwinden. Was bleibt, sind Gefühle. Viele Demenzkranke sind sehr empfindsam. Sie haben ein gutes Gespür für andere Menschen, spüren sehr genau, ob das, was jemand äußert, echt ist oder nur gespielt. Deshalb ist es wichtig aufrichtig zu sein, Gefühle, die eigenen und die des anderen, zu- und gelten zu lassen. Eine Berührung oder ein Blick sagt oft mehr als viele Worte.

Mit fortschreitender Demenz müssen die Kranken Tag und Nacht betreut werden. Schon die Betreuung eines Menschen, der vor den eigenen Augen verfällt, ist sehr anstrengend. Hinzu kommt die dauernde Gespanntheit, der fehlende Schlaf in der Nacht. Oft übersteigt das die Kräfte von Angehörigen. Sie sind gereizt, fühlen sich hilflos und werden von einem schlechten Gewissen geplagt. Für Angehörige sind daher Ausgleich und Entlastung dringend nötig. Haben sie dies über längere Zeit nicht, gibt es zwei Kranke: den Demenzkranken und seine überforderte Pflegende.

Die Betreuung eines Menschen, der an Demenz erkrankt ist, muss auf mehrere Schultern verteilt werden. Es braucht Freiräume, in denen die Pflegenden etwas für sich selbst tun können. Dabei können auch professionelle Pflegedienste eine gute Unterstützung sein.


Häusliche Pflege?

Die Frage nach dem richtigen Ort der Pflege ist schwer zu entscheiden. Der Umzug in ein Pflegeheim bedeutet eine große Umstellung für den kranken Menschen und die Angehörigen. Die vertrauten Abläufe und die vertraute Umgebung gehen verloren. Dennoch zeigen die Erfahrungen, dass die Entscheidung für ein Pflegeheim richtig und sinnvoll sein kann.

Viele Pflegeheime haben inzwischen einen eigenen Wohnbereich für demenzkranke Menschen, der ganz auf deren Bedürfnisse eingerichtet ist. Dazu gehört entsprechend ausgebildetes Personal, das liebevoll und wertschätzend mit den Bewohnern und Bewohnerinnen umgeht. Die PflegerInnen versuchen durch aktivierende Pflege die Kranken in Alltagstätigkeiten zu unterstützen, interessieren sich für deren Lebensgeschichte und legen besonderen Wert auf einen klaren Tagesablauf. Oft gibt es spezielle Räume, in denen die Sinne durch Gerüche, Farben, Musik angesprochen werden. Die Wohnbereiche sind besonders gestaltet, denn es braucht große Bewegungsräume, wo die Menschen ungehindert unterwegs sein können und die sie behutsam vor dem Weglaufen schützen. Es werden aktivierende Angebote gemacht, etwa Beschäftigungstherapie, Krankengymnastik und Kunsttherapie.

Viele Angehörigen sind froh über die Entscheidung für ein Pflegeheim, weil sich die Beziehung zwischen Pflegendem und Gepflegten entspannt und Begegnungen wieder ganz anders möglich sind. „Seit die alltägliche Sorge weg ist, ich wieder schlafen kann, Zeit für mich habe, ist das Verhältnis zu meiner Mutter wieder viel besser. Ich entdecke ganz erstaunliche Seite an ihr, und wir können wieder miteinander lachen.“ So drückt es eine Tochter aus, deren Mutter in ein Pflegeheim gezogen ist.

Bei meinen Besuchen und Gottesdiensten erlebe ich, dass die Begegnung mit demenzkranken Menschen eine bereichernde Erfahrung sein kann. Ähnliches erzählen auch Angehörige. Es ist wie das Eintauchen in eine ganz besondere Welt. Was sonst unseren Alltag bestimmt, ist dort nicht wichtig, im Vordergrund steht die Begegnung. Das sind Momente, in denen Gefühle eine große Rolle spielen. Es wird viel gelacht, aber auch geweint. Begegnungen mit demenzkranken Menschen sind kurze, aber sehr intensive Kontakte.


Für die Arbeit in der Gruppe

Aus drei unterschiedlichen Blickrichtungen beschäftigen sich die vorgeschlagenen Einheiten mit dem Thema Demenz. Die erste Annäherung geschieht durch einen Film, dann geht es um ganz konkrete Begegnungen mit einem an Demenz erkrankten Menschen und im dritten Schritt liegt der Schwerpunkt auf dem Erzählen von Lebensgeschichten.


1 Annäherung
Für die Annäherung an das Thema Demenz ist der Film „Mein Vater“ geeignet. Nach dem Film sollte noch ausreichend Gelegenheit zum Gespräch sein. Hinweise (auch zu weiteren Filmen) siehe S. 80-82.

2 Begegnung
Viele Menschen haben Angst vor dem Umgang mit demenzkranken Menschen, fühlen sich hilflos und meiden den Kontakt. Mit Hilfe einiger Grundregeln aber lässt sich eine Begegnung gestalten.
Für AbonnentInnen sind alle Kopiervorlagen unter www.ahzw.de / Service zum Herunterladen vorbereitet.

Zur Einstimmung kann das Gedicht „Er wurde alt“ von Kurt Marti (siehe Seite 35) verteilt und vorgelesen werden.

Die folgenden Regeln und Anregungen für die Begegnung mit einem demenzkranken Menschen werden in Kopie verteilt und/oder auf ein Plakat geschrieben und miteinander besprochen:

– Verwenden Sie einfache, kurze Sätze.
– Wiederholen Sie wichtige Informationen bei Bedarf.
– Geben Sie dem/der Kranken genügend Zeit für eine Reaktion oder Entgegnung.
– Vermeiden Sie sinnlose Diskussionen.
– Stellen Sie keine prüfenden Fragen wie: „Weißt du, wer ich bin?“
– Demenzkranke erzählen keinen Unsinn – es braucht Geduld, Phantasie und Informationen, um zu begreifen, was sie erzählen.
– Gehen Sie mit, wenn Ihr Gegenüber lieber in Bewegung ist als auf einem Stuhl zu sitzen.
– Berührung ist meistens gut.
– Machen Sie lieber mehrere kurze Besuche als einen langen.
– Erleben Sie etwas miteinander, besuchen Sie zum Beispiel einen Gottesdienst.
– Singen Sie gemeinsam vertraute Lieder oder lesen Sie einen Psalm.
– Überhören Sie Anschuldigungen – oder besser noch: Sprechen Sie das dahinter liegende Gefühl an.

In Kleingruppen mit jeweils drei Frauen wird das folgende Fallbeispiel gelesen und anhand der erarbeitende Regeln und Anregungen besprochen. Wenn in der Gruppe möglich, sollte das Gelernte im Rollenspiel vertieft werden.

Frau M. ist 74 Jahre alt. Sie ist Witwe und hat zwei Kinder, die auch am Ort wohnen. In letzter Zeit hat sie mehrfach nach dem Einkauf nicht mehr nach Hause gefunden. Nachbarn und Nachbarinnen haben ihr geholfen. Als sie vor drei Monaten wieder einmal vergessen hatte, die Herdplatte auszuschalten, und dabei ein Geschirrtuch in Flammen aufgegangen war, hat sie sich kleinere Verbrennungen zugezogen. Ihr Hausarzt hat daraufhin das Gespräch mit ihren Kindern gesucht und ihnen klar gemacht, dass die Mutter nun nicht mehr länger alleine leben kann. Schweren Herzens haben sie die Mutter im örtlichen Pflegeheim angemeldet. Nun lebt Frau M. in einer beschützten Wohngruppe von Demenzkranken.

Heute besucht Frau S., die langjährige Nachbarin, Frau M. zum ersten Mal. Die Frauen kennen sich schon seit vielen Jahren und haben sich immer ganz gut verstanden, besonders die Liebe zu ihren Gärten hat sie verbunden.
Frau S. bringt Blumen aus ihrem Garten mit. Sie hat etwas Angst vor der Begegnung.

Als sie die Wohngruppe betritt, sieht sie Frau M., die im Gang unterwegs ist. Sie geht auf sie zu, doch Frau M. läuft weiter, sie scheint Frau S. nicht mehr zu kennen…


Aufgaben:

– Wie könnte der erste Satz von Frau S. lauten?
– Worüber könnten die beiden miteinander reden?
– Frau M. schimpft über ihre Kinder, die ihr diese Situation eingebrockt haben. Sie empfindet das als Verrat. Wie soll Frau S. reagieren?
– Im Laufe des Gespräches weint Frau M. und berichtet, dass ihr sämtliche Hosen aus ihrem Schrank gestohlen wurden. Was kann Frau S. tun?
– Frau M. hält im Laufe des Besuches Frau S. für ihre Mutter, dann wieder für ihre Schwägerin. Wie kann Frau S. damit umgehen?
– Als Frau S. sich verabschieden will, möchte Frau M. mit ihr gehen. Was jetzt?

Die Eindrücke und Ergebnisse der Kleingruppen werden in der Gesamtgruppe geteilt. Zum Abschluss wird der Segen von Petra Müller (siehe Rückseite dieser ahzw) gesprochen.


3 Lebensgeschichten
Der Vorschlag soll die Frauen ermutigen, Geschichten aus dem eigenen Leben für wertvoll zu erachten.

Vorbereitung: Die Leiterin organisiert Kinderspielzeug aus der Kinderzeit der Teilnehmerinnen.

Zu Beginn der Runde führt die Leiterin kurz ein: „Erzähl mir dein Leben!“ Warum sollten wir die Geschichten unseres Lebens erzählen? Nun – zum einen sind sie für andere interessanter als wir denken, zum anderen brauchen wir sie für uns selbst. Wenn ich Geschichten aus meinem Leben erzähle, spüre ich mich selbst. Das macht mein Leben reich. Ich erkenne mich, kann sagen, was mich ausmacht, wer ich bin. Heute erzählen wir uns Geschichten aus unserer Kindheit…

Die Spielsachen werden in die Mitte gelegt. Jede Frau darf sich ein Spielzeug aussuchen, das sie besonders anspricht. Dann erzählt jede, welche Erinnerungen dieser Gegenstand bei ihr auslöst. Evtl. Kleingruppen bilden, damit alle ausreichend Zeit zum Erzählen haben.

Wahrscheinlich hat die Gruppe Interesse am Erzählen der eigenen Geschichten bekommen. Soll es weitergehen? Dann könnten beim nächsten Mal Fotos mitgebracht werden.


Heidrun Kopp, 47 Jahre, ist Pfarrerin und Diplom-Psychologin. Sie arbeitet seit fünf Jahren auf einer gemeindebezogenen Sonderpfarrstelle für Alten- und Pflegeheimseelsorge in Tübingen.


© Foto S. 74/75: Werner Krüper (www.blickweise.de).
Das Bild zeigt eine demenzkranke Frau im Seniorenzentrum Holle – eine private -Pflegeeinrichtung, die sich auf die Betreuung von Menschen mit Demenz spezialisiert hat. Bei der Gestaltung der Wohnwelt wurden die lebensgeschichtlichen Aspekte der BewohnerInnen berücksichtigt.


Zum Weiterlesen

Herausforderung Demenz, Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen in der Kirchengemeinde – Eine Entscheidungs- und Planungshilfe.
Hg.: Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Altenarbeit in der EKD-EAfA. Bezug: Kirchenamt der EKD, Herrenhäuser Straße 12, 30419 Hannover, E-Mail: eafa@ekd.de. Die Broschüre ist auch für die Bearbeitung in einer Gruppe geeignet.
Monika Specht-Tomann: Erzähl mir dein Leben. Zuhören und Reden in Beratung und Begleitung, Düsseldorf und Zürich (Walter Verlag) 2003
Cyrille Offermans: Warum ich meine demente Mutter belüge, München (Verlag Antje Kunstmann) 2007

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