Ausgabe 2 / 2002 Artikel von Christine Wunschik

Was habe ich schon mit Gewalt zu tun?

Eine Annäherung an ein schwieriges Thema

Von Christine Wunschik

(Auszug)

Das Wort „Gewalt“ leitete sich im Alt- und Mittelhochdeutschen vom Verb „walten“ ab. Walten bedeutet „herrschen“. Dazu ist interessant, dass sich ab dem 15. Jh. „bewältigen“ entwickelte, im Sinne von „mit etwas fertig werden“ – ein für unsere Ohren überhaupt nicht „gewalttätiges“ Wort. „Herrschaft“ wurde ursprünglich von „hehr“ = erhaben, vornehm abgeleitet. Erst später kam der Einfluss von „Herr“ hinzu, so dass aus der Erhabenheit Recht und Besitztum eines Herrn wurde. Macht und Gewalt kommen sich sehr nahe bei der Ableitung „gewaltig“ = mächtig, außerordentlich, groß oder stark. Im Lexikon finden wir Gewalt im Blick auf Gewalttaten – also negativ besetzt und in vielen Zusammenhängen wie Gewaltverbrechen (Mord, Totschlag, Vergewaltigung)/-bereitschaft/-herrschaft/-maßnahme/-samkeit/-akt/-anwendung. Anders ist es, wenn wir das Wort „gewaltig“ verwenden. Da fallen uns die gewaltige Bergwelt ein, die gewaltigen Wassermassen großer Flüsse oder Wasserfälle – also Beeindruckendes, Großes, Starkes sozusagen wertfrei. In der Demokratie ist der Begriff „Gewaltenteilung“ positiv besetzt: um zu verhindern, dass sich alle Gewalt in einer Hand konzentriert, werden Gesetzgebung (Legislative), die Ausführung der Gesetze (Exekutive) und die Rechtsprechung (Legislative) strikt voneinander getrennt.

Wenden wir uns der „Macht“ zu. Das Wort leitet sich aus dem Altgermanischen ab und bedeutet „können“, „vermögen“. Es ist übrigens in den Namen „Mechthild(e)“ und „Mathilde“ enthalten. Heutzutage hat „Macht“ die Bedeutung von „Einfluss, Autorität, Möglichkeiten haben“. Sie ist die Summe von Mitteln und Fähigkeiten, die man/frau hat, um eigene Absichten durchzusetzen. Die Definition des Soziologen Max Weber fasst Macht zusammen als „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht“. Andere Worte zeigen auf, wie schwierig es für Menschen ist keine Macht zu haben bzw. nicht darum zu wissen, dass sie eigentlich Macht haben: Machtlosigkeit ist Kraftlosigkeit, Unfähigkeit. Wenn ich mich machtlos fühle, bin ich ohnmächtig, ratlos. Wenn ich meiner Sinne oder meiner selbst nicht mehr mächtig bin, dann habe ich nicht mehr vollständige Entscheidungsfähigkeiten oder -möglichkeiten. Wenn wir Leute um Hilfe bitten, und sie uns versprechen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, dann gehen wir davon aus, dass das etwas Positives ist, was ohne Gewalttaten vor sich geht. Diese Macht tut uns gut, ist vielleicht lebensnotwendig. Wenn wir mit Kindern leben oder auch in Ehen, gibt es Machtkämpfe. Dabei geht es zunächst einmal nicht um Gewalt, sondern darum, wer in diesem Moment den größten Einfluss hat.

Eine in der Diskussion der letzten Jahre für viele wichtig gewordene Sichtweise hat Hannah Arendt, die große deutsche Philosophin jüdischen Glaubens. Ihr kommt es darauf an, Macht und Gewalt zu unterscheiden. Gewalt, so Hannah Arendt, ist von den ihr zur Verfügung stehenden Werkzeugen abhängig, ist ohne Gewaltmittel nicht möglich. Was hingegen „den Institutionen und Gesetzen eines Landes Macht verleiht, ist die Unterstützung des Volkes… Alle politischen Institutionen … erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt.“[1] Die Macht „entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein einzelner, sie ist im Besitz einer Gruppe… . Wenn wir von jemandem sagen, er ‚habe die Macht', heißt das in Wirklichkeit, dass er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln.“[2] Auch wenn Macht und Gewalt nur selten in ihrer reinen Form auftreten, ist es wichtig, die Unterschiede zu kennen und zu benennen – zum Beispiel, um den legitimen Einsatz staatlicher „Gewalt“ von einem willkürlichen, auf keinem Konsens beruhenden Einsatz von Gewalt zu unterscheiden.

Eine letzte, für das Verständnis (und die Überwindung) von Gewalt wichtige Unterscheidung: Mit „Gewalt“ bezeichnen wir es in der Regel, wenn das Opfer durch einen erkennbaren Täter direkt physisch oder psychisch angegriffen wird. Trotzdem würde niemand von uns annehmen, dass eine Situation, in der diese Formen der Gewalt fehlen, schon zu Recht als „friedlich“ zu bezeichnen wäre. Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung hat daher bereits 1969 einen erweiterten Gewaltbegriff vorgeschlagen: „Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische (=körperliche) und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.“[3] Ein Beispiel: Wenn jemand im 17. Jh. an Tuberkulose starb, hätte natürlich niemand das als „Gewalt“ definieren können, weil zu dem Zeitpunkt der Tuberkelbazillus noch nicht entdeckt und Tuberkulose daher nicht heilbar war. Wenn aber heute immer noch viele Menschen an Tuberkulose sterben, dann ist das sehr wohl eine gewaltsame Verhinderung von Leben, weil es überwiegend daran liegt, dass die vorhandenen medizinischen Möglichkeiten ungerecht verteilt sind. Hier erleben Menschen die Anwendung von Gewalt, ohne dass jemand auszumachen wäre, der direkt gewaltsam handelt. Dies bezeichnet Galtung als „strukturelle Gewalt“. Diese Gewalt „ist in das System eingebaut und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen und folglich ungleichen Lebenschancen.“[4] Das heißt: Überall dort, wo Einkommen, Bildungschancen, materielle Mittel, Macht usw. ungleich verteilt sind, herrscht soziale Ungerechtigkeit oder besser: Gewalt. Dass diese Definition sehr umstritten war und ist, liegt auf der Hand. Natürlich gibt es Formen von Gewalt, die nach dem Grad ihrer „Schwere“ unterschiedlich zu bewerten sind – alles andere wäre weder realistisch noch gerecht. Andererseits ist die Definition sehr hilfreich, um Gewalt auch dann als solche zu erkennen, wenn sie sich nicht an konkreten handelnden Personen festmachen lässt. Frauen und Macht

 

Frauen und Macht

 

Das ist für viele von uns, besonders für die „Kirchenfrauen“, ein ganz schwieriges Thema. Fest steht: Wir alle haben Macht, mehr oder weniger: in der Familie, in Partnerschaften, bei der Arbeit, in Gremien, durch ehrenamtliche Tätigkeit. Wichtig ist, wie Macht gebraucht wird. Frauen tun sich oft schwer, Macht als etwas Positives anzusehen, die Macht, die sie haben, bewusst zu gebrauchen – und vertun dadurch nicht zuletzt oft auch die Chance, der Gewalt „mächtig“ entgegenzutreten. „So sehr wir auch stöhnen, es stimmt leider immer noch: in Politik, Kirche, Wirtschaft und was es an wichtigen gesellschaftlichen Institutionen noch gibt, die Macht der Männer ist ungebrochen. … Und je mehr Einfluss und Macht Männer haben, um so attraktiver sind sie oft nach gängiger Meinung. Bei Frauen ist das immer noch umgekehrt. Je erfolgreicher eine Frau ist, um so mehr zweifelt man an ihrer Weiblichkeit. Macht zu haben bedeutet für Frauen immer noch, einen Verlust zu riskieren. … Sie lässt ihn zappeln, bis er ihr aus der Hand frisst, sie verweigert sich ihm, bis er nachgibt. Solche Beispiele werden gern zitiert, um zu beweisen, das die ‚eigentliche' Macht doch sowieso bei den Frauen liege. Aber der Preis für diese Art von Macht ist hoch. Zum Beispiel lebenslange Angst, dass er eine andere findet und sie ihre Macht verliert. Und vor allem ein lebenslanger Verzicht auf eine eigene Sexualität, eine, die spontan, ohne Kalkül, zur eigenen Lust da ist.“[5]

Die Dekade zur Überwindung von Gewalt ist eine Chance. In der EKD-Studie über Gewalt gegen Frauen wird die Gottebenbildlichkeit von Männern und Frauen als mit Gewalt unvereinbar bezeichnet. Jesus hat Schwache – also auch Menschen, die in Gefahr waren, Opfer zu werden – besonders beschützt. Ich verstehe das Neue Testament so, dass ich zur mündigen Frau befreit bin, und dass von mir erwartet wird, dass ich an meinem Platz Verantwortung und damit Macht übernehme.

[1] Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 101995, S. 42
[2] ebd., S. 45
[3] Johan Galtung, Gewalt, Frieden und Friedensforschung, in: Ders., Strukturelle Gewalt, Hamburg 1975, S. 9
[4] ebd., S. 12
[5] „Frauenmacht!“ Broschüre der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 1994

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