Alle Ausgaben / 2017 Material von Ivan Illich

Wasser ist gleich ungleich H2O

Von Ivan Illich

Wasser haben eine Geschichte. Das Wasser, mit dem man Tote wusch, um ihnen den Übergang ins Jenseits zu erleichtern und eine Verbleiben im Diesseits zu versperren, ist eine andere Art von Nässe als das Wasser, das im fürstlichen Garten von Kassel-Wilhelmshöhe repräsentativ zu Tal plätschert und rauscht. Beide Wasser sind … unvergleichbar dem, was als H2O bezeichnet und industriell hergestellt wird.
Wasser kann manchmal in ein und derselben Zeremonie sowohl reinigen als auch säubern. Am deutlichsten wird dies bei der Waschung der Toten. Diese Sitte ist bis zurück zu Homer belegbar, und sie ist bis weit ins 20. Jahrhundert – von Marokko, bis zum Ural ein allgemeines Kennzeichen christlicher, jüdischer und moslemischer Beisetzungsrituale geblieben. Die Kirche hat die Totenwaschung in den Rang eines Werkes der Barmherzigkeit erhoben. Ignatius von Loyola erlegte sie seinen Novizen auf, ehe er ihr Gelübde als Jesuiten abnahm.
Jenseits solchen männlichen Heroismus waren es aber vorwiegend alte Frauen, Witwen und Hexen, die diese Handlung ausführten. Und oft waren es dieselben, die auch die Neugeborenen wuschen. Beides – das Waschen der Neugeborenen und das der Toten – ist auf eine Weise mit Gefahren verbunden, mit denen nach der Tradition Frauen besser umgehen können als Männer. Bevor die jüdische Frau mit der Waschung beginnt, legt sie ein Tuch über das Gesicht der Toten; die Russin verbeugt sich tief und bittet den Toten, ihr das Entblößen seiner sterblichen Überreste zu verzeihen. Die Zeremonie wird vor allem in der Absicht ausgeführt, die Leiche der ihr anhaftenden Aura zu entkleiden, einer Aura, die nicht mit den Toten ins Grab gelangen soll.
Es wird aus diesem Grund große Sorgfalt darauf verwandt, das Wasser danach so wegzuschütten, dass die Leiche diese Aura nicht wieder zusammensammeln kann. Nur Körper, die so gewaschen werden, bleiben ihrer Umgebung nicht verhaftet. Sie werden nicht Gefangene dieser Welt bleiben, sie können die noch Lebenden nicht mehr verfolgen. Was für den toten Mann oder die tote Frau „Waschung“, „Erlösung“ oder Befreiung von beschwerlichem Dreck und Schmutz ist, ist für die Lebenden eine Reinigung ihres Wohn-Raumes, den der Tod befleckt hatte.

aus:
H2O und die Wasser des Vergessens
© 1987 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg,
S.7 und S.54-55

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