Ausgabe 1 / 2012 von Antje Heider-Rottwilm

Wegweiter der ökumenischen Reise

Die Charta Oecumenica – Beitrag der Kirchen zur europäischen Einigung

Von Antje Heider-Rottwilm

Ostermontag 2001. Gemeinsam begehen hundert Kirchenleitende und hundert Jugendliche in Straßburg die Unterzeichnung der Charta Oecumenica – Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den -Kirchen in Europa. Dem vorange-gangen war ein spannender Prozess vom Beschluss der 2. Ökumenischen Versammlung in Graz 1997 bis hin zu diesem Tag, an dem sie alle mit der Charta im Gepäck zurück in ihre Kirchen fuhren, um das, was da sorgfältig und voller Hoffnung formuliert war, nun mit Leben zu erfüllen.

Die Charta Oecumenica wurde verfasst von der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) und dem römisch-katholischen Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE), in deren Zusammenarbeit auch die großen Ökumenischen Versammlungen in Basel (1989), Graz (1997) und Sibiu/Hermannstadt (2007) durchgeführt wurden. In der KEK sind 127 anglikanische, reformatorische, orthodoxe und altkatholische Kirchen aus allen europäischen Ländern zusammengeschlossen. Sie hat den theologischen Dialog und die Gemeinschaft über politische Gräben hinweg aufgebaut, gerade auch zu den Kirchen in den Ländern jenseits des früheren Eisernen Vorhangs und der heutigen EU-Außengrenzen.

Die Kommission Kirche und Gesellschaft (CSC) der KEK bringt die Positionen der Kirchen in den Dialog mit dem Europarat und den Gremien der EU ein. Das Pendant auf katholischer Seite ist die Kommission europäischer Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE). In der Charta heißt es: Wir verpflichten uns, uns über Inhalte und Ziele unserer sozialen Verantwortung miteinander zu verständigen und die Anliegen und Visionen der Kirchen gegenüber den säkularen europäischen Institutionen möglichst gemeinsam zu vertreten. (III.7) Wollen die Kirchen in Brüssel und Straßburg gehört werden, können sie das nur gemeinsam tun.

Die Charta war der rote Faden für die EÖV3, die die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen dokumentieren und voranbringen sollte, nach Basel und Graz nun in einem Land, das von der Orthodoxie geprägt ist und im früheren Ostblock liegt. In seiner Eröffnungspredigt betonte der Ökumenische Patriarch Bartholomaios I. die Bedeutung der Charta Oecumenica als „Beweis für den starken Willen aller europäischer Kirchen zur Fortsetzung, Steigerung und Verstärkung ihrer Zusammenarbeit zur Erneuerung Europas“. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso sagte: „Die Europäische Kommission hat dem Engagement der christlichen Kirchen und vor allem der KEK, die das große Abenteuer des Aufbaus Europas von Anfang an begleitet und ermutigt hat, immer große Aufmerksamkeit geschenkt. … Der Beitrag der Kirchen zum europäischen Einigungsprozess ist umso relevanter, wenn er im ökumenischen Geist geschieht.“(1) Die Schlussbotschaft der EÖV3 empfiehlt „die Weiterentwicklung der Charta Oecumenica als … Wegweiser auf unserer ökumenischen Reise in Europa“.

Blitzlicher der Umsetzung

Die Charta Oecumenica zeigt Wirkung. Die lutherische Kirche Dänemarks hat sich zu eingehender Beschäftigung mit der Charta verpflichtet. In Italien hat es große Konferenzen gegeben mit mehr als 300 Ökumene-Delegierten der röm.-kath. Diözesen. In Bosnien-Herzegowina hat der Rat für Ökumene der römisch-katholischen Bischofskonferenz an einen Runden Tisch zum Gespräch über die Charta mit den orthodoxen Bischöfen eingeladen. Ein Austausch zwischen den orthodoxen und katholischen Seminaren wurde verabredet. In Albanien fand eine Konferenz zur Rezeption der Charta mit mehr als 100 Menschen statt – unter Beteiligung der orthodoxen Kirche, der anglikanischen Kirche und der evangelischen Allianz. Das rumänische Patriarchat hat die Charta in alle Bistümer und Gemeinden geschickt und gebeten, sie zu beraten und die Ergebnisse dem Patriarchat mit-zuteilen. Berichte aus England, Holland, Finnland, Frankreich, Italien und der Schweiz spiegeln, dass die Charta selbst dort, wo man meinte, gute ökumenische Beziehungen zu leben, auf kritische Punkte aufmerksam macht und wichtige Anstöße gibt.

Fazit: Es gab europaweit Aktionen, Projekte, Dialogprozesse – in Kirchen, Orden, Gemeinden, Schulen und Akademien. Die Charta ist Bezugspunkt in vielen ökumenischen Texten und Veröffentlichungen. Es gab Veranstaltungen, Vernetzungen, liturgische Anregungen, Gottesdienste, Unterzeichnungen der Charta auf regionaler und nationaler Ebene, durch Landes-kirchen und Diözesen, durch nationale Kirchenräte in ganz Europa.

Zehn Jahre danach

In der Charta Oecumenica geht es um wachsende Zusammenarbeit, um die Fortsetzung eines Weges, auf den wir uns längst und unwiderruflich in der ökumenischen Bewegung gemacht haben. Aber ohne die Charta wäre manches nicht passiert. Sie bildet einen Bezugsrahmen, man kann sie immer im Bewusstsein oder gar in der Tasche haben, wenn es darum geht, die eigene Gruppe, Gemeinde, Kirche zu drängen und zu fragen: Was hindert uns denn, gerufen zur Einheit und im Wissen um die Kraft des Heiligen Geistes, auf allen Ebenen kirchlichen Lebens gemeinsam zu handeln, wo Voraussetzungen dafür gegeben sind und nicht Gründe des Glaubens oder größere Zweckmäßigkeit dem entgegenstehen (II, 4)? Erfahrungen auf nationaler, auf europäischer und auf lokaler Ebene aus dem Jahr 2011, in denen die Charta Oecumenica Referenzrahmen für das Reden und Handeln ist, bestätigen: Nichts – wir müssen es nur tun.

Einheit der Kirchen in Vielfalt
Mit etwa 1000 Frauen haben wir auf dem Kirchentag in Dresden den Ökumenischen Frauengottesdienst des Christinnenrates gefeiert. „Viele Menschen in den Gemeinden, in den konfessionsverbindenden Ehen, in den Kirchengremien, in den ökumenischen Netzen leben die Verbundenheit im Glauben und ringen tagtäglich darum, dass deutlich wird, was uns verbindet“, haben wir uns in der Dialogpredigt vergegenwärtigt. „Sie erleben: darauf kommt es an, nicht auf das, was uns trennt. Lasst uns das Trennende doch verstehen als Ausdruck unserer unterschiedlichen Traditionen und kulturellen Prägungen – und damit als Zeichen der menschlichen Vielfalt, die bereichert. Und lasst uns zusammen tun, wozu Christus uns berufen hat: das Mahl, in dem er für uns alle gegenwärtig ist, miteinander feiern!“

So haben wir gepredigt. Und erinnert, dass wir/unsere Kirchen in der Charta unterzeichnet haben: Wir verpflichten uns, in der Kraft des Heiligen Geistes auf die sichtbare Einheit der Kirche Jesu Christi in dem einen Glauben hinzuwirken, die ihren Ausdruck in der gegenseitig anerkannten Taufe und in der eucharistischen Gemeinschaft findet sowie im gemeinsamen Zeugnis und Dienst. (I.1) Und wir haben die gemeinsame Liturgie des Abendmahles gefeiert – um den leeren Abendmahlstisch herum. Haben der Trauer Ausdruck verliehen, kein gemeinsames Abendmahl feiern zu können. Gemeinsames Gebet und die gemeinsame Sammlung um den leeren Tisch würden, so Aurica Nutt, meine katholische Mitpredigerin, zum Symbol für das Drama der Trennung – und hätten doch verbindende Kraft: die Kraft der Sehnsucht nach der gemeinsamen Eucharistie.(2)

Gewaltfreiheit
Parallel zu der Internationalen Konvokation zum Ende der Dekade zur Überwindung der Gewalt in Kingston/Jamaika haben wir, die europäische Konferenz von Church and Peace, dem Netz der Friedenskirchen und Friedensgemeinschaften, getagt – Menschen aus 16 Ländern, von Serbien bis zu den Niederlanden, von der Tschechischen Republik bis Italien, die sich durch das Evangelium zur Gewaltfreiheit verpflichtet fühlen.

Wir haben nach Kingston geschrieben: „Die europäischen Kirchen haben sich 2001 in Straßburg verpflichtet: Wir engagieren uns für eine Friedensordnung auf der Grundlage gewaltfreier Konfliktlösungen. Wir verurteilen jede Form von Gewalt gegen Menschen, besonders gegen Frauen und Kinder. Wir bestätigen erneut dieses Bekenntnis zur Gewaltfreiheit und plädieren folglich dafür, das Konzept der Schutzpflicht zu überdenken. Wir sind beunruhigt angesichts des Aufrufs, bedrohte Völker mit militärischer oder polizeilicher Gewalt zu schützen. Selbst wenn militärische Gewalt nur als ‚ultima ratio' bereit gehalten wird, beeinflusst dies die Planung der zivilen Aktionen in den früheren Phasen des Konflikts … Auch in aussichtslos erscheinenden Situationen, in denen angesichts vorherrschender Gewalt der menschlich nachvollziehbare Hilferuf nach wirksamer Gegengewalt bei den Betroffenen und bei uns selbst laut wird, beharren wir auf gewaltlosen Mitteln gegenüber jedem Menschen – Mittel, die uns in der Nachfolge Jesu in reichem Maß zur Verfügung stehen.“(3)

Gemeinsames Glaubenszeugnis
HafenCity heißt der neue Stadtteil, den die Freie und Hansestadt Hamburg in einem ehemaligen Hafengebiet mitten in der Innenstadt baut. In einem der größten Stadtentwicklungsprojekte Europas entstehen hier 5.500 Wohnungen für 12.000 EinwohnerInnen, dazu Büros für mehr als 40.000 Menschen sowie Gastronomie, Kultur- und Freizeitangebote, Einzelhandelsflächen, Parks, Plätze und Promenaden.

2002 gründeten 17 Kirchen den Verein die „Brücke – Ökumenisches Forum HafenCity“. Sie wollten die Vision eines gemeinsamen christlichen Zeugnisses im Sinne der Charta entwickeln: Die wichtigste Aufgabe der Kirchen in Europa ist es, gemeinsam das Evangelium durch Wort und Tat für das Heil aller Menschen zu verkündigen. Angesichts vielfältiger Orientierungslosigkeit, der Entfremdung von christlichen Werten, aber auch mannigfacher Suche nach Sinn sind die Christinnen und Christen besonders herausgefordert, ihren Glauben zu bezeugen. (II.2)

Man entschied sich für ein Bauprojekt mitten in der HafenCity, das in dem innovativen Umfeld einen erkennbaren geistlichen Akzent setzen soll. Als ökumenisch erfahrene Kommunität soll eine neu sich bildende Gruppe des Laurentiuskonvents das Projekt mit geistlichem Leben und Gastfreundschaft erfüllen. Seit 2008 gibt es eine kleine provisorische Kapelle, seit diesem Jahr das WeltCafé Kleine ElbFaire. Und im Frühsommer 2012 wird das Ökumenische Forum eingeweiht, das mit seiner ökumenischen Kapelle, der „großen“ ElbFaire, dem Laurentiuskonvent und einem ökumenischen, Generationen übergreifenden Wohnprojekt ein Ort werden soll, um gemeinsam das Evangelium durch Wort und Tat für das Heil aller Menschen zu verkündigen.

Antje Heider-Rottwilm, 62 Jahre, war Pastorin der Evangelischen Kirche von Westfalen. 1997 bis 2008 hat die Oberkirchenrätin die Europa-Abteilung
der EKD geleitet. Seit 2008 lebt und arbeitet sie als Mitglied des Laurentiuskonventes für die „Brücke – Ökumenisches Forum HafenCity“ in Hamburg.
mehr unter: www.oekumenisches-forum-hafencity.de

Anmerkungen:
1 epd-Dokumentation Nr.41-42, Dritte Europäische Ökumenische Versammlung „Das Licht Christi scheint auf alle. Hoffnung für Erneuerung und Einheit in Europa“, Ffm (GEP), 2. Oktober 2007, S.53f
2 http://www.christinnenrat.de/download/Predigt_FrauengottesdienstDresden 2011.pdf
3 http://www.church-and-peace.org/fileadmin/downloads/Erklärungen/Konferenzen/2011/Botschaft IÖFK.pdf

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