Ausgabe 1 / 2021 Frauen in Bewegung von Bettina Röder

Weil das Leben zerbrechlich und so kostbar ist

Von Bettina Röder

Alles begann mit der Urgroßmutter in ihrem ostfriesischen Heimatdorf Möhlenwarf. Im März wird die 50jährige Theologin Dagmar Pruin Präsidentin der Aktion Brot für die Welt/Diakonie Katastrophenhilfe. Was sie antreibt und woher sie kommt.


Es gibt diese Kindertage, die man im Leben nicht vergisst. Für Dagmar Pruin gehören die Stunden mit der Urgroßmutter dazu. Die versammelte ihre Großfamilie jeden Morgen um 11 Uhr im ostfriesischen Dorf Möhlenwarf zum Teetrinken um sich. Eine kleine Frau, immer schwarz gekleidet und in jungen Jahren Magd bei einem der reichen Bauern in Rheiderland nahe der niederländischen Grenze. Vielleicht ging darum so ein geheimnisvolles Selbstbewusstsein, eine Lebensklugheit von ihr aus. Sie war die Matriarchin, unangefochten in der Familie – und von allen geliebt.

Damals, in den 1970er Jahren, hörte das blonde Mädchen gern zu, wenn die Urgroßmutter Geschichten aus der Familie erzählte. Auf Platt, versteht sich. Die noch nicht Zehnjährige hat versucht, das nachzueifern. Doch es war auch klar: Es ging, wie so oft im Leben, längst nicht alles glatt. Vier ihrer sechs Kinder hatte die Urgroßmutter früh verloren. So habe sie, sagt Dagmar Pruin heute, schon als Kind erfahren, dass das Leben „groß und bunt, aber auch verletzbar und darum so kostbar ist“.

Es hat ihr gut gefallen, Teil der bewegten Familiengeschichte und darin aufgehoben zu sein, hat sie früh geprägt: „Dass ich nicht aus der Luft komme und auch nicht in der Luft hänge“, sagt sie und lässt den Blick aus dem Berliner Kiezladen, wo wir uns getroffen haben, nach draußen schweifen. Der erste Schnee ist gefallen.

Anfang März übernimmt die heute 50-jährige Theologin die Leitung der Aktion Brot für die Welt und Diakonie Katastrophenhilfe. Verantwortlich für 550 Mitarbeiter*innen des weltweiten Entwicklungswerks, das in mehr als 90 Ländern aktiv ist. Was treibt sie, die heute selbst Mutter eines Zehnjährigen und einer Fünfzehnjährigen ist, an? Woher kommt sie, was bewegt die blonde Frau, deren Lebensweg vom ostfriesischen Heimatdorf Möhlenwarf nach Israel, Palästina, Südafrika und in die USA führte? Da fällt zunächst auf, dass sie der jüdischchristliche Dialog nicht losgelassen hat. Dagmar Pruin hat sich nach vorn gebeugt, die Hände scheinen zu sprechen. „Auch hierzu gibt es wieder eine Geschichte zu den Wurzeln, woher wir kommen, was uns geprägt hat“, sagt sie. Damals war sie 17, stand kurz vor dem Abitur. Fast zeitgleich hielt Richard von Weizsäcker vor dem Deutschen Bundestag seine denkwürdige Rede, in der er die Deutschen nachdrücklich dazu aufgeforderte, ihre Geschichte anzunehmen.

Sicher davon bewegt rief der damalige Bürgermeister der Stadt Weener, zu der ihr Heimatort gehört, in der örtlichen Zeitung zu einer Aktion auf – nicht ahnend, welche Folgen das haben würde. Zur 50. Jährung der Reichspogromnacht 1988 lud er den Ort ein, mit ihm darüber zu diskutieren, wie Gedenken aussehen könnte. Die Bürger*innen von Weener haben sich gewünscht, dass ihre ehemaligen jüdischen Nachbarn, die zur Flucht gezwungen verstreut auf der Welt leben, noch einmal in ihre Heimat zurückkehren.

Unterstützt von ihrer politisch wachen Mutter, ließ die angehende Abiturientin die Idee nicht los, dass diese Menschen zusammenkommen, ihre Schicksale erzählen. Mit gut 20 Mitstreiter*innen begab sie sich auf die Suche und nach einem Jahr war es so weit: Über 30 Juden* aus Weener, die nach ihrer Flucht nie wieder im Rheiderland waren, kamen mit ihren Familien. Viele hatten sich in den Niederlanden versteckt, waren in die USA geflohen oder hatten in Argentinien eine neue Heimat aufgebaut.

„Das war unglaublich berührend“, erinnert sich Dagmar Pruin an diese Begegnungswoche. „Das Wiedersehen, die Rückkehr in die Stadt, aus der sie geflohen waren, ist ihnen nicht leichtgefallen“, sagt sie. Viele Verbindungen seien damals entstanden, was Dagmar Pruin bis heute sehr freut. „Es gibt nicht viel Vergleichbares“, sagt sie.

Nicht losgelassen hat sie aber vor allem die Erkenntnis, dass man Dinge „einfach tun kann“ und durch Engagement diese Welt ein Stück friedlicher machen.

Dann war da noch die Kirchengemeinde, in der ihre Eltern aktiv waren und die für diese ein wichtiger Bildungsort war. Die Eltern kamen aus einfachen Familien. An ein Studium war da nicht zu denken. Dagmar Pruins Mutter arbeitete beim Finanzamt, der Vater bei der Telekom und in der Kirche fanden sie alle einen Ort für ihr politisches Engagement.

Als Schülerin in den 80ern gehörten zu den Diskussionen in der Gemeinde das Wettrüsten des Kalten Krieges und die atomare Hochrüstung, gegen die immer mehr Menschen protestierten. „Kirche“, sagt sie, „war für mich natürlich ein Ort der Innerlichkeit, aber auch der tieferen Reflexion der gesellschaftlichen und politischen Ereignisse.“ Da sei es dann nur noch ein kleiner Schritt zum Theologiestudium gewesen. Und sie sei jemand, der „unglaublich gern“ Texte auslegt und mit Freude Hebräisch gelernt hat. „Vielleicht gerade, weil ich aus einer Familie komme, wo das alles nicht so alltäglich ist.“

1990 begann sie in Hamburg ihr Studium, drei Jahre später studierte sie an der Hebräischen Universität in Jerusalem jüdische Auslegung der Bibel, jüdische Rechtsauslegung und jüdische Philosophie.

Dabei ging es der damals 23jährigen beim Verstehen der Texte um die eigene Religion, den „Verdacht gegen die eigene Tradition.“

Wie kann es sein, dass der Nationalsozialismus von christlicher Seite eher gestützt als bekämpft wurde? Die Aktualität leide ja darunter, „dass es zu wenig den Verdacht gegen sich selbst gibt und zu viel Sicherheit“, sagt sie. „Dass wir immer bestimmte Bilder von Menschen im Kopf haben, die uns normalerweise nie begegnen: auch jüdische Menschen zum Beispiel.“

Sie erlebte in Jerusalem hautnah den damaligen Friedensprozess, der schon bald ein Ende haben sollte. Unter Ministerpräsident Jitzchak Rabin und Außenminister Shimon Peres hatte es 1993 die ersten Gespräche mit der PLO gegeben. Bilder von Rabin und PLO-Chef Yasser Arafat, die sich die Hand reichen, gingen um die Welt. Frieden schien greifbar nah und war doch so weit weg. 1995, als Jizchak Rabin auf einer großen Friedenskundgebung in Tel Aviv von einem jüdischen Extremisten erschossen wurde, war von Verständigung keine Spur mehr. „Das war dort gar nicht so eine hoffnungsfrohe Zeit, weil die Menschen da im Blick auf den Friedensprozess viel realistischer waren als wir hier“, sagt Dagmar Pruin, die damals in Palästina war.

Im gleichen Jahr wechselte sie an die Berliner Humboldt-Universität. Auch dort gab es Spannungen, allerdings bei weitem nicht vergleichbar mit dem Nahen Osten und doch für so viele so existenziell. Es ging um die Verständigung der Menschen zwischen Ost und West; sechs Jahre nach dem Fall der Mauer. Ein Ereignis, das die Welt in Atem gehalten hatte. Auch die theologischen Ausbildungsstätten in Ost- und West-Berlin sind damals zusammengelegt worden. An der Humboldt-Universität oder auch das Sprachenkonvikt im Ostteil mit der Theologischen Hochschule im Westteil Berlins. „Doch so wirklich kamen die nicht zusammen“, erinnert sich Dagmar Pruin. Der Diskurs über die Erfahrungen aus DDR-Zeiten und der Rolle der Kirchen blieb aus. „Eine vergebene Chance“, davon ist sie überzeugt. „Von einer Kirche ohne Macht und Privilegien, wie sie ja in der DDR war, hätten wir im Westen gut für die Zukunft lernen können.“

Promoviert hat sie dann ausgerechnet über Isebel, eine der machtvollsten und boshaftesten Frauen des Ersten Testaments. Eine Fremde, die mit dem schwachen israelischen König Ahab verheiratet war. Eine intelligente, skrupellose Person. Warum aber gerade über sie? Es sollte eine Frau sein, sagt sie. Und fügt ironisch hinzu: „Aber über die netten Frauen war ja schon so viel geschrieben worden.“ An Isebel hatte sich keiner getraut, das hat sie gereizt. Sie lacht, dann wird sie ernst. Es ging ihr, sagt sie, auch um die Frage: Kann man Geschichte rekonstruieren? Sie hatte von Anfang an den Verdacht, dass Geschichte nicht so einfach ist – schon gar nicht in Schwarz-Weiß-Manier, in der Isebel nach zahlreichen Untaten aus dem Fenster geworfen und von den Pferden zertrampelt wird.

„Die böse Frau weg und alles ist gut.“ Sie schüttelt den Kopf.
„So einfach ist das eben nicht.“

Bei ihren Forschungen stieß sie darauf, dass es über Isebel Texte aus dem 5., aber auch aus dem 9. Jahrhundert gab. „Das spannende war, sie wird immer böser und machtvoller.“ Immer mehr wird auf Isebel die ausländische Frau projiziert, sie kommt ja nicht aus Israel. Darin liegt für Dagmar Pruin die Aktualität und wieder die Frage, warum wir gern und schnell etwas auf uns Fremde übertragen. Uns selbst dabei gar nicht in Frage stellen. Das lenkt zurück zu ihrer Überzeugung, dass Kritik und Verdacht gegen sich selbst so wichtig sind. Aber auch, dass es so etwas wie eine historische Wahrheit gibt um die aus verschiedenen Perspektiven gestritten werden muss: „Weil es nicht egal ist, was passiert ist oder passieren wird.“

Bis 2006 ist sie an der Humboldt-Universität in Berlin wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Altes Testament und Geschichte Israels. Wieder reist sie dorthin, auch nach Jordanien und Ägypten, unterrichtet in den USA. Als sie die Promotion 2004 abschließt, ist sie Gastdozentin an der Universität Stellenbosch in Südafrika. Schier atemlos liest sich die Reihe der Aktivitäten. Darunter auch die Gründung des Forschungsbereichs Religion und Politik an der heimischen Universität. Die Frau im schwarzen Pullover macht eine Pause, denkt wie so oft in unserem Gespräch nach, bevor sie weiterspricht. Sie habe gern unterrichtet und gern geforscht. Doch sollte das alles gewesen sein?

2005 gibt es wieder einen Einschnitt in ihrem Leben, ihre Tochter wird geboren. „Schlagartig habe ich gemerkt, als sie auf der Welt war, dass ich auch wieder mehr in der Welt sein möchte.“ Ein paar Monate in Washington mit Mann und Kind folgen und dann gab es überraschend eine Neuausschreibung für ein deutsch-amerikanisch-jüdisches Begegnungsprojekt. Es war klar, das bringt alles zusammen: den theologischen Hintergrund, die Israel-Erfahrungen, die transatlantischen Bindungen, das Judentum.

Gerade jetzt müssten wir „zusammen schauen, wie wir diese Welt auf Kurs halten.“

Gemeinsam mit Hermann Simon von der Stiftung Neue Synagoge Berlin, Centrum Judaicum, schreibt sie ein Konzept und bekommt den Zuschlag. Sie wird Gründungschefin von „Germany Close Up“ – einem Besuchsprogramm, das seit seinem Bestehen 2007 mehr als 2700 junge US-amerikanische Bürger*innen mit jüdischen Wurzeln nach Deutschland brachte, um sich ein Bild vom modernen Deutschland zu machen: Im Blick auf die Politik und Gesellschaft, aber auch auf das jüdische Leben hier. Und da ist es wieder, was die 18-Jährige Dagmar Pruin in dem kleinen ostfriesischen Ort so geprägt hat: Die Begegnung als Schlüssel auf dem nie endenden Weg in eine friedliche Welt. Als das Begegnungsprogramm gut läuft, geht sie zu Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste und wird eine der beiden Geschäftsführerinnen. Im Mittelpunkt stehen für sie nun die Friedenseinsätze von Jugendlichen in über 30 Ländern.

Wir sind am Ende unseres Gespräches. Von der Norddeutschen geht geheimnisvolle Ruhe aus, von Kühle keine Spur. Dann kommt sie auf Corona zu sprechen. „Gerade jetzt stellen wir fest, wie vernetzt die Welt ist. Ich glaube, dass Brot für die Welt/Diakonie Katastrophenhilfe da eine wichtige und gute Rolle spielen kann, die Dinge zusammenzubringen. Und natürlich, dieses Arbeiten in der Ökumene ist für mich auch ein eigenes Infragestellen. Auch unseres Fortschrittglaubens.“

Auch da könne ihre Organisation eine wichtige Rolle spielen. Oft hat sie innegehalten, sich korrigiert. „Warten Sie, so stimmt das eher“, sagt sie. Aber wäre es in ihrer künftigen Aufgabe bei „Brot für die Welt“ nicht wichtig, sich möglichst nicht in Frage zu stellen?

Die Antwort gibt ihre Vorgängerin Cornelia Füllkrug-Weitzel: Die Arbeit in dem großen Haus habe sie vor allem demütig und dankbar gemacht, sagt sie, wie viele Menschen in aller Welt unter unsäglichen Bedingungen für ein besseres Leben streiten. Ihre Berichte aus den inspirierenden Begegnungen durch „Brot für die Welt“ könnten Bände füllen und uns so viel lehren. Nicht immer sind es ganz große Geschichten. So, wie für Dagmar Pruin alles in dem kleinen ostfriesischen Dorf Möhlenwarf begann.

Bettina Röder hat Kunsterziehung, Kunstgeschichte und Deutsch studiert. Sie hat als Lehrerin, Redak- teurin und Journalistin gearbeitet, zuletzt als Ver- antwortliche Redakteurin im Berliner Buro der Zeitschrift Publik Forum. Heute lebt sie als freie Journalistin in Berlin. www.publik-forum.de/Autor/bettina-roeder

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