Ausgabe 1 / 2020 Artikel von Hanna Manser

Welche Geschichte hat Ihre Frisur?

Biografiearbeit in der Frauengruppe

Von Hanna Manser

Damals fand ich, es war eine gute Idee. Ich wollte die Frauen anregen von sich zu erzählen, nicht von ihren Männern oder Enkelkindern. Sie sollten einander kennenlernen, locker und leicht. Also begann ich die Vorstellungsrunde für das bevorstehende Wochenende mit der Einladung: „Stellen Sie sich mit Ihrem Namen vor, und sagen Sie, woher Sie kommen – und welche Geschichte Ihre Frisur hat. Erzählen Sie über die Biografie Ihrer Haare!“

Und dann geschah das: Sehr nachdenklich begann die erste, sich durch die Haare fahrend, von den Zöpfen zu erzählen, die sie als Kind hatte – dick, braun und fest geflochten. „Und heute, da ist das hier übrig geblieben.“ Sie zupfte an ihrem Kurzhaarschnitt. „Ich habe sie einfach zu oft gefärbt. Nun sind sie ganz dünn.“ Sie klang dabei etwas traurig. Sofort stieg die nächste Frau ein. „Ich wurde beneidet von meinen Freundinnen, weil ich so einen dichten Wuschelkopf hatte, und trug die Haare immer offen.“ Eine andere sagte: „Wenn Ihr das so erzählt, dann erinnere ich mich sofort daran, wie mein Vater gesagt hat, dass er nicht mehr mit mir spricht, wenn ich mir die Haare abschneiden lasse.“ Sie wollte dazu lächeln, aber so ganz gelang es ihr nicht. Die ersten Tränen kamen…

Und ich als Leiterin spürte, dass es wohl doch keine so gute Idee war, mit dieser Fragestellung zu beginnen. Statt sich an einer lockeren, vielleicht sogar witzigen Vorstellungsrunde zu freuen, waren die Frauen sichtlich betroffen. So habe ich gelernt: Mit biografischen Fragen in Frauengruppen ist sensibel umzugehen. In meiner Ausbildung zur Familientherapeutin habe ich später erfahren, welch großer Reichtum in dieser Methode liegt, wenn frau sie bedacht einsetzt. „Jetzt bin ich dran und die anderen hören mir zu.“ Dieses Erlebnis lässt die einzelne wachsen und ermöglicht Begegnung, auch über kulturelle Grenzen hinaus. Beteiligte staunen nicht schlecht, wie viel Erfahrung sich teilen lässt. Erzähl mir von Deiner Geschichte!

Die Fragen können sehr unterschiedlich sein – entscheidend ist, dass die Fragestellung konkret ist: Wer war bei deiner Schuleinführung dabei? Wenn ich in deine Wohnung käme, woran erkenne ich, wie viele Menschen mit dir zusammen leben? Wann und zu welchem Anlass hast du zum ersten Mal das Meer gesehen? An welches Erlebnis erinnerst du dich, bei dem du ein Gespür für Gerechtigkeit / Ungerechtigkeit bekommen hast? Erzähl von den Fahrzeugen, die es in eurer Familie gab! Erzähl von einem Erlebnis, bei dem du so richtig stolz auf dich warst!

Biografie-Arbeit ermöglicht viel. In unserer Lebensgeschichte liegen die Wurzeln unserer Identität und unseres Selbstvertrauens. In jeder Altersphase kann frau sich dessen neu bewusst werden. Biografie-Arbeit hilft, den Reichtum meiner Lebenslandschaft auf unterschiedlichen Ebenen (neu) zu entdecken.

Die erste Ebene ist die des Individuellen. Dies habe ich emotional und rational erfahren, darum bin ich vielseitig geworden. Nicht selten hat die Erzählerin dabei selbst ein Aha-Erlebnis: „Wenn ich das so erzähle, dann fällt mir ein…“. Dafür kann eine persönliche Zeitleiste verwendet werden, die den 7-Jahres-Rhythmus unserer Entwicklung deutlich macht: 7 – 14 – 21 – 28 – 35 und so weiter. Als Zeichen für persönliche Erlebnisse können Symbole zu den entsprechenden Jahreszahlen gelegt werden.

Die zweite Ebene ist die des Gesellschaftlichen. Diese Ebene bettet das Individuum in Mit-Welt ein, verdeutlicht ihre Lebenschancen und führt der einzelnen vor Augen, auf welche Weise die gesellschaftlichen Ereignisse die eigene Biografie geprägt haben. 1939 – 1945 – 1953 – 1968 und so weiter. Auch die gesellschaftspolitischen Verbindungen können mit Hilfe einer Zeitleiste verdeutlicht werden. Und auch hier werden Symbole oder Fotos zu der entsprechenden Jahreszahl gelegt.

Spannend wird es dann, wenn sich herausstellt, dass mehrere Frauen in einem Zeitabschnitt ähnliche Wendungen erlebt haben. Beispielsweise hat mich – nördlich von Magdeburg, also in der ehemaligen DDR aufgewachsen – folgende Erkenntnis durch die Biografie-Arbeit berührt: Viele Frauen aus Ostdeutschland erlebten bei ihren Eltern zu Beginn der 1950er Jahre Schmerz und Depressionen aufgrund der Trennung von Verwandten, die „in den Westen gingen“. Ähnliches erlebten wir, die nachfolgende Generation, in den 1980er Jahren. Als Tochter entwickele ich größeres Verständnis für Vater oder Mutter, weil individuell Erlebtes im Zusammenhang politischer Geschehnisse gesehen werden kann. So wächst Verstehen und Achtung. Andere in der Gruppe helfen mir dabei. „Was hat unseren Müttern die Kraft gegeben, damit umzugehen?“ „Was hat mich stark gemacht in dieser Lebensphase?“

Je vielfältiger die Gruppe ist, umso spannender wird der Austausch. Frauen unterschiedlicher Konfessionen, Frauen mit verschiedenen sexuellen Orientierungen, solche aus Ost und West – die Vielfalt verbindet und lässt staunen.
Hilfreich können einige meditative „Gedanken übers Erzählen und Zuhören“ sein:

Erzählen kann jede.
Erzählen ist kreativ.
Erzählen braucht Zeit und Raum.
Erzählen braucht Schutz.
Erzählen braucht Offenheit und Vertrauen.

Fast jede mag gern aus ihrem Leben erzählen.
Erzählen verändert.
Erzählen bringt neue Erkenntnisse.
Erzählen erstirbt durch Bewertung und Beschämung.
Erzählen dürfen und Zuhörende haben ist ein großes Geschenk.
Erzählen ist einmalig, unwiederholbar.

Zuhören kann jede.
Zuhören ist kreativ.
Zuhören braucht Zeit und Raum.
Zuhören braucht Offenheit und Vertrauen.
Zuhören und Beschützen gehören zusammen.

Zuhören ist für die meisten schwerer als selber zu erzählen.
Zuhören hört auf bei Bewertung.
Zuhören und Fragen stellen braucht Taktgefühl.
Zuhören verändert.
Zuhören bringt neue Erkenntnisse.
Zuhören dürfen und Anteilnehmen ist ein wunderbares Geschenk.

Wenn so erzählt und zugehört wird, kann erlebt werden, dass meine Erfahrung für mich selbst wieder-belebt wird und für die Zuhörenden ein Gewinn ist. Ich habe viel Dankbarkeit erlebt bei Frauen, die die Wertschätzung empfunden haben durch das Zuhören der anderen.

Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit / circa 90 min

Auf den Geschmack von Biografie-Arbeit kommen Frauen bei einer einfachen Form. Bei einer Gruppengröße von 10-15 Frauen sollten mindestens anderthalb Stunden zur Verfügung stehen. Entscheiden Sie sich für eine der beiden Zeitleisten und halten Sie Stift und Zettel für jede Teilnehmerin bereit.

Führen Sie mit einem kurzen Text ins Thema Staunen ein – siehe zum Beispiel Seite 11 oder Seite 40f in diesem Heft.
– Je sorgfältiger die Einführung ist und je besser die Regeln befolgt werden, umso konzentrierter wird das Gespräch und die Wirkung durch das Mitgeteilte sein. Nehmen Sie sich also ausreichend Zeit, um in die „Regeln“ der Erzählrunde einzuführen: Der zeitliche Rahmen wird benannt und der Raum zum Erzählen, den jede dann hat (je nach Gruppengröße circa drei oder fünf oder acht Minuten). Holen Sie sich die Erlaubnis, ein kleines Zeichen zu geben, wenn eine Teilnehmerin so in den Fluss des Redens kommt, dass anderen dann keine Zeit zum Erzählen bleibt. Rückfragen können gestellt werden, wenn eine zu Ende erzählt hat – Kommentare und Wertungen sind nicht „erlaubt“.
– Lesen Sie die meditativen „Gedanken zum Erzählen und Zuhören“ vor. Sie können sie auch für alle kopieren und dann gemeinsam zeilenweise reihum lesen.
– Legen Sie die Zeitleiste, für die Sie sich entschieden haben, und ein großes Blatt mit folgenden Fragen in die Mitte:
An welche Situation erinnern Sie sich, in der Ihnen etwas wirklich gut gelungen ist?
Wer war beteiligt?
Was hat das für Sie bedeutet?
– Lesen Sie die Fragen laut vor und bitten Sie die Frauen, sich ihr Ereignis mit einem Stichwort auf ihrem Zettel zu notieren. Wenn alle etwas notiert haben, eröffnen Sie die Erzählrunde. Jede, die spricht, legt ihren Zettel an die entsprechende Stelle der Zeitleiste.
– Nachdem jede Gelegenheit hatte zu erzählen, wird die Erzählrunde abgeschlossen. Spontane Ergänzungen („Ach, dazu fällt mir noch ein…“) werden freundlich auf später verschoben.
– Vertiefen und bündeln Sie das Erzählte und Gehörte mit einer kurzen Reflexionsrunde: „Was ist uns aufgefallen? Welche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede gab es?“

Hanna Manser ist in Sachsen-Anhalt aufgewachsen und hat Evangelische Theologie in Jena studiert. Sie ist Pfarrerin und Systemische Therapeutin. Von 1998 bis 2010 war sie Leitende Pfarrerin in der Frauenarbeit, zunächst in der Kirchenprovinz Sachsen, später in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Seit 2001 engagiert sie sich in der Osteuropa-Arbeit und führt unter anderem regelmäßig Begegnungstage in osteuropäischen Ländern durch. Hier hat sie praktische Erfahrungen mit Biografiearbeit gesammelt.

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