Im 15. Kapitel des Buches Exodus, Vers 20 begegnet uns mit Mirjam die erste in der Bibel mit Namen genannte Prophetin. Männer eingeschlossen – vor ihr trägt niemand den Titel ProphetIn.
Mirjam ist eine der stärksten und schillerndsten Frauenfiguren der Hebräischen Bibel. Bereits ihr Name widersetzt sich einer einfachen Einordnung. Seine etymologische Herkunft ist ungewiss, vermutet wird etwa „die Bittere“ oder „die Widerspenstige“. Denkbar sind auch Verbindungen zu jam, Wasser.
Fest steht jedoch, dass der Name Mirjam quasi aus dem Nichts während der Zeit der römischen Besatzung Israels (ab 63 v. Chr.) zum Frauennamen Nr. 1 avancierte. Jüdische Eltern gaben ihren Töchtern bewusst den Namen der Frau, die wie keine andere mit der Befreiung Israels aus der ägyptischen Sklaverei, dem Jubel über die geschenkte Befreiung und der Durchhaltekraft während der langen Wüstenzeit verbunden war und ist. Mit ihrem Namen lebte in den jüdischen Mädchen die Hoffnung fort, Israels Gott möge erneut so machtvoll befreiend auftreten wie in den „alten Zeiten“, die römische Herrschaft möge ebenso ein Ende finden wie die Schreckensherrschaft Pharaos. (1)
Der Inbegriff von Stärke und Befreiung also, diese Mirjam. Wie geht das zusammen mit: „Gerade in den Schwachen lebt meine Kraft“? (2) Wer definiert Stärke und Schwäche, welche Kraft ist Kraft Gottes? In gängiger Perspektive und Wahrnehmung der alten Texte und der sie bestimmenden Entstehungszeit und -kultur zählt Mirjam vermutlich zu den Schwachen: eine Frau, noch dazu unverheiratet und kinderlos, Angehörige eines versklavten Volkes verhasster und verachteter AusländerInnen – erwähnt nur in acht Texten bzw. Notizen. (3) Die Verhältnisbestimmung von Stärke und Schwäche bleibt schwierig; Mirjams Geschichte illustriert, wie sehr die eigene Perspektive, die eigene „Lesebrille“ bestimmt, wie wir biblische Erzählungen wahrnehmen.
Da Mirjam zu den bekannteren Frauenfiguren des Ersten Testamentes zählt, ist als Einstieg ein kurzes Brainstorming zu ihrem Namen denkbar; Rettung am Schilfmeer und aus dem Fluss dürften schon hier erwähnt werden, die anderen Stellen sind eher unbekannt.
Einen „stimmungsmäßig“ leitenden Auftakt könnte das Mirjam-Lied von Claudia Mitscha-Eibl „Im Lande der Knechtschaft“ (EG RWL 680) bieten.
Das Bild zum Lied am Schilfmeer – für AbonnentInnen unter „Service“ zum Herunterladen vorbereitet – lädt zum gemeinsamen Nachdenken ein; evtl. deckt die Leiterin das Bild in mehreren Schritten auf: erst nur die rechte Hälfte (Mirjam u. Notenlinie (18) ), dann den linken Rand (Meer), zum Schluss die verbindende Bildmitte.
Jede TN wird eingeladen, sich mit einer der dargestellten Personen zu identifizieren und in einem Satz die aktuelle Befindlichkeit dieser Person und ihre Reaktion auf Mirjams Aufforderung „Singt für Gott!“ zu formulieren.
Spannend für die Auseinandersetzung mit Mirjam ist die Erzählung Num 12, gerade in ihrer Ambivalenz, gerade in der Frage, welche Risiken wer in Kauf nimmt, welche Konsequenzen zu tragen, welche Narben zu behalten welche bereit ist. Da der Text eher unbekannt ist, empfiehlt es sich, ihn entweder gemeinsam mit allen in der Fassung der Luther-Revision von 1984 oder der Bibel in gerechter Sprache zu lesen; beide Übersetzungen ebenfalls zum Herunterladen vorbereitet. Alternativ kann die Nacherzählung der Gütersloher Erzählbibel, die manch oben genannten Aspekt der Auslegung von Num 12 bereits enthält, vorgelesen und besprochen werden werden:
„Mirjam, wie gut, dass du wieder da bist. Wir haben alle auf dich gewartet. Nie würden wir ohne unsere Prophetin weiterziehen!“ Das ganze Volk lief zusammen, als Mirjam zurück ins Lager kam: „Warum musstest du überhaupt fortgehen?“ Mirjam erzählte es ihnen: „Vor einer Woche hatte ich ein Gespräch mit Mose. Aaron war auch dabei. Es ging um Moses Frau. Irgendwann habe ich es gewagt zu sagen, dass Gott nicht nur mit Mose redet, sondern auch mit uns. Mose hat gar nichts dazu gesagt. Aber Gott wollte, dass wir alle drei ins Begegnungszelt kommen. Dort sprach sie zu uns: „Ja, ich rede mit euch – ich rede mit den Prophetinnen und Propheten Israels
in Träumen und Visionen, so dass sie wissen können, was mein Weg mit Israel sein soll.“ Mit Mose ist das aber etwas anderes: Mit ihm rede ich ganz direkt.“ Dann ging sie. Kaum war ihre Wolke weg, schrie Aaron entsetzt auf und zeigte auf mich. Ich wusste erst gar nicht, was er meinte, bis ich an mir herunterschaute: Meine Haut war am ganzen Körper krank, sie schuppte sich. Aaron hatte Angst, er flehte Mose an, für mich zu beten – selbst traute er sich das wohl nicht! Mose tat das auch. Und Gott antwortete: „Ich habe ihr die Krankheit gebracht. Eine Woche lang soll sie außerhalb des Lagers leben. Danach aber soll kein Priester sie wieder für gesund erklären – ich selbst heile sie und hole sie ins Lager zurück.“ So geschah es. „Jetzt ist die Woche um und ich bin wieder bei euch! Lasst uns weiterziehen!“ Sobald die Prophetin Mirjam wieder im Lager war, zogen die Israelitinnen und Israeliten weiter.(19)
Anschließen kann sich eine Runde über eigene „Narben“: Was bedeutet welche Narbe – körperlich sichtbar oder auch nicht – für das eigene Leben? Wie liebevoll oder lieblos gehen wir selbst, geht unser Umfeld mit diesen Narben um? Kann das Sprechen von „Narben“ einen Schlüssel darstellen, um zu verstehen, was 2 Kor 12,9 mit den „Schwachen“ ausdrücken will?
Dr. Kerstin Schiffner, geb.1972, ist Studierendenpfarrerin der ESG Dortmund und lebt mit zwei Söhnen in Bochum. Sie ist Mitglied im Herausgabekreis der Bibel in gerechter Sprache.
Anmerkungen:
1 Die Mutter Jesu ist so in gewisser Weise auch ‚Erbin' Mirjams: Maria ist die lateinische Form des hebräischen Namens Mirjam. Über die Namensgleichheit hinaus gibt es eine ganze Reihe weiterer Bezüge; vgl. Schiffner 2008, 259-296.
2 2 Kor 12,9 ( BigS, Marlene Crüsemann)
3 Ex 2,4ff; 15,20f.; Num 12; 20,1; 26,59; Dtn 24,8f.; Mi 6,4; 1 Chr 5,29.
4 Die Aufteilung in einen längeren, von Mose geleiteten, und einen kurzen, von Mirjam angestimmten Teil ist irreführend; es ist davon auszugehen, dass das Ganze als gemeinsames Lied konzipiert ist.
5 Heidenreich nimmt damit Ex 15,20 beim Wort, wenn/weil dort nur eine Reaktion der Frauen beschrieben ist.
6 Angesprochen ist Israel als Gesamtgröße, daher das kollektive ,Du'.
7 Damit gehört Mirjam zu den wenigen biblischen Figuren, von denen überhaupt ein Grabmal überliefert ist.
8 Rapp 1998, 58.
9 In rabbinischen Texten wird Gott selbst als HeilerIn Mirjams benannt.
10 Die Hautkrankheit, an der Mirjam erkrankt ist, impliziert, dass auch nach ihrem Abheilen Spuren bleiben. Die Deutlichkeit, in der die Gütersloher Erzählbibel diese als Narben zeigt, ist Interpretation der Künstlerin.
11 Auch auf andere Art veranschaulicht die Illustration die Veränderung Mirjams, verglichen mit ihrem ‚Auftritt' am Schilfmeer: Sie ist eine reife, gestandene Frau (erkennbar neben dem in ihren Schleier eingearbeiteten Herbstlaub schon durch Haare und Geischtsausdruck). Mirjam steht mit ihrem ganzen Körper für die Befreiung aus Ägypten ein, auch in ihre Kleidung ist die Erinnerung an Gottes Rettungshandeln eingewbt (am rechten Ärmelsaum findet sich ein Abschnitt aus der ‚Selbstvorstellung' bzw. ‚-definition' Gottes aus Ex 20,2: Ich bin Gott, deine Gottheit, weil ich dich herausgeführt habe aus dem Land Ägypten).
12 Num 26,59; 1 Chr 5,29. Eine Genealogie (ähnlich: Stammbaum) stellt die Generationenfolge eines Familienverbandes dar, ausgehend häufig von wichtigen Einzelpersonen deren Vorfahren oder Nachkommen nennend.
13 Das hebräische Wort teba wird nur für den Korb des Mose und die Arche Noach(s) verwendet.
14 Vgl. die vorangehende Erzählung von den Hebammen, Ex 1,15ff.
15 Ex 2,4; von ferne beobachten auch die Frauen unter dem Kreuz …
16 Die nachbiblische jüdische Lektüre sieht Mirjam schon vor der Geburt des Mose als Prophetin aktiv sein: Ihr erscheint (im Traum?) ein Engel, der die Geburt des zukünftigen Retters Israels durch ihre Mutter ankündigt.
17 siehe Num 20
18 Folgende Erläuterung von Seiten der Leiterin kann dabei helfen: „Mirjam tanzt dem Volk voran, aus ihrer Trommel entspinnt sich die Notenlinie, die das ganze Volk gleichsam zu tragen scheint. … Sie als ganze Person verkörpert dieses Lied, in einer gewissen Form ‚ist' sie dieses Lied; die Notentöne, die in ihr Kleid eingewebt erscheinen, lassen das vermuten. Die Lebensfreude, die kraftvolle Zuversicht, die ihr Lied verströmt, wird durch die kräftigen Rottöne, in denen ihr Kleid gehalten ist, betont zum Ausdruck gebracht.“ (Klöpper/Schiffner 2005, 63).
19 Klöpper/Schiffner 2008, 104f.
Literatur
Irmtraud Fischer: Gender-faire Exegese. Gesammelte Beiträge zur Reflexion des Genderbias und seiner Auswirkungen in der Übersetzung und Auslegung von biblischen Texten, Exegese in unserer Zeit 14, Münster 2004
Diana Klöpper, Kerstin Schiffner: Gütersloher Erzählbibel. Mit Bildern von Juliana Heidenreich, Gütersloh 22008
Diana Klöpper, Kerstin Schiffner: Gütersloher Erzählbibel. Die Bilder. Beschreibungen – Deutungen – Praxis-Tipps, Gütersloh 2005
Ursula Rapp: Das Buch Numeri, in: Luise Schottroff, Marie-Theres Wacker (Hg.): Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 1998, 54-66
Ursula Rapp: Mirjam. Eine feministisch-rhetorische Lektüre der Mirjamtexte in der hebräischen Bibel, BZAW 317, Berlin/New York 2002
Kerstin Schiffner: Lukas liest Exodus. Eine Studie zur Aufnahme ersttestamentlicher Befreiunsgeschichte im lukanischen Werk als Schrift-Lektüre, BWANT 172, Stuttgart 2008
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