Ausgabe 2 / 2013 Artikel von Brunhilde Raiser

Wem gehört eigentlich meine Niere?

Fragen zur Verfügbarkeit des menschlichen Körpers

Von Brunhilde Raiser

Plötzlich steht die Frage im Raum. Sollte, müsste, muss ich ihm eine meiner Nieren geben? Beim gemeinsamen Tee erzählt mir eine mir gut vertraute junge Frau von ihrem Onkel, der auf die Warteliste für eine Niere gesetzt wurde. Zurzeit ist er Dialysepatient, leidet zudem an weiteren massiven Erkrankungen.

„Ich muss doch zumindest prüfen lassen, ob meine Niere passen würde, dazu bin ich doch verpflichtet.“ Aber auch andere Fragen stehen im Raum. Was macht das mit mir? Will ich mich gefährden? Darf ich mir das überhaupt zumuten? Was würde das für meine Zukunft bedeuten, etwa für Schwangerschaften? Und was für die Menschen, die damit verbunden sind?

Wir haben keine allgemein verbindliche Antwort gefunden – und das wird auch dieser Beitrag nicht leisten können. Nur Annäherungen, Abwägungen, verschiedene Zugänge und Fragestellungen erscheinen möglich, wenn es darum geht, persönlich eine Antwort zu finden auf die selten direkt gestellte Frage: Wem gehört mein Körper? Untrennbar verbunden ist damit die Frage: Wer hat Macht über einen, über meinen Körper? Und wer hat die Definitionsmacht, was innerhalb der Normvorstellungen einer Gesellschaft liegt und was nicht, was rechtlich erlaubt und was zum Schutz der Allgemeinheit und der jeweils betroffenen Individuen verboten bleibt bzw. wird? So ist in Deutschland etwa Organhandel verboten. Wirtschaftliche Gründe sollen niemand zum Verkauf einer der Nieren veranlassen. Und niemand soll bevorzugt werden, weil er oder sie es sich leisten kann, ein Organ zu kaufen. Nur unter Sicherstellung der freien Entscheidung ist die Lebendspende innerhalb fester – in der Regel ehelicher bzw. verwandtschaftlicher – Beziehungen erlaubt.

Erstaunlich ist dann aber, dass in Deutschland weit mehr Frauen als Männer eine Lebendspende machen. Müssen hier Beweggründe und Fremdbestimmtheiten mitgedacht werden, die im Zusammenhang mit weiblichen Rollenbildern und Selbstverständnis stehen? So verweist Mona Motakef darauf, dass „Organspende von Frauen als eine traditionell weibliche Tugend betrachtet werden kann“.1 Und weiter: „Die Organspende (von Frauen) wird nicht als herausragende Tat erlebt, sondern als eine etwas ungewöhnliche Aufgabe einer Ehefrau und Mutter.“ Organspende von Frauen wird so durchaus als „Ausweitung der familiären Pflicht“, zu der auch die Sorge für die Gesundheit der Familie zählt, verstanden. Damit stellt sich die Frage der freien Entscheidung erneut: Was wird – von wem – erwartet? „Verschenken“ Frauen Teile ihrer Körper wirklich aus freien Stücken? Die Frage ist gerade dann brennend aktuell, wenn es um Lebend- oder postmortale Organspende geht.

Von Gott geschenkt und anvertraut

Noch grundlegender aber ist zu fragen: Ist der Körper, sind die Organe / das Gewebe überhaupt „verschenkbar“? Verschenken kann ich nur, was mir gehört, was mir zur Verfügung ist, was in meiner Entscheidungsbefugnis liegt. Aus evangelischer Sicht sage ich: Unser Leben ist von Gott geschenkt. Es bedarf unserer Körpers, meine Person lebt über meinen Körper. Unsere Körper sind Teil der guten Schöpfung Gottes – aber ein vergänglicher Teil. Als Teil der Schöpfung sind sie uns von Gott geschenkt und anvertraut. Diese Verantwortung wahrzunehmen ist Teil unseres freien Willens. Damit haben wir das Recht, über unseren Körper zu bestimmen. Der freie Wille ist allerdings nicht grenzenlos. Er endet da, wo das Recht des oder der anderen beginnt – und er endet da, wo Gottes Anspruch beginnt.

Zu bedenken ist dabei auch, ob es ein Recht von Angehörigen gibt, einen unversehrten Körper verabschieden und bestatten zu können, einen Menschen wirklich bis zum Ende begleiten zu können, ihn/sie sterben lassen zu dürfen und nicht als Hirntote/n in den Operationssaal zu geben.2 Wenn man davon ausgeht, dass Menschen sich zu Lebzeiten aus Liebe auch körperlich verschenken, darf diese Frage so wohl gestellt werden. Und damit natürlich auch die Frage: Darf ich meinen Körper dann nicht gerade verschenken, um anderen Leben zu ermöglichen?

Als Menschen, die von Gott den freien Willen und das Leben mit unserem Körper bekommen haben, müssen wir uns zumuten, zwischen unseren eigenen Sichtweisen, den berechtigten Wünschen anderer, dem, was wir als Gottes Willen erkennen können und unseren eigenen Ansprüchen und Wünschen abzuwägen, zu entscheiden und diese Entscheidung auch zu verantworten.3 Vielleicht wird an einer solch gravierenden Entscheidungsfindung besonders gut erkennbar, was das Doppelgebot der Nächsten- und Selbstliebe eigentlich bedeutet. Präses Nikolaus Schneider und viele andere Vertreter_Innen der Kirchen dürften solche Überlegungen zu der Aussage geführt habe: Organspende kann ein Ausdruck von Nächstenliebe sein.

Gesetzlich geschützt: Unversehrtheit und Selbstbestimmung

Wie muss sich nun aber ein Gesetzgeber zu diesen Fragen verhalten? Welche rechtlichen Fragen müssen beantwortet werden? Wie groß die Verunsicherung ist, zeigt eine interdisziplinäre Veranstaltung der Universität Würzburg im Februar 2012. Der Titel war: „Gehört mein Körper noch mir? Untersuchungen zur (Straf-) Gesetzgebung im Kontext der beschränkten Verfügungsbefugnis über den eigenen Körper in den Lebenswissenschaften“. In der Einladung hieß es: „Das deutsche Rechtssystem basiert auf einem liberalen Staatsverständnis, d.h., die Freiheit der Bürger darf nur zum Schutz Dritter oder zentraler Gemeinwohlinteressen eingeschränkt werden. Diese Leitidee zeigt sich in der Struktur der Grundrechte, die primär als Garanten individueller Freiheitssphären fungieren und nur sekundär Schutzpflichten des Staates begründen. Auf Basis dieser Vorgaben sind paternalistische Gesetzgebungsvorhaben besonders rechtfertigungsbedürftig. Dies gilt vor allem für den Umgang mit dem eigenen Körper als Ausgangspunkt persönlicher Freiheit und grundsätzliche Grenze staatlicher Eingriffsbefugnis. Diese Grenze ist besonders geeignet, um die Schwierigkeiten biowissenschaftlicher Gesetzgebung zu analysieren und Argumente und Verfahren für inhaltlich und formell überzeugende Gesetze zu finden.“4

Unser Grundgesetz schützt in Artikel 2 eindeutig auf das Recht auf Leben und Unversehrtheit eines/einer jeden. Daneben und dem entgegen steht das Recht der Selbstbestimmung über den Körper: Niemand darf ohne die Zustimmung der betreffenden Person einen Eingriff in den Körper vornehmen – nicht einmal ein Haarschnitt oder eine Rasur sind ohne diese erlaubt. Eine begrenzte Fremdbestimmung behält der Staat sich aber für den Fall vor, dass unmittelbar Leben bedroht ist und kein Einverständnis eingeholt werden kann. Allerdings dürfen wir lebend unseren Körper nicht verkaufen, auch nicht zu Teilen. Und erst recht dürfen wir „nach dem Tod mit unserem Körper nicht alles tun, was uns in den Sinn kommt. So wäre (…) eine testamentarische Verfügung, unseren Körper nach dem Tod an wilde Tiere verfüttern zu lassen, ungültig, während uns zu Lebzeiten niemand daran hindern würde, uns von denselben Tieren auffressen zu lassen.“5 Ausgeschlossen werden sollen Selbstschädigung und darüber hinaus die Verletzung der guten Sitten. Um paternalistische Regelungen aber so gering wie möglich zu halten, muss gesellschaftlich ausgehandelt werden, wo das eine bzw. andere beginnt, wie es definiert ist. Juristisch ist also die Verfügbarkeit des Körpers zu klären.

Philosophisch umstritten: Sache oder Teil der Identität?

Nicht nur juristisch sondern ethisch und für christliches Verständnis ist dabei zudem bedeutsam, in wieweit wir unseren Körper als „Sache“ verstehen – und damit als etwas, über das wir sehr viel selbstverständlicher verfügen könnten. Ich persönlich schließe mich der Argumentation von Christian Lenk an, dass es eine Fehleinschätzung wäre, den Körper als Sache zu verstehen. „'Sachen' sind ja gewöhnlich die leblosen Dinge der äußeren Welt. Aber der Körper ist für uns keine äußere Sache in diesem Sinne, sondern Teil unserer Person und unserer Identität.“ Das hinterfragt philosophische und biblische Bilder wie die von Schale, Hülle, Gefängnis, Haus, irdene Gefäße und Tempel des Heiligen Geistes, die christliches Denken über den Körper prägen und die wohl nicht wenig zu einer Körperfeindlichkeit beigetragen haben, wenn nicht sogar zu einer Funktionalisierung des Körpers.

„Der lebende menschliche Körper“, so Christian Lenk weiter, „ist keine Sache, aber in Deutschland wird davon ausgegangen, dass ein Körperteil oder ein Organ, welches vom Körper entfernt wird, die Eigenschaften einer Sache erlangt.“ Geht man von dieser Sichtweise aus, dann ist eine Klärung oder zumindest die Überprüfung der Definition „Hirntod“ unerlässlich – dann müssen wir uns klar darüber sein, wie lange wir von einem lebenden Körper sprechen, ehe dieser zur Sache wird. Die „Versachlichung“ des Körpers hat eine lange Tradition und scheint eine Ursache für das weit verbreitete Verständnis der Austauschbarkeit von Körperteilen, der Wieder- und Weiterverwendbarkeit und der Ersatzteilbeschaffung zu sein. Bereits 1637 hat René Descartes die Unterscheidung zwischen res cogitans (geistige Substanz) und res extensa (körperliche Substanz) vorgenommen und damit den „Weg frei gemacht für ein mechanistisches Verständnis des Körpers, der nun als reiner Körper … vorgestellt werden kann.“ Daraus wird die Vorstellung vom Körper als Maschine – einer Maschine aus vielen Einzelteilen, die repariert werden kann und muss, die Ersatzteile benötigt und deren Funktionieren wesentlich von der Verfügbarkeit solcher Teile abhängt. Die Weiter- und Wiederverwendung noch brauchbarer Teile erscheint dann sinnvoll und gegeben.

Wenn wir als Christinnen und Christen uns klar werden wollen: „Organspende ja oder nein?“, dann müssen wir uns auch nach unserem Verständnis von Körper fragen. Dies in den gesellschaftlichen und den innerkirchlichen Diskurs einzubringen, würde der Debatte um Organspenden eine nötige weitere Tiefe geben.

Für die Arbeit in der Gruppe

Die Vorschläge 1+2 können als alternative Einstiege für Vorschlag 3 genommen oder, wenn die Zeit reicht, nacheinander umgesetzt werden.
Kopiervorlagen für AbonnentInnen unter www.ahzw-online.de / Service zum
Herunterladen vorbereitet.

Vorschlag 1
Ziel ist, dass die TeilnehmerInnen (TN) sich die sehr unterschiedlichen Vorstellungen von Körper bewusstmachen und dazu Position beziehen.

Vorbereitung:
– 1 größeres Kärtchen mit Aufschrift „Körper ist, bedeutet …“
– kleinere Kärtchen mit folgenden Begriffen: Masse / biologische Materie / Gegenstand / Teil der Person / Eigentum / Schöpfungsaussage / Gottesgeschenk / Anziehungskraft / Raum / Fleisch / Kraft / Gabe / Ware / Raum einnehmen / Vergänglichkeit / funktionierendes System / Sinnenfreude / Zerbrechlichkeit / Sache / Verletzlichkeit / Wärme / Summe eines Ganzen / Hülle / verschiedene Einzelteile / Gestalt / Sichtbarkeit / Scham / Haltung / Leben / Wahrnehmungsmöglichkeit
– einige leere Kärtchen und Stifte

Die Leiterin legt die Kärtchen auf und lädt ein, sie zu lesen und je eines, das besonders positiv anspricht, und eines, das besonders befremdet, auszusuchen und evtl. fehlende Begriffe auf den leeren Kärtchen zu ergänzen. In kleinen Gruppen (2–4) stellen die TN ihre Kärtchen vor und erläutern ihre Wahl. Im Plenum berichtet jede Kleingruppe, was ihr besonders wichtig geworden ist.  ca. 20 Minuten

Vorschlag 2
Mit Hilfe der „We-Flection-Methode“ zur Aussage „Mein Körper ist für mich …“ sprechen die TN über ihr Körperverständnis, bekommen Echo und damit die Möglichkeit, ihr eigenes Verständnis zu vertiefen. – Es sollte die räumliche Möglichkeit für ruhiges Sprechen in separaten 3er-Gruppen geben.
Je 3 TN bilden eine Kleingruppe. Frau A äußert sich zu „Mein Körper ist für mich…“. Frau B hört zu und gibt dann das Gehörte wieder – wortwörtlich oder mit eigenen Worten. Dann bietet sie eine Formulierung an, in der Erahntes, Erratenes seinen Niederschlag findet. Frau A sagt, ob sie sich richtig verstanden fühlt, und spricht weiter. Frau B reflektiert wieder das Gehörte. Auf die Weise entwickeln sich die eigenen Gedanken spiralförmig in die Tiefe. Frau C hört intensiv zu; am Ende kann sie kurz mitteilen, was sie beobachtet hat.
Nach 10 Minuten wechseln die Teilnehmerinnen die Rollen, so dass jede einmal A, B und C wird.
ca. 30-40 Minuten

Vorschlag 3
Nachdem die TN sich ihre Vorstellungen über den eigenen Körper bewusst gemacht haben, folgt die Beschäftigung mit der Werbung für Organspende.

Vorbereitung: Plakat mit der Aufschrift „Schenk mir dein Herz“, Kärtchen,
Stifte, Pinnwand, Nadeln

Die Leiterin stellt den Schlagertext, Filmtitel und Werbeslogan (für Organspende) „Schenk mir dein Herz“ in den Raum. Sie bittet die TN, ihre Gedanken, Erinnerungen, Emotionen, Assoziationen dazu jeweils kurz mit einem Wort oder Satz auf je ein Kärtchen zu schreiben. Die Kärtchen werden unkommentiert (!) gelesen und sortiert an der Pinnwand befestigt.
Impuls: Was nehmen wir wahr?
ca. 30 Minuten

Brunhilde Raiser, 59 Jahre, war Vorsitzende der EFiD bis 2010. Sie ist jetzt Geschäftsführerin des Evangelischen Bildungswerks Oberschwaben.

Anmerkungen

1) Mona Motakef: Körper Gabe. Ökonomien der Organspende, Bielefeld (transcript) 2011, 203; folgende Zitate ebd.
2) Die Frage des Hirntodkonzepts wird an anderer Stelle ausführlich diskutiert; siehe vor allem den Beitrag von A. Manzei, S. 51-57. Ich selbst gehe von
der Annahme aus, dass der Hirntod Teil eines (unumkehrbaren) Sterbeprozesses ist, aber nicht bereits der Eintritt des Todes.
3) Hier ist für Christinnen besonders die kritische Auseinandersetzung mit dem theologischen Gehalt der Begriffe „Gabe“, „Spende“, „Opfer“ wichtig; aus Platzgründen hier nicht erneut aufgenommen – vgl. dazu die ntl. Bibelarbeit S. 14ff.
4) http://www.helmuth-plessner.de/graphics/Callforpapers11.pdf
5) zitiert nach Christian Lenk in www.bpb.de/apuz/33319/mein-koerper-mein-eigentum?p=all; folgende Zitate ebd.

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