Märchen, die duften? Blumiges schwebt mir vor der Nase, aber ich finde es zunächst kaum in den Volksmärchen. Die Kunstmärchen Andersens zum Beispiel „duften“, ich aber möchte die Düfte in den Volksmärchen finden, den Weggeschichten der Menschen. Brechen wir also auf und beschreiten Nasenwege durch Märchentore.
„Und während sie den Duft der Blume mit Wonne einatmete …“ – geschieht was? Aus der Blume wird ein lustig flatternder Vogel. Eine alte Frau freut sich am Duft einer Rose, und in diesem Augenblick geschieht die Verwandlung. Sie staunt, vermutet ein Wesen der anderen Welt. Die Zaubernadel(1) (Türkei) berichtet von einer Verwandlungskette: Die Heldin war aus der menschlichen Gestalt in einen Vogel, dann in eine Rose verwandelt worden, nun erhält sie wieder die Gestalt eines Vogels, dann die eines Mädchens. Und am Beginn der Rückverwandlung, wie ein sich öffnendes Tor: das Duft-Erlebnis.
Wie häufig sind Duft-Erlebnisse, welche Tore öffnen sie? Denkt man an die Märchen der Grimms, so kommt zunächst wenig in Erinnerung. Blumendüfte, Kräuteraromen, Düfte des Heiligen? Wir erinnern uns kaum, davon gehört zu haben.
Und dann ein skurriler Satz: „Ich rieche, rieche Menschenfleisch!“(2)
Im Teufel mit den drei goldenen Haaren wird er vom Teufel gesprochen, in Die sieben Raben vom Mond. Der Teufel merkt, dass die Luft nicht rein ist,
„es ist hier nicht richtig“, stellt er fest. Fremdartiges macht sich durch Geruch bemerkbar, dringt wie eine Vorhut in einen anderen Wesensbereich ein.
Über diesen Wesensbereich gibt Hänsel und Gretel Auskunft. Die Hexen „haben eine feine Witterung, wie die Tiere, und merken's, wenn Menschen herankommen.“ Mit Tieren, Hexen und dem Teufel steht der Geruchssinn in Verbindung, der Menschen als falsch wahrnimmt. Der Geruch markiert den Übergang, das Tor. Für den Teufel falsch, kann der Geruch eines Menschen in den Religionen als heilig gelten: Was nicht nach Liebe riecht, das stinkt vor Gott dem Herrn. (Angelus Silesius)
Der Mensch steht einerseits mit seinem Duft zwischen Himmlischem und Irdischem, sein Geruchssinn kann ihn auf der anderen Seite verführen.
Speisen und Getränke verlocken durch Düfte, auch in Märchen der Grimms. Ob nun Das kluge Gretel den Braten verspeist, weil er so gut riecht, oder der Held, „als der Geruch davon“ aufsteigt, einen starken Zug aus dem Weinglas tut (Die Rabe): Speise- und Getränkeduft locken auf andere Wege als die geplanten, Schwächen werden ausgenutzt und eingeplant.
Das tapfere Schneiderlein jedoch folgt seiner Nase wie einer Leitlinie. Es hebt die Mustöpfe hoch, hält die Nase daran und wählt. Indes steigt „der Geruch von dem süßen Mus hinauf an die Wand“ und die Fliegen werden angelockt. Schließlich zieht das Schneiderlein weiter, „immer seiner spitzen Nase nach.“ Die spitze Nase, der richtige Riecher des Schneiderleins wirkt wie eine Illustration von Erkenntnissen anderer Bereiche. „Wie ein Schiffsbug die Wogen, so durchpflügt unsere Nase die ihr entgegenströmende Luft … die Nase wurde zum ersten Detektor.“(3)
„Der Duft aber, den die Rose verbreitete, welche Hans bei sich trug, bewog den Torwart, ihn einzulassen.“ Der Rosenduft als Türöffner – und ein Dummling gewinnt die Königstochter (Die drei Rosen, Österreich)(4)
Wir alle kennen Rosenmärchen – bei den Grimms unter anderem Schneeweißchen und Rosenrot, Vom Sommer- und Wintergarten und Dornröschen. Vom Duft ist nicht die Rede. Manche Rosenmärchen scheinen dennoch zu duften, auch wenn nicht davon gesprochen wird. Symbolisches schwingt dabei mit. Eine „erzählte“ Pflanze kann Duftvorstellungen wachrufen. Begeben Sie sich mit dem Geruchssinn in ein Märchen – eine interessante Erfahrung, denn bei indirekten Hinweisen wird die „Vorstellungskraft“ des Geruchsvermögens durch Worte hervorgerufen. Das menschliche Gehirn „hat seine eigenen Methoden, um die Geruchseindrücke abzuspeichern. Dabei unterstützen andere Sinneseindrücke, wie Worte und Geschichten … Worte helfen, die Duftnote … in unserem Erinnerungszentrum abzuspeichern.“(5)
Doch Volksmärchen erzählen auch direkt vom Duft. Es war einmal „ein König, der hatte einen herrlichen Garten mit einer Rose der Unsterblichkeit. … Jeden Frühling aber fraß ein Wurm die Rose, noch ehe sie blühte, und so konnte der König nie ihren himmlischen Duft genießen.“(6) Die Rose des Königs erzählt von der Nachtigall, die die Rose rettet. Später wird sie selbst von der Schlange gefressen, die schließlich vom Gärtner getötet wird. Während er den Duft der geretteten Rose genießt, spricht der König einen rätselhaften Satz: „Gut, aber auch Du kannst sie nicht behalten.“ Das Wesen des Dufts kann nicht festgehalten werden. Der Duft, bei der blühenden und schon sterbenden Rose am stärksten, macht klar, dass im Vergänglichen die Ewigkeit enthalten ist.
Die Rose und ihre duftenden Produkte weisen viele Heilanwendungen auf, sie können hier nur angedeutet werden: Harmonisierung, Reinigung, Hilfe gegen Depressionen, Steigerung von Liebe, Hilfe beim Sterbeprozess. In den Märchen taucht der (Rosen-) Duft auf
– im Übergang aus einem Seinszustand in den anderen,
– als „Toröffner“ und
– als Darstellung des Vergänglichen in seiner Schönheit.
Die Wirkungen des Rosendufts erhalten ihre erzählte Form!
In der „Enzyklopädie des Märchens“(7) wird von den gesellschaftlichen Bedingungen des Geruchs bzw. des Dufts des Heiligen gesprochen. „Wohlgeruch und Gestank als Themen der populären Erzählkultur reflektieren stets reale Zustände.“ Viel tiefer als reflektierend erscheinen mir die Düfte in den Märchen, deutend und er- „klärend“, besonders bei den Pflanzen. Es sei hingewiesen auf den Duftreichtum chinesischer oder philippinischer Märchen, die eine alte Duftkultur spiegeln, aber in HörerInnen und LeserInnen des Landes vermutlich Assoziationen, Erinnerungen und prozessuale Vorgänge auslösen.
In chinesischen Märchen begegnen wir unter anderem dem duftenden Kassiabaum, Weihrauch oder dem Duft der Chrysanthemen.(8) Ein philippinisches Märchen(9) erzählt von dem Mädchen Ylang, einem Geschenk der Götter, das von keinem Mann berührt werden darf. Ein Jüngling verliebt sich, fasst das Mädchen an der Hand und es verschwindet. Dort, wo sie gestanden hat, wächst ein Bäumchen, auf dem weiße Blüten prangen. „Sie erfüllten den Garten mit ihrem Duft…“
Die Blüten des Ylang-Ylang-Baums werden als Essenz in der Aromatherapie verwendet. Der Duft ist blumig, weiblich, die Essenz senkt die Atemfrequenz, kann erotisieren. Wirkung und Wesen der Blume werden erzählt: Die Pflanzendüfte finden den Weg in das Märchen nicht „zufällig“ oder als literarische Zugabe. Der Nasenweg führt in das Wesen der Pflanze hinein!
„Wenn dieser Apfelbaum blühte, erfüllte der Duft seiner rosigweißen Blüten das ganze Königreich. Die Menschen, die diese Blüten rochen, dachten nicht mehr ans Essen oder Trinken: sie wollten immer nur diesen himmlischen Duft einatmen.“(10) Das Verspeisen der Äpfel könnte ewige Jugend sichern, sie werden aber jedes Mal gestohlen. Die Suche nach dem diebischen Wesen führt einen Dummling zu seiner Braut. Himmlisches, der Duft einer überirdischen Welt spricht sich in dem paradiesischen Anfangsbild aus.
Verführend, betörend, sogar heilend duften auch die „Erzählungen aus den tausendundein Nächten“. Die Geschichte von dem Prinzen Ahmed und der Fee Peri Banu(11) erzählt von einem Apfel aus Kräutern und Mineralien. Wenn ein kranker Mensch „nur an diesem Apfel riecht, so wird er sich alsbald erholen, er wird gesund und geheilt.“ Kunstvoll ist er, aber doch ein Apfel. Spannend, neben Symbolischem, ist die heilende „Aromatherapie“.
„… wenn du sprichst, soll es angenehm duften!“ Die Geschenke der Schönen (Siebenbürgen)(12) erzählt von Wasserjungfern, die einem Mädchen einen Heilsegen schenken. Wenn das Mädchen grüßt, verbreitet sich der angenehmste Duft – eine Wirkung aus Anderswelten, wie sie in europäischen Märchen nicht häufig, aber dennoch erscheint.
Auch die chinesischen Blumenelfen(13) stammen aus anderen Welten, erinnern an die indischen Apsaras: „Wenn sie die Ärmel bewegten, so strömten sie einen lieblichen Duft aus. Es gab nicht ihresgleichen in der Menschenwelt.“ Der Gelehrte im Garten, den die Blumenelfen besuchen, erlangt geheimen Sinn und wird „unter die Unsterblichen versetzt“. Verfolgt man die tiefe Symbolik des Dufts dieser Mädchen anhand ihrer Pflanzen, so findet man einen erstaunlichen Weg der Einweihung in die Kenntnis des Weiblichen und des Heiligen.
Den Duft als Thema des Weiblichen zeigt schon das älteste schriftlich überlieferte Märchen, das Brüdermärchen, „das reichste … Märchen Ägyptens“.(14) „Der Duft der Haarlocke geriet in die Kleider des Pharao, und man schalt … ‚Es ist noch Parfümduft in den Kleidern des Pharao.'“(15) Eine duftende Locke führt dem Pharao eine Frau zu, von einem Gott geschaffen. Die Erzählung reflektiert die Duftkultur im alten Ägypten, aber auch Dufteigenheiten finden sich: Duft (ver)fliegt und stammt aus Zwischenwelten, er verführt und wandelt.
Märchen verdichten Düfte und tragen sie durch die Zeiten und in unsere Welt hinein. Geben wir uns Zeit für die -Märchen, genießen wir die hervorsteigenden Düfte und werden zu Duftkennerinnen!
Ziel:
Sensibilisierung des Duftsinns im Hinblick auf Märchen
Material:
Im Raum: Duft durch Aroma-Öl oder Pflanzen
Ablauf:
– Impuls: Die Leiterin lädt ein, sich auf das Thema „Wie duften Märchen? Unterwegs auf Nasenwegen“ einzulassen. Die Teilnehmerinnen schließen die Augen, nennen Wörter zur Umschreibung des Dufts
– Impuls: Die Leiterin liest oder erzählt ein Märchen; die Teilnehmerinnen werden gebeten, beim Zuhören auf Düfte zu achten. Sie erläutert
– „indirekte“ Düfte (z.B. Frau Holle, Hänsel und Gretel, Vom Sommer- und Wintergarten)
– „direkte“ Düfte (z.B. Die Geschenke der Schönen, vgl. Anm. 11, Die Blumenelfen, vgl. Anm. 1/12)
– Die Teilnehmerinnen beschreiben die „erhörten“ Düfte: Frau Holles Wiesenduft, gebackenes Brot… und notieren sie auf Karten. In der Mitte wird der „Rote Faden“ des Dufts ausgelegt, Duftworte werden „Stationen“ des Märchens zugeordnet (Frau Holle z.B.: Wiese – Kräuteraroma; Ofen – gebackenes Brot; Baum – süße Äpfel; Tor – Frische)
– Impuls: „Nasenweg durch das Märchen: Assoziationen verbinden Düfte mit Worten, Farben …“ – Die Teilnehmerinnen werden angeregt, einen „Duftweg“ zu gestalten, der transportabel und gleichzeitig als Märchenerfahrung begehbar ist. Dabei können folgende Schritte gemacht werden:
– Gespräch in kleinen Gruppen: Wie könnte eine „Station“ auf dem Duftweg aussehen? Die Idee der Gruppe wird auf große Papierblätter (farbig) gezeichnet und so festgehalten.
– In der Großgruppe werden die Ergebnisse der Gruppenarbeit einander vorgestellt. Dann werden die entstandenen einzelnen Etappen mit assoziierten Aromaölen „beduftet“, weiter mit Pflanzenteilen, ausgelegten Gewürzen… ausgestaltet und schließlich zu einem Weg ausgelegt.
– Die Teilnehmerinnen „ergehen“ den Duftweg mit geschlossenen Augen.
– Gesprächsimpuls: „Welche Erfahrungen wurden gemacht, wo tauchen Düfte auf, können Situationen charakterisiert werden?
– Weiterführend kann gemeinsam ein duftendes „Märchenbrot“ der Frau Holle (siehe Seite 78) oder eine Ölmischung zu einem Märchen oder eine Märchensalbe hergestellt werden.
– Abschluss im Kreis: „Ich schenke dir einen Märchenduft“ – Die Frauen schenken ihrer jeweiligen Nachbarin einen Märchenduft, zum Beispiel: „Ich schenke dir den Duft einer weißen Rose, wie sie Schneeweißchen begleitet …“
Hildegard von Campe, geb. 1960, war Lehrerin für Deutsch und Kunst. Heute arbeitet sie freiberuflich als Märchenpädagogin. Sie schreibt über Märchen, gibt eine Märchenzeitschrift heraus, macht Märchenseminare und legt Märchengärten an.
Kontakt: h.v.campe@t-online.de
Anmerkungen:
1 In: „Rosen- und Blumenmärchen“, Bd. 2, hgg. von S. Kübler u. A. Kenntemich, Steinfurth 1995, S. 16 ff
2 Zitate aus Grimms Märchen stammen aus: Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Ausgabe letzter Hand, Stuttgart 2001
3 Paolo Rovesti, Susanne Fischer-Rizzi: Auf der Suche nach den verlorenen Düften, München 1995, S. 1
4 wie Anm. 1, Bd. 1
5 in: „Forum / Aromatherapie, Aromapflege, Aromakultur“, Ausgabe 35, Kempten 2010, S. 9
6 „Die Rose des Königs“, in: Armenische Märchen, hgg. von Leon Surmelian, Frankfurt 1991
7 Enzyklopädie des Märchens, Bd. 5, hgg. von R. W. Brednich, Berlin, New York 1999, Spalten 1097 bis 1102
8 U.a. zu finden in: Chinesische Märchen, Mythen und Legenden, vorgestellt u. nacherzählt von Ulf Diederichs, München 2009
9 „Von der duftenden Blume Ylang-Ylang“, in: Der wundersame Baum, Philippinische Märchen, erzählt von J.Genzor, Tschechoslowakei 1978, S. 86 ff
10 „Äpfel der Unsterblichkeit“, in: wie Anm. 7, S. 39 ff
11 in: Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten, Band 3, übertragen von Enno Littmann, Lizenzausgabe Kometverlag, S. 7ff
12 in: Märchen von Nixen und Wasserfrauen, hgg. von Barbara Stamer, Krummwisch bei Kiel 2007,
S. 33ff
13 in: wie Anm. 1, S. 61
14 Überlieferung von ca. 1200 v.Chr., in: Emma
Brunner-Traut, Altägyptische Märchen, München 1991, S. 289f
15 wie Anm. 13, S. 66
Infokasten:
Frau Holles duftende Brötchen
– 3 Handvoll duftende Kräuter von Frau Holles Wiese, ein wenig aufein-ander abgestimmt, jahreszeitlich -variierbar, z.B. Bärlauch, Gundel-rebe, Minze, Thymian – oder als süße -Variante eine paar abgezupfte Holunderblüten und Süßdolde
– 100 g Frischkäse
– 200 g Dinkelmehl
– 3 TL Backpulver
– 10 EL Milch (bei der süßen Variante zum Teil durch Holunderblütensirup ersetzen)
– 1 Ei
– 2 EL Butter
Kräuter fein schneiden, Mehl, Backpulver, Ei, Butter und Frischkäse in einer Schüssel vermengen. Die gehackten Kräuter und 8 Esslöffel Milch darüber geben, zu einem Teig kneten.
In 10 Teile teilen und zu Brötchen formen, die Oberfläche nach Wunsch einkerben und mit der restlichen Flüssigkeit bestreichen.
Bei 180-200° C etwa 30 Minuten, manchmal auch weniger, backen.
Die letzte Ausgabe der leicht&SINN zum
Thema „Bauen“ ist Mitte April 2024
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