Ausgabe 1 / 2013 Material von Karl-Josef Kuschel

Wenn es den Himmel gäbe

Von Karl-Josef Kuschel

Im Jahr 1981 erhält Martin Walser den Georg-Büchner-Preis und wagt in seiner Festrede die Frage zu stellen: „Ob ein Kind, das in einer komplett atheistischen Familie aufwächst, noch erschreckt, wenn es 15 oder 19 wird und selber erlebt, dass Gott fehlt? Oder vermisst so jemand überhaupt nichts? Ich möchte annehmen, auch ein richtiges Atheistenkind muss, bevor es in das Gottlosigkeitsstadium seiner Eltern eingehen will, durch ein Dickicht durch, in dem Gott mit jedem Ast den Weg verbaut und unerreichbar ist, sobald man glaubt, man brauche ihn. Womit ich nur sagen will: Auch wir, die wir seit Jahrzehnten zuschauen, wie Gott in den Laboratorien der Theologie zerbröselt wird …, auch wir können noch in den Schrecken dieses jungen Büchner fallen, wenn wir wieder einmal zahnwehhaft scharf spüren, dass Gott fehlt.“

Was stellen solche Sätze dar? Eine Art Versuchsballon, den man rasch wieder aus dem Blick verliert? So sah es zunächst aus. Walser schien die Frage nach dem „Fehlen Gottes“ nicht weiter zu interessieren. Sein weiteres Roman-Werk zeigt das. Dreißig Jahre später, im Jahr 2012, veröffentlicht er aber einen großen Essay und stellt überraschend eine der großen Fragen des christlichen Glaubens neu zur Debatte: Nicht Rechthaben und Rechtbekommen, sondern „Rechtfertigung“. Darin finden sich die Sätze: „Wenn ich von einem Atheisten, und sei es von einem ,bekennenden', höre, dass es Gott nicht gebe, fällt mir ein: Aber er fehlt. Mir.“

„Ich brauche ihn“. Kein Autor der Gegenwartsliteratur hat sich jüngster Zeit Walser vergleichbar derart leidenschaftlich mit der Frage auseinandergesetzt, wie heute, wenn überhaupt, von Gott zu reden wäre … In „Muttersohn“ war Walser noch „in der Deckung“ geblieben, hatte die Glaubensproblematik mithilfe von Stellvertreter-Figuren behandelt. In „Rechtfertigung. Eine Versuchung“ tritt er aus der Deckung und formuliert direkt und persönlich, und zwar in einer bestechenden Mischung aus Selbst-, Atheismus- und Glaubenskritik. Zur Selbstkritik gehört bei Walser das Eingeständnis, dass das Gefühl für den „Mangel Gottes“ bei ihm lange „eingeschlafen“ und erst durch die Lektüre eines Schlüsselwerks der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts wieder geweckt worden sei: durch den Römerbrief-Kommentar des Schweizer Theologen Karl Barth, mit dem dieser 1919 auf die epochale Krise von Kultur, Kirche und Christentum nach dem ersten Weltkrieg reagiert hatte.

Neben Barth wird gerade Nietzsche ebenfalls ständig zitiert. Aber Nietzsches Leidenschaft? Sie ist heute einem banalen Atheismus gewichen. Walser berichtet vom Fernsehauftritt eines „Publizisten“ und „Atheisten“ und beobachtet bei diesem eine aufreizende „Selbstzufriedenheit“, ein „parodistisches Toleranzgesicht“ gegenüber demjenigen, der in derselben Sendung den Glauben an Gott verteidigt. Zu diesem Atheisten fällt Walser nur dies ein: „Er hat keine Ahnung. Und wenn es hundertmal Gott nicht gibt, dieser Atheist hat keine Ahnung. Beweisen könnte ich das nicht. Aber dass es nicht genügt zu sagen, Gott gebe es nicht, ahne ich. Wer sagt, es gebe Gott nicht, und nicht dazusagen kann, dass Gott fehlt, der hat keine Ahnung.“

Selbstzufriedenheit aber gibt es für Walser auch aufseiten einer Kirche, die sich in ihrem „bürgerlichen Zustand“ eingerichtet hat. Mit Nietzsche und Barth im Bunde, unterzieht er den hier „ermäßigten, den anschaulichen Gott“ schärfster Kritik, denjenigen „Gott“, den Menschen brauchen, um ihre Gefühle für das Wahre, Gute und Schöne noch etwas „religiös“ zu überhöhen, den „Gott“ als „Menschenwerk“ also … Ich kann mich an keinen Fall erinnern, in dem ein Schriftsteller der Gegenwartsliteratur ein ähnliches öffentliches Exerzitium zur Einübung angemessener Gottesrede vorgelegt und sich derart leidenschaftlich und kritisch aufs theologische Terrain gewagt hätte.

Textauszüge aus:
Publik-Forum
Nr. 19?/?05.10.2012
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