Ausgabe 2 / 2021 Material von Hanne Finke

Wenn ich hier weg bin

Deniz Ohdes Streulicht rezensiert

Von Hanne Finke

Ein Mädchen wächst Anfang der 90er am Rand eines westdeutschen Industriegebietes in einer Arbeiterfamilie mit türkischer Mutter und gewaltbereitem, deutschen Vater auf. Mit vielen Einzelheiten und klarer Sprache macht Deniz Ohde es leicht, in die herausfordernde Geschichte ihres Romans Streulicht einzutauchen.

Die Protagonistin kommt als junge Studentin an den Ort ihrer Kindheit zurück, an den Ort der Sprachlosigkeit und des fortwährenden Bemühens, dazuzugehören. Nie weiß sie, ob im Elternhaus oder außerhalb, wie sie sich verhalten soll, „ob ich die richtige Haltung hatte, schon bevor ich das Schulgelände überhaupt betrat.“ Nicht voyeuristisch, sondern durchscheinend und schonungslos offen, zeichnet die Ich-Erzählerin ihre Familie, ihre Welt.

Bemerkenswert die Zwischentöne – das, was mitschwingt. „‚Woher stammt deine Familie, zum Beispiel?‘ fragte die Lehrerin. ‚Du bist deutsch, oder?‘, sie fragte es in sich vergewisserndem Tonfall, du kommst mir normal vor. Noch immer sah sie mich mit runden Augen an; sie wollte mir helfen. ‚Meine Mutter kommt aus der Türkei‘, sagte ich. ‚Ach so, na guck mal, siehst du! Da hast du doch was! – Du fühlst dich aber gut integriert, oder?'“ Wie so oft entlarvt die Autorin das Nichtgesagte, die Abwertung und die Hilflosigkeit.

Bedrückende Situationen werden lebendig in Lichtverhältnissen geschildert, die aufzeigen, in welch komplexen Diskriminierungsstrukturen das Leben stattfindet. Streulicht ist, was entsteht, wenn Lichtwellen durch Staub oder Nebel gebrochen werden und die eigentümliche Stimmung aufkommt, im Ort am Rande eines Industrieparks: „Die Luft verändert sich, wenn man an die Schwelle des Ortes tritt. Eine feine Säure liegt darin, etwas dicker ist sie, als könnte man den Mund öffnen und sie kauen wie Watte. Niemandem hier fällt das mehr auf, und auch mir wird es nach ein paar Stunden wieder vorkommen wie die einzig mögliche Konsistenz, die Luft haben kann. Jede andere wäre eine fremde.“ Diese Luft ist das Vertraute, während die „fremde Luft“ für das Mädchen eine schier unüberwindbare Barriere darstellt.

Doch dort sind Lebens- und Entfaltungswille, Mut und Durchhaltevermögen. Etwa, wenn die junge Frau erzählt, dass sie als Schülerin gegenüber der bildungsbürgerlichen Freundin damit prahlt, das ganze Wochenende zu lesen, statt zu feiern. Das Buch, das der kaufsüchtige Vater besorgt, heißt: ‚Bildung. Alles was man wissen muss‘. Sehnsuchtspotential für das Mädchen!

Es sind Überlebensstrategien in der Zerrissenheit der Welten, die Deniz Ohde detailgetreu aufzeigt: „Ich kam zu dem Thema zum Teil durch meine eigene Biografie und zum Teil auch, weil mich interessiert hat, wie Diskriminierung durch soziale Herkunft sich in das Innenleben eines Menschen niederschlägt.“

Die Besonderheiten und Wahrheiten dieses Romans lassen sich nicht wiedergeben, sie können nur miterlebt werden. Und deswegen trotz der absoluten Leseempfehlung: Vorsicht vor dem inneren Beben!

Bibliographische Angabe: Deniz Ohde, Streulicht, Berlin [Suhrkamp] 2021.

Ein Portrait der Autorin anl. des Deutschen Buchpreises 2020 gibt es hier:
www.youtube.com/watch?v=cY5Q9JymDAo

Hanne Finke ist Dipl-Pädagogin und beruflich als Gleichstellungs- beauftragte, in der Familienberatung und Sozialarbeit tätig gewesen; ehrenamtlich seit 40 Jahren in der Frauenarbeit der Hann. Landeskirche, u.a. Teilnahme und Mitarbeit in Fernstudien- gängen „Theologie geschlechterbewußt“, sowie in Gremien von Kirchenkreisen, seit 33 Jahren Leitung von Literaturkursen.

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