Alle Ausgaben / 2016 Frauen in Bewegung von Andrea Blome

Wenn Menschen ihre Herzensanliegen tun, dann tun sie es gut

Sandra Wild ist Visionssuche-Leiterin auf der Schwäbischen Alb

Von Andrea Blome

„Es gibt Zeiten in deinem Leben, da ist es nötig alles hinter dir zu lassen. Zeit, hinauszugehen und mit Gott alleine zu sein, mit der Natur, mit ihren Wesen. (…) Und an diesem einsamen Ort geht der Mensch auf Innenschau, erhält wie ein Geschenk Antworten, Klarheit, eine Vision, die er mit zurücknimmt zu seiner Gemeinschaft, auf dass sie weiter bestehen kann und blüht und damit das Leben weitergeht.“ (Steven Foster)

Drei Steine sind der Briefkasten. Liegen sie aufeinander, heißt das „Mir geht es gut“. Wer vier Tage und vier Nächte allein in der Wildnis verbringt, um sich selbst näher zu kommen, braucht solche kleinen Sicherheitsanker. Sie sind Teil des Settings, in dem eine Visions­suche stattfindet.
Eine Visionssuche, amerikanisch Vision Quest, ist im Grunde ein Ritual. „Alle Kulturen kennen Übergangsrituale zum Erwachsenwerden“, sagt Sandra Wild. „Visionssuche bedeutet in der Urversion Erwachsenwerden. Es geht darum, einen Platz zu finden und Antworten auf die Fragen: Was passt zu mir? Was sind meine Fähigkeiten? Was will ich tun? Und: Was wird in der Gemeinschaft gebraucht?“

Sandra Wild ist seit 2010 Visionssuche-Leiterin. Sie begleitet Menschen, die Klarheit gewinnen wollen, sich spüren oder besser verstehen, Krisen bewältigen oder Entscheidungen finden wollen – und dafür eine Zeitlang die Zivilisation hinter sich lassen. „Man kann mit allem, was einem auf dem Herzen liegt, in die Natur gehen“, sagt sie. „Die Landschaft ist ein Spiegel der Seele. Die Natur ist Abbild der Schöpfung, ich bin auch Teil der Schöpfung und indem ich mich in diesem Schöpfungsspiegel betrachte, kann ich mich mehr wahrnehmen.“

Die Rahmenbedingungen einer Visionssuche sind schnell beschrieben: Vier Tage und Nächte in der Natur unter freiem Himmel, ohne Essen oder ein Dach über dem Kopf, allein und ohne Kontakt zur Außenwelt, eine Nacht ohne Schlaf. Eine Matte und ein Schlafsack, eine Plane gegen Regen und genug Wasser – „alles, was man braucht, um warm und trocken zu sein“. „Das hat nichts mit Survival zu tun“, sagt Sandra Wild, die Visionssuchen auf der Schwäbischen Alb anbietet. „Es geht allein um die Innenerfahrung, die Begegnung mit der Natur und mit sich selbst.“

Wer an einer Visionssuche teilnimmt, sei oft auf der Suche, befinde sich an einer Lebenswende – vom Jugendlichen ins Erwachsenenleben, nach einer Trennung oder Krankheit, nach dem Auszug der Kinder oder dem Ausstieg aus dem Berufs­leben. Was auch immer der Anlass für eine Visionssuche sein mag, die konkrete Frage, mit der ein Mensch schließlich vier Tage lang in die Wildnis geht, findet er oder sie in der Zeit der Vorbereitung. Sandra Wild beschreibt diese als „vorweggenommene Visionssuche“.

Die Gruppe, die zu einer Visionssuche zusammenkommt, hat dabei vier Tage Zeit, um sich gemeinsam auf die Erfahrung vorzubereiten und einzulassen, eine Frage zu finden und einen Lagerplatz. Diese Vorbereitung ist geprägt von Naturaufgaben, die bereits zeigen, worum es geht: Bewusst in die Natur gehen, wahrnehmen und zur Ruhe kommen, in den Dialog mit der Natur eintreten und mitbringen, was man zu einer konkreten Frage gefunden hat. „Es ist beeindruckend zu sehen, wie unterschiedlich die Menschen in die Natur gehen und wie sie schon nach ein oder zwei Stunden zurückkommen“, sagt Sandra Wild. „Der eine geht den Berg rauf, die andere läuft hinunter zum Bach. Der nächste bleibt einfach stehen und schaut.“ In der Natur lasse sich oftmals das finden, was schwer in Worte zu fassen ist. Wie bei der Jugendlichen, von der sie erzählt. Das Mädchen sollte wie die anderen in ihrer Gruppe ein Symbol mitbringen, das für ihren Vater steht – und sie fand nichts. „Im Erzählen darüber wurde klar, wie abwesend der Vater in der Familie ist, der zwar alle mit seiner Arbeit ernährt, aber emotional nie da ist.“

In der Vorbereitung auf vier Tage in der Einsamkeit und fastend abseits der Zivilisation betrachten die Teilnehmenden Kindheitserfahrungen und Stärken, ihr Erwachsenwerden und Schattenerfahrungen, sie sprechen über Verantwortung und Perspektiven. Sie finden eine Antwort auf die Frage „Warum bin ich hier? Was will ich in den vier Tagen finden?“ Und sie bereiten sich ganz konkret vor, indem sie erfahren, welche Ausstattung sie brauchen, welche Sicherheitsregeln gelten und wie sie Hilfe bekommen, wenn sie sie brauchen.

Die Leiter und Leiterinnen einer Visionssuche begleiten Vor- und Nachbereitung und haben die Funktion der „Ältesten“. „Wir hüten das Feuer gemäß dem alten Mythos“, sagt Sandra Wild. „Wir sind im Basislager, halten den Raum physisch und geistig und sind mit den Teilnehmenden in Gedanken, im Gebet, in Gesang verbunden.“
Ihren Abschluss findet eine Visionssuche dann wieder in Gruppe, mit den Geschichten, die jede und jeder aus der Zeit der Einsamkeit mitbringt – und der Vorbereitung auf die Rückkehr in den Alltag.

Etwa 180 Visionssuche-Leiterinnen und -Leiter gibt es in Deutsch­land. Viele von ihnen haben diese Art der Begleitung von Menschen in Veränderungsprozessen bei Steven Foster und Meredith Little gelernt, die Vision Quest, inspiriert von indianischen Traditionen, für den westlichen Kontext entwickelten. In der Tradition der von ihnen gegründeten „School of Lost Borders“ arbeitet auch Sandra Wild. Dabei legt sie großen Wert darauf, dass sie ihre Arbeit weder schamanisch noch indianisch versteht. Ihr Angebot, das sie gemeinsam mit ihrem Ehemann anbietet, heißt „Schwäbische Visionssuche“. „Ich bin christlich geprägt aufgewachsen und habe diese Tradition tief verinnerlicht. Wenn etwas Neues hinzukommt, dann muss es sich für mich verbinden“, beschreibt sie den Prozess. „So finde ich zum Beispiel viele der indianischen Weisheiten komplett in der Bibel wieder. Ich versuche in meinen Wurzeln zu bleiben und nicht zu verbergen, was ich an Weisheit dazugelernt habe.“

Sandra Wild nahm 2007 erstmals an einer Visionssuche teil. Inspiriert hatte sie dazu ihr Therapeut, von dessen veränderter Ausstrahlung sie fasziniert war, als er von einer Visionssuche zurückkehrte. „Ich war einfach neugierig – und in einer für mich schwierigen Lebensphase“, erzählt sie im Rückblick. „Ich habe mich damals ganz kurzentschlossen angemeldet, ohne mich zuvor mit meiner Familie zu beraten oder organisatorisch zu klären, ob ich überhaupt Zeit habe. Das war eines meiner größten Ja in meinem Leben.“

Die gebürtige Schwäbin ist studierte Betriebswirtin, Diplom-Kauffrau. Während der ersten Schwangerschaft hatte sie das Studium zunächst unterbrochen und dann als junge Mutter das Diplom durchgezogen. Glücklich war sie mit dieser beruflichen Entscheidung nie – und hat auch nie in ihrem Beruf gearbeitet. Es war ein Weg, von dem sie früh wusste, dass er falsch ist und mit dem sie lange gehadert hat.
„Das war immer mein Lebensthema“, sagt sie heute und erzählt, dass sie ihre Diplomarbeit zu ihrer ersten Visionssuche mitgenommen hatte. Mit dem Wunsch, Klarheit für den eigenen weiteren Weg zu finden, hatte sie sich angemeldet. Mit dem Entschluss, sich selbst zur Visionssuche-Leiterin ausbilden zu lassen, kehrte sie zurück. „Am letzten Tag wusste ich: Das wird mein beruflicher Weg.“

Für Sandra Wild war die Visionssuche – wie für so viele Teilnehmende – ein Durchbruch zu neuer Selbst-Erkenntnis. „Nichts hat mein Leben und meinen Alltag je so verändert wie diese Tage.“ Und damit meint sie viel mehr als eine neue berufliche Orientierung. „Mein Verhältnis zur Natur hat sich zu 100 Prozent verändert“, sagt sie. „Ich war immer schon ein Naturmensch und gerne draußen, aber ich bin in eine andere Verbindung zur Natur gegangen.“ Noch im gleichen Jahr ihrer ersten Visionssuche begann sie mit der dreijährigen Ausbildung. Was für sie – und ihren Mann – erstaunlich war: In den zwei Wochen ihrer Abwesenheit, während des ersten Seminars, meldete auch er sich zu einer Visionssuche an. Dass sie einander mit ihren Lebens- und Berufswegen inspirieren, erlebten sie auch weiterhin. Alexander Wild ist Rechts­anwalt und machte zusätzlich eine Ausbildung zum Schlichter und Konfliktor, um als Mediator Konfliktparteien zu außergerichtlichen Lösungen verhelfen zu können. „Ich habe ihn gelöchert, weil er sich so veränderte in dieser Zeit“, sagt Sandra Wild. Und wieder war sie fasziniert von einer Möglichkeit, sich auch selbst weiterzuent­wickeln.

Heute ist auch Sandra Wild ausgebildete Schlichterin und Konfliktorin. Sie arbeitet freiberuflich für die Schlichtungsstellen in Tübingen, Ermstal und Stuttgart. Und auch in ihrer Mediationsarbeit integriert sie Elemente aus der Arbeit in der Natur, geht mit Klienten und Klientinnen nach draußen, um Inspirationen für Lösungen zu finden. „Schlichtung ist eine gute Alltagsarbeit“, sagt sie. „Visionssuche ist keine Alltagsarbeit, sie ist mein Herzensanliegen. Ich bin davon überzeugt: Wenn Menschen ihre Herzensanliegen tun, dann tun sie es gut.“

Sandra Wild ist eine der wenigen Visionssuche-Leiterinnen, die mit Jugend­lichen arbeitet und ist von dieser Arbeit überaus begeistert. „Mit Erwachsenen ist es einfacher, mit Jugendlichen ist die Arbeit herausfordernder, aber auch unmittelbarer. Ich wäre gern Sozialpädagogin geworden. Aber noch ein Studium, das war nicht möglich.“ Was sie bei der Visionssuche mit Jugendlichen auch erlebt: „Sie sind viel schneller und unmittelbarer bei ihren Gefühlen, sie haben den Kopf noch viel freier.“ Dabei passiert in der Visionssuche auch bei Er­wachsenen genau das: „Die zivilisa­to­rische Schicht ist nicht dicker als drei Tage“, so ihre Erfahrung. „Dann legen wir Mechanismen, Denkstrukturen, Schutz­strukturen ab und kommen unserem inneren Kern näher.“
Dabei legt sie unbedingten Wert darauf, dass das Ritual dem Menschen dient und nicht umgekehrt. „Es soll für niemanden eine Überforderung sein – keine Dogmatik, kein Überstülpen.“ Erst in dieser Freiheit könne Neues wachsen. „Viele Erwachsene sagen, dass sie in der Visionssuche erwachsen geworden sind. Sie holen etwas nach, verstehen, was sie nicht gelebt haben.“

Mit 41 ist Sandra Wild nochmals Mutter geworden und hat heute neben zwei großen Kindern auch einen Vierjährigen. „Im Moment habe ich nicht so viele zeitliche Möglichkeiten, Seminare zu geben. Jetzt ist meine Vision, wieder Mama zu sein.“ Gleichzeitig ist sie vollauf mit dem Bau eines Häuschens auf der Schwäbischen Alb beschäftigt. Hier sollen auch Räume entstehen, in denen die Visionssuche-Arbeit Platz hat. Aktuell entwickelt sie gemeinsam mit ihrem Mann ein komprimiertes Wochenendangebot für Menschen, die einen Einstieg in diese Ritualarbeit finden wollen. Und vielleicht entsteht aus der Beobachtung, dass Mütter und Kinder oft zu wenig Raum haben, dann ein ganz neues Angebot.

Andrea Blome, geb. 1965, ist Journalistin in Münster und zurzeit vertretungsweise Redakteurin der ahzw.

Sandra Wild, geb. 1970, lebt mit ihrem Mann und drei gemeinsamen Kindern (19, 16, 4 Jahre) in Reutlingen, am Fuße der Schwäbischen Alb. Sie ist Diplom-Kauffrau, Schlichterin, Visions­suche-Leiterin, ausgebildet in hawaiia­nischer Lomi-Lomi Nui Massage, körper­therapeutischer Atemarbeit, ­anthroposophischer Meditation, Geomantie und Erdheilung. Seit 2010 bietet sie Visionssuchen an.

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