Alle Ausgaben / 2012 Material von Cornelia Elke Schray

Wer loslässt wird gehalten

Von Cornelia Elke Schray


Eine Freundin besucht mich. „Man sieht gar nicht, dass du erst seit drei Wochen hier wohnst“, sagt sie. Innerlich stöhne ich auf. Der Umzug war mein sechster in den vergangenen 16 Jahren. Sie wohnt seit Jahrzehnten wieder im Ort ihrer Kindheit. Sie hat eine Heimat auf dieser Welt, mit der sie tausende von Lebensfäden verbinden. Ich bin eine moderne Nomadin, die zwar komfortabel mit Spedition ihre Zelte auf- und abbaut, aber entwurzelt ist. „Ja“, sage ich, „das brauche ich so. Sobald ich die Haustür aufmache, ist alles fremd: die Menschen, die Landschaft, die alltäglichen Wege. Da möchte ich wenigstens meine Bücher und Bilder sichtbar um mich haben. Das ist meine Heimat.“

Szenenwechsel. Ein traumhafter Sommermorgen. Die Tageszeitung liegt auf dem Frühstückstisch im Garten. Eine Todesanzeige mit einem Sonnenuntergang im Hintergrund sticht ins Auge. Eine 90-jährige Frau ist gestorben. Die Angehörigen haben den Vers Hebräer 13,14 ausgewählt: Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Um mich herum das sprudelnde Leben in Grün – in der Zeitung die Erinnerung an den Tod in Schwarzweiß. „Du riechst nicht nach Bleiben“, schreibt Hilde Domin. Und: „Ein Heim ist kein Heim“. Ich bin ein Gast auf Erden. So singen wir bei Beerdigungen und hoffen heimlich, dass es für uns noch viel Leben vor dem Tod gibt, weil das, was danach kommt, bei allem Glauben, für uns Lebende ein fremdes Land ist.

Szenenwechsel. Der Patenonkel unserer Tochter ist am Telefon. Sie haben ein neues Pflegekind, wenige Wochen alt. Die leibliche Mutter hätte es nicht versorgen können. Bei uns, erzählt er weiter, soll die Kleine eine neue Heimat bekommen. Wir möchten ihren Weg ins Leben mit viel Liebe begleiten und ihr Geborgenheit geben.

Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Der biblische Vers beschreibt so manche Lebenssituation. Wir kommen auf der Erde an und sind Bedürftige, die noch viele Jahre auf die Fürsorge anderer Menschen angewiesen sind. Dann werden wir älter – und mit jedem Jahr geht es mehr darum loszulassen. Ein Kind verlässt das Elternhaus zum Studium. Menschen müssen umziehen und verlieren ihr soziales Netz, ihre Freunde, die Nestwärme ihres Hauses. Der Hund, ein treuer Begleiter über viele Jahre, stirbt. Ehen scheitern. Familien zerbrechen. Unser Körper verändert sich, und es gilt, die vergangene Jugendlichkeit in Würde loszulassen. Und am Ende geht es für uns alle um den großen Abschied von unserem diesseitigen Leben.

Wer loslässt wird gehalten. Ist das so? „Was wir so fest in Händen halten, das ist uns alles nur von Gott geliehen, wir dürfen es verwalten, wir dürfen es gestalten und geben es zurück an ihn“, singt ein christlicher Liedermacher. Dass das Loslassen nicht leicht ist, hat jede und jeder schon erlebt. Hoffentlich aber auch, dass es eine große Befreiung sein kann, Altes zurückzulassen und neu anzufangen. „Ich will mich ändern aus Freude an der Welt und aus Liebe zum Leben.“ Den Satz empfahl ein Arzt mir als Leitspruch. Verwandlung mit Leichtigkeit und Glücksgefühlen, nicht mit roher Gewalt. Eine gute Botschaft. Viel zu selten wird uns gelehrt, dass das Vertrauen in eine höhere Macht, die es in unserem Leben gut mit uns meint, die halbe Miete ist. Langsam wachsen und reifen wir. Manchmal müssen wir uns dann wie die Raupe in einem Kokon verkriechen, um nicht nur zu sein, sondern zu werden. Wir sind Vorübergehende und ahnen verdrängend immer unsere Vergänglichkeit. Dieses Wissen mit Leben zu erfüllen, ist nicht leicht. Gnädig erscheinen uns die Tage, an denen wir zum Schmetterling werden und uns frei von Zwängen, stark, dem Leben gewachsen fühlen. „Wir machen den Weg frei“, so das großspurige Versprechen der Werbung. „Gott ist da, heute und morgen“, wäre das bessere Motto. Und keine leere Phrase. Der Mensch riecht nicht nach Bleiben. Aber wer loslässt, fällt nicht ins Bodenlose. Wird gehalten. Ganz sicher.

– Impuls: Wo stehe ich gerade? Ruht mein Leben einem Aufbruch entgegen oder habe ich bereits Neuland erobert und fühle mich davon beflügelt? Wo fällt es mir schwer loszulassen, wo ist es leichter für mich? Wo habe ich Gottes Fürsorge erfahren?

– Jahreslosungskarte und Segen (s. S. 43)

© bei der Autorin

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