„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“ Mit Artikel 1 des Lissaboner Vertrags definiert sich die Europäische Union als Wertegemeinschaft.
Solidarität der Mitgliedsstaaten untereinander und als Ziel der internationalen Politik gehört selbstverständlich auch zu den Werten, die das Selbstverständnis der EU prägen.
Dass diese Werte mehr hehrer Anspruch denn Maßstäbe der realen Politik sind, wurde jüngst im Umgang mit den Herausforderungen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise ebenso deutlich wie in den Reaktionen auf die revolutionären Umbrüche in Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens.
Als im Frühjahr 2011 die ersten Boote aus Tunesien und Ägypten die Küsten Europas erreichten, war die Aufregung groß. Abschottung der Außengrenzen gegen den „menschlichen Tsunami“ und „Flüchtlingsströme biblischen Ausmaßes“ wie Debatten über strengere Einwanderungsgesetze bestimmten die politische Agenda. Während innerhalb Europas Grenzkontrollen weitgehend abgeschafft sind, wurden die europäischen Außengrenzen massiv gestärkt und zu Schutzwällen vor so genannten Drittstaatsangehörigen ausgebaut. MenschenrechtlerInnen und FlüchtlingsschützerInnen sprechen von der „Festung Europa“, an deren Toren täglich Menschen abgewiesen werden. Tausende Schutzsuchende sind auf dem Weg nach Europa gestorben. Das Mittelmeer ist zum Massengrab geworden – allein im vergangenen Jahr sind dort nach Angaben des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen etwa 2.000 Menschen ertrunken. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein, viele der Vermissten bleiben verschollen. Die Festung Europa ist für Flüchtlinge und MigrantInnen unerreichbar geworden.
MigrantInnen werden allgemein als Personen beschrieben, die ihren Wohnort durch das Überschreiten einer Staatsgrenze wechseln, wobei die Motive dafür nicht betrachtet werden. Dem gegenüber gibt es eine sehr genaue völkerrechtliche Bestimmung des Flüchtlings. Die Genfer Flüchtlingskonvention definiert einen Flüchtling als Person, die sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt oder in dem sie ihren ständigen Wohnsitz hat, und die wegen ihrer „Rasse“, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung hat und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht vor Verfolgung nicht dorthin zurückkehren kann.
Im Jahr 2010 zählte das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen weltweit 15,4 Millionen solcher Flüchtlinge. Nur ein Bruchteil davon kommt nach Europa, die Mehrheit bleibt in den Ländern des Südens. Gerade die ärmsten Länder der Welt haben eine besonders große Zahl von Flüchtlingen aufgenommen. Die größten Flüchtlingsbevölkerungen der Welt lebten im letzten Jahr in Pakistan (1,9 Millionen), Iran (1,1 Millionen) und Syrien (1 Million).
Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich zur Genfer Flüchtlingskonvention bekannt. Entscheidend darin ist das Non-Refoulement-Gebot, das es dem Unterzeichnerstaat verbietet, Flüchtlinge in Staaten aus- oder zurückzuweisen, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit wegen ihrer „Rasse“, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung bedroht ist.
Eine wachsende Zahl schutzbedürftiger Menschen fällt aber nicht unter das Mandat der Genfer Flüchtlingskonvention. Die Folgen des Klimawandels und Armut zwingen Menschen schon heute vielerorts, ihre Heimat zu verlassen. Einen Rechtsanspruch auf Schutz haben sie nicht. Auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen und Entwicklungschancen, haben sie kaum eine Möglichkeit, legal nach Europa zu gelangen. Europa ist nur an gut ausgebildeten Menschen interessiert, die zum Wirtschaftswachstum der Wertegemeinschaft beitragen – und das vorzugsweise nur für bestimmte Zeit und nicht auf Dauer. Während Entwicklung weltweit als legitimes Ziel angesehen ist, gilt die Nutzung konkreter Entwicklungschancen durch Migration als illegal. Und diejenigen, die es dennoch versuchen, werden allzu oft als Kriminelle gebrandmarkt.
Dabei befördert gerade auch die internationale Politik der EU den Zwang zur Migration, indem strukturelle Ungleichheit zementiert wird. EU-Agrarexportsubventionen und andere Formen des Agrardumpings beispielsweise machen es afrikanischen Kleinbauernfamilien unmöglich, im eigenen Land gegenüber EU-Produkten konkurrenzfähig zu werden. Damit werden Lebensgrundlagen ebenso dauerhaft zerstört wie durch die europäische Fischereipolitik, die zulässt, dass hoch gerüstete Fangflotten die westafrikanischen Küsten leer fischen und damit die Lebensgrundlagen für Kleinfischer an den Küsten zunichte machen.
Jahrzehntelang hat sich die Europäische Union erfolgreich darum bemüht, das Elend der Flüchtlinge und MigrantInnen möglichst weit vom eigenen Territorium weg zu halten. Politische Unterstützung, Wirtschaftsförderung und Waffen wurden gegen das Versprechen eingetauscht, Flüchtlinge und MigrantInnen schon bei der Ausreise abzufangen und an der Weiterreise zu hindern. Wie genau diese Auslagerung der Grenzkontrolle umgesetzt wurde, daran zeigte sich die EU kaum interessiert, sogar systematische Menschenrechtsverletzungen wurden in Kauf genommen.
Mit Frontex hat die EU im Jahr 2005 eine Agentur geschaffen, die für den Schutz der europäischen Außengrenzen sorgen und illegale Einwanderung nach Europa verhindern soll. Dafür dirigiert Frontex nationale Einsatzkräfte bei der Küstenüberwachung und stellt bei Bedarf eine schnelle Eingreiftruppe von Grenzbeamten zusammen. Boote mit „irregulären“ MigrantInnen und Flüchtlingen werden abgefangen und in die Gewässer afrikanischer Staaten zurück eskortiert. Dafür stehen Hubschrauber, Boote, Radaranlagen und Wärmebildkameras zur Verfügung. Außerdem bildet Frontex Grenzschutzbeamte aus und koordiniert Abschiebungen von Drittstaatsangehörigen, wenn diese sich irregulär in der EU aufhalten. Das Interesse, Zuwanderung in die EU zu kontrollieren und „illegale“ Einwanderer abzuwehren, führt durch Frontex-Einsätze dazu, dass auch Flüchtlinge kaum eine Chance haben, in Europa Schutz zu suchen.
Das Recht Asyl zu beantragen wird also vielen Menschen auf der Flucht verwehrt. Traurige Beweise dafür sind beispielsweise Flüchtlinge, die bezeugen, dass ihnen ihr Recht auf Zugang zum Asylverfahren in den östlichen EU-Staaten verweigert wurde und sie ohne Prüfung der Fluchtgründe in die Ukraine abgeschoben wurden. Dort werden sie in Haftlagern ohne rechtsstaatliche Verfahren festgehalten. Betroffen sind auch Asylsuchende, die aus Bürgerkriegsregionen wie Somalia oder Afghanistan geflohen sind.
Die Flüchtlingsaufnahme in Europa ist durch die sogenannte Dublin II-Verordnung geregelt. Danach ist derjenige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, bei dem der oder die Schutzsuchende die Grenze übertreten hat. Das fordert besonders die Länder, die eine europäische Außengrenze haben, während andere (Binnen-) Länder wie Deutschland sich ihrer Verantwortung für den Flüchtlingsschutz entziehen können.
Gelingt es Ihnen trotz allem in Europa anzukommen, leben Flüchtlinge und MigrantInnen oft unter prekären Umständen. In Italien leben Flüchtlinge – sowohl asylsuchende als auch solche, die bereits einen Schutzstatus erhalten haben – großenteils im absoluten Elend und in Obdachlosigkeit. Die meisten landen ohne jede Hilfe im Nichts. Noch dramatischer ist die Situation für Flüchtlinge und Migranten in Griechenland.
Besonders verwundbar sind MigrantInnen durch Verletzungen ihrer wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Rechte, gerade dann, wenn sie ohne Arbeits- oder Aufenthaltsgenehmigung in Europa sind. Oft wird ihnen der Zugang zu öffentlicher Gesundheitsversorgung oder sozialer Sicherung verwehrt. Viele erleiden Rechtsverletzungen am Arbeitsplatz, besonders Frauen sind vielfacher Diskriminierung ausgesetzt. Auch die Ausübung der Religionsfreiheit wird erschwert. Zudem wächst in Europa im Zuge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise der Nährboden für rassistische und fremdenfeindliche Haltungen. ArbeitsmigrantInnen sind in vielen Fällen die ersten, die ihre Jobs verlieren oder Lohnkürzungen und schlechtere Arbeitsbedingungen akzeptieren müssen, wenn Arbeitgeber Einsparungen vornehmen. Oft sprechen MigrantInnen nicht die Sprache des Ziellandes, kennen die Gesetze und ihre Anwendungspraxis nicht und können nicht auf soziale Netzwerke zurückgreifen, um sich gegen Übergriffe, Ausbeutung und Misshandlungen zu wehren.
Wie kann die Europäische Union ihrem Anspruch gerecht werden, Menschenrechte zu achten, Minderheiten zu schützen und solidarisch zu handeln? Zunächst und vor allem darf die EU nicht weiter auf die Auslagerung der Flüchtlings- und Migrationskontrolle setzen. Zusammenarbeit beim Schutz von Flüchtlingen und MigrantInnen mit Nachbarstaaten der EU darf nur erfolgen, wenn diese die Menschrechte der Schutzsuchenden achten. Flüchtlinge in Länder zurückzuschieben, in denen die GFK nicht gilt oder missachtet wird, verletzt das Non-Refoulement-Gebot.
Innerhalb Europas muss eine gerechtere Verteilung der Aufnahme von Schutzsuchenden ausgehandelt werden; dabei sind die Bevölkerungszahl und die Stärke der Volkswirtschaft der EU-Mitgliedsstaaten einzubeziehen. Auf dem Weg in ein gemeinsames Schutzsystem müssen in allen EU-Staaten gleiche Standards eingefordert und umgesetzt werden. Das Dublin-II-Verfahren sollte mindestens so verändert werden, dass die Verteilung der Schutzsuchenden anderen Kriterien folgt. Familiäre, kulturelle, humanitäre oder sonstige Bindungen zu dem angestrebten Mitgliedstaat sind stärker zu berücksichtigen.
Weltweit leben etwa 800.000 Flüchtlinge ohne Perspektive auf ein menschenwürdiges Leben in provisorischen Lagern. Das sind Menschen, die in absehbarer Zeit nicht in ihre Herkunftsregionen zurück können, die aber trotzdem dauerhaft in einer Art Übergangslösung verharren müssen. Hier kann die EU ein deutliches Zeichen im Sinne der humanitären Solidarität setzen und einen Neuanfang anbieten. Im Jahr 2010 hat die EU insgesamt 6000 Resettlementplätze angeboten. Aber die Entscheidung für ein reguläres europäisches Neuansiedlungsprogramm steht noch aus.
Mit Blick auf Menschen, die ihre Heimatländer auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen verlassen, sollte Migration als entwicklungspolitische Aufgabe wahrgenommen werden. Dem entspräche es, auf europäischer Ebene endlich legale Einwanderungsmöglichkeiten – unter Einhaltung menschenrechtlicher Standards zum Schutz vor Ausbeutung und Diskriminierung – zu schaffen. Dies wären keine „gnädigen Angebote“, sondern Chancen für Entwicklung der Zielländer. Denn MigrantInnen bringen innovative Ideen mit und tragen zu wirtschaftlicher Entwicklung und Sicherung der sozialen Systeme bei. Sie wirken dem Trend der alternden Gesellschaften in Europa entgegen, befriedigen eine hohe Nachfrage nach Arbeitskräften, beispielsweise im Gesundheitssektor oder in der Landwirtschaft. Nicht zuletzt sind sie eine kulturelle Bereicherung.
Ziel:
sich über europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik informieren, sich mit den menschenrechtlichen Forderungen auseinandersetzen und eigene Handlungsmöglichkeiten entwickeln
Material:
– CD-Player / CD mit der Hymne der EU und des Europarates (Instrumentalfassung des Schlusschors „Ode an die Freude“ aus der 9. Symphonie von Beethoven)
– Pinwand, ein großes weißes Plakat in den Umrissen der EU, einen blauen (Stoff-)Hintergrund
– größere Karte mit dem Schriftzug „Wertegemeinschaft“; kleinere Karten mit den Begriffen Achtung der Menschenrechte / Freiheit / Demokratie / Gleichheit / Rechtsstaatlichkeit / Wahrung der Menschenrechte / Wahrung der Rechte von Personen, die Minderheiten angehören / Solidarität
– weitere Karten mit den Begriffen Festung Europa / Massengrab Mittelmeer / Auslagerung der Grenzkontrolle / Abschiebung ohne Prüfung der Fluchtgründe / Non-Refoulement-Gebot / Frontex / Dublin-II-Verordnung
– Textauszüge für die Gruppenarbeit
Kopiervorlagen sind für AbonnentInnen unter www.ahzw-online.de / Service zum Herunterladen vorbereitet.
Ablauf:
Einstieg
Was Sie hier vor sich sehen, sind die Umrisse der Europäischen Union.
Welche Länder gehören dazu? –
Sammeln im Plenum
Was fällt Ihnen ein, wenn Sie an Europa denken? – Austausch in Murmelgruppen
Die Leiterin bringt das Wort „Wertegemeinschaft“ mittig auf dem Umriss an, lässt Zeit für Reaktionen. Eine TN liest die beiden ersten Absätze des Artikels bis „…Selbstverständnis der EU prägen“ vor. Dabei werden die Karten mit den Werten auf dem Plakat angebracht.
Es folgt eine Einspielung der Europahymne. Nach einer Weile mischen sich Stimmen in die Musik, mal geflüstert, mal lauter (Festung Europa, Massengrab Mittelmeer…). Die Leiterin zeigt sich irritiert über die Stimmen und stellt die Musik lauter. Die Stimmen melden sich hartnäckig immer wieder zu Wort, stehen auf und bringen ihre Begriffe auf dem blauen Hintergrund an. – kurze Stille
Eine: Wenn ich diese Begriffe höre, fallen mir die Bilder aus dem Fernsehen ein – Bilder von Flüchtlingsbooten und Auffanglagern, von menschlichen Dramen an Europas Grenzen. Unliebsame Bilder werden geweckt… – Wenn ich jedoch die Begriffe Non-Refoulement-Gebot, Frontex, Dublin-II-Verordnung höre, muss ich gestehen, dass ich eigentlich gar nicht weiß, wovon die Rede ist. Was verbirgt sich hinter diesen Begriffen?
Erarbeitung in Kleingruppen
Jede Gruppe erhält einen Abschnitt aus dem obigen Beitrag, um darüber zu sprechen und ihn anschließend in eigenen Worten wiederzugeben:
– Seite 56/57: „Als im Frühjahr 2011 … unerreichbar geworden.“
– S. 57: Abschnitt „Aus Furcht vor Verfolgung“
– S. 57/58: Abschnitt „Auf der Suche nach Leben“
– S. 58: Abschnitt „Festung Europ“ bis „…Afghanistan geflohen sind.“
– S. 58/59: „Die Flüchtlingsaufnahme … zu wehren.“
Während die Gruppen ihre Ergebnisse vorstellen, werden nach und nach die Werte-Begriffe umgedreht oder abgenommen.
Handlungsoptionen
Die Eine liest wieder die Verfassungsgrundsätze vor (Beginn des Artikels), die Karten mit den Werten werden wieder angebracht.
Eine andere fragt: Was muss geschehen, damit die Europäische Union ihrem Anspruch gerecht werden kann?
Das Schlusskapitel „Was ist zu tun?“ wird in Abschnitten vorgelesen und immer wieder von einer Stimme unterbrochen: Was bedeutet das? Was ist damit gemeint? Alle sind dazu eingeladen, die einzelnen Forderungen zu erläutern.
Eine: Und was können wir konkret tun? Was kann ich dazu beitragen, dass Europa zu einer solidarischen und humanitären Wertegemeinschaft wird?
Sammeln konkreter Vorschläge / evtl. Vorstellen der Save-me-Kampagne
(siehe: www.save-me-kampagne.de); Link zur vertiefenden Arbeit –
Infomaterial zum Tag des Flüchtlings 2011: Europas Außengrenzen – Mauern verletzen Flüchtlingsrechte:
http://www.ekd.de/interkulturellewoche/material-bestellen.php
Abschluss
noch einmal die Musik hören
Sophia Wirsching, 30 Jahre, ist M.A. Politische Wissenschaften. Sie arbeitet als Beraterin für Migration und Entwicklung im Menschenrechtsreferat von Brot für die Welt.
Vorschlag für die Arbeit in der Gruppe:
Simone Kluge, Redaktionsbeirat ahzw
Die letzte Ausgabe der leicht&SINN zum Thema „Bauen“ ist Mitte April 2024 erschienen.
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