Alle Ausgaben / 2014 Artikel von Judith Königsdörfer

Wie Christus euch angenommen hat

Herausforderung für die weltweite Ökumene

Von Judith Königsdörfer


Nehmt einander an? Oje. Haben wir nicht schon genug damit zu tun, uns selbst anzunehmen? Unsere möglichen und unmöglichen Alltäglichkeiten? Das, was uns im Leben widerfährt, bei dem wir nicht gefragt werden, ob wir dazu ja sagen wollen oder nicht?

Und dann auch noch: wie Christus euch angenommen hat. Stimmt: Wir sind angenommen – von ihm. Aber einander so annehmen? Das ist die Aufgabe, die uns mitgegeben ist, die wir täglich praktizieren müssen, egal in welchem Kontext.

Im Herbst 2013 wurde ich in den Zentralausschuss des Ökumenischen Rats der Kirchen gewählt – und damit in einen Raum gestellt, in dem die gegenseitige Annahme eine große, nicht immer einfache, aber oft auch schöne Herausforderung ist. Dort müssen nicht nur jede Menge Dokumente „angenommen“ wer­den, an denen Expertinnen und Experten zum Teil Jahrzehnte gearbeitet haben, sondern vor allem die Schwester und der Bruder, die neben mir sitzen.


Durch Höhen und Tiefen

Seit meine Aufgabe in der weltweiten Ökumene begann, habe ich schon verschiedene Höhen und Tiefen der ökume­nischen Gemeinschaft miterlebt. Manche Prozesse laufen bereits seit Jahren, haben ihren Ursprung in konkreten politischen Ereignissen oder finden im ganz kleinen Alltäglichen statt. Auf der zehnten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Busan/Korea im Herbst 2013 erlebte ich eine wunderbare Gemeinschaft mit Geschwistern aus aller Welt. Ein Teil von Gottes bunter Familie versammelt an einem Ort. Und so verschieden die Nationen, Konfessionen und Einstellungen, so unterschiedlich waren die Geschichten, die Frauen und Männer aus aller Welt geteilt haben.
Die stärksten Erlebnisse von Annahme, allerdings auch von Nicht-Annahme, hatte ich in der Vorkonferenz der Männer und Frauen. Es war erschreckend zu hören, dass Frauen in vielen Teilen dieser Erde noch immer nicht als vollwer­tige Mitglieder der Gesellschaft, geschweige denn der christlichen Gemeinschaft angesehen werden; allein ihr Frausein reicht aus, um sie als Menschen zweiter Klasse zu behandeln, sie beispielsweise von geistlichen Ämtern auszuschließen. Ich denke, wir machen uns viel zu selten bewusst, wie sehr alles miteinander zusammenhängt und miteinander verknüpft ist. Dabei brauchen wir einander doch wie die Luft zum Atmen. So sprachen wir uns zu: Du bist mir wichtig, ich brauche dich, um zu überleben. Was dieser Zuspruch für die andere oder den anderen, aber auch für mich selbst bedeutet, lässt sich kaum in Worte fassen. Es ist so etwas wie die sprichwörtliche selig machende Kraft. Wie immer es meinen Geschwistern geht, wo immer sie sind – aneinander zu denken und füreinander zu beten ist ein starkes, ja ein unverzichtbares Zeichen von Solidarität. Diese intensive Kraft der Solidarität ist das, was mich für meine Arbeit in der Ökumene brennen lässt.

Konfessionsgrenzen überwindend

In einem derart großen Gremium wie einer Vollversammlung – oder jetzt in meinem Amt im Zentralausschuss – geht es oft auch darum, einander in den verschiedenen Konfessionen anzunehmen. Wo können wir gut miteinander, wo ist es leicht, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen? Welchen Dokumenten und Statements kann ich zustimmen, sowohl als Person als auch als Vertreterin meiner Kirche? Wo kann ich VertreterInnen anderer Konfessionen zugestehen, dass sie eine andere Meinung haben? Und wenn sie partout nicht von ihrem Standpunkt abrücken: Wie sieht es dann mit Einheit und Annahme aus?

Die ökumenische Gemeinschaft fühlt sich so einfach an, solange wir über das große Ganze sprechen. Wer wäre schon für Klima- oder Wirtschaftsungerechtigkeit? Wer für die Ausbeutung der Armen und Schwachen? Wer wollte sich dem Dialog mit anderen Religionen verweigern, wo es doch heute, angesichts der vielen Katastrophen und von Menschen gemachten Grausamkeiten so offenkundig „dran“ ist, gemeinsam an einem Strang zu ziehen?

Annahme und Einheit sind in der weltweiten Ökumene leicht, solange wir die konkreten Streitpunkte wie Sexualethik, Frauen- und Menschenrechte oder die finanzielle Beteiligung der einzelnen Mitgliedskirchen ausblenden. Zwar gibt es mittlerweile deutlich mehr Frauen in Gremien und Leitungspositionen, als noch vor einigen Jahren. Aber festgesetzte Quoten, beispielsweise die F-L-Y-Quote,1 sind längst nicht erreicht und werden regelmäßig von verschiedenen Mitgliedskirchen ignoriert. Ebenso könn­ten deutlich mehr Mitgliedskirchen als bisher ihrer Verantwortung nachkommen und angemessen zur Finanzierung der gemeinsamen ökumenischen Arbeit beitragen.

Aber es gibt auch sehr erfreuliche Entwicklungen. Einen großen Fortschritt bedeutet das Missionspapier Gemeinsam für das Leben. Mission und Evangelisation in sich wandelnden Kontexten. Macht man sich bewusst, wer alles in der ExpertInnen-Kommission an diesem gemeinsamen Verständnis von Mission und Evangelisation mitgearbeitet hat, mutet das Ganze wie eine Meisterleistung an. Beteiligt waren nicht nur VertreterInnen des ÖRK, sondern auch der Römisch-Katholischen Kirche, Evangelikale und PfingstkirchlerInnen sowie VertreterInnen von indigenen Kirchen in der ganzen Welt. Wir, die VertreterInnen der im ÖRK zusammen arbeitenden Kirchen, sind im Dialog mit anderen Konfessionen und nehmen sie in ihrem Anderssein nicht nur an, sondern auch ernst. Und wir tun gut daran, denn manche Aufgaben lassen sich nicht allein bewältigen oder lassen sich im Dialog besser gestalten. Und Mission ist eine dieser Aufgaben, die über die Grenzen des Ökumenischen Rates hinaus gestaltet werden können.


Mit Schritten der Versöhnung …

Gegenseitiges Annehmen ist im Ökumenischen Rat auch bei der Wieder-Aufnahme ehemaliger Mitgliedskirchen gefragt. So wurde zum Beispiel die Niederländisch-Reformierte Kirche auf der Sitzung des Zentralausschusses des ÖRK im Juli 2014 in Genf wieder in die Gemeinschaft aufgenommen, nachdem sie während der Apartheid in Südafrika ausgeschlossen worden war. Es war bewegend zu erleben, wie groß die Freude bei VertreterInnen dieser und anderer südafrikanischer Kirchen war, als über die Wiederaufnahme positiv abgestimmt wurde. Vorausgegangen war eine tiefgreifende Veränderung dieser Kirche in den letzten beiden Jahrzehnten, nicht zuletzt ein ehrlicher Versöhnungsprozess.

Annahme und Versöhnung, das sind Themen, die die koreanischen Kirchen besonders bewegen. Die Vollversammlung des ÖRK 2013 in Busan hatte auch insofern hohe politische Brisanz, als sie auf dem Gebiet des seit 1953 geteilten Landes stattfand, dessen beide Teile nicht eben für einen warmherzigen Dialog untereinander bekannt sind. Zudem durfte auf dieser Vollversammlung – erstmals in der Geschichte des ÖRK – kein Vertreter aus Nordkorea teilnehmen. Umso bemerkenswerter, dass bereits im Juni 2014 ein Treffen nord- und südkoreanischer KirchenvertreterInnen2 in Bossey/Schweiz stattfand. Der ÖRK hat bereits vor 30 Jahren mit dem sogenannten Tozanso-Prozess begonnen, eine Plattform für Begegnung und Austausch von süd- und nordkoreanischen ChristInnen und PolitikerInnen zu schaffen. Endlich besinnt man sich im ÖRK wieder stärker auf diese lange Tradition und Verantwortung, Geschwister auch über einen langen, für menschliche Verhältnisse fast schon ermüdenden Zeitraum hinweg zu begleiten. VertreterInnen nord- und südkoreanischer Kirchen haben es geschafft, ein gemeinsames Gebet zu entwickeln, das in beiden Landesteilen am 15. August3 gebetet wird. Mehr noch: Vor wenigen Tagen war es möglich, dass ein gemeinsamer Gottesdienst in der Bongsu Kirche in Pjöngjang/Nordkorea gehalten wurde, bei dem VertreterInnen der jeweiligen koreanischen Kirchenbünde gemeinsam für Frieden, Versöhnung und Wiedervereinigung der koreanischen Halbinsel beten konnten. Einander annehmen – diese Entwicklung ist nicht selbstverständlich, wurde doch in beiden Landesteilen über Jahrzehnte und Generationen hinweg der Hass auf den Feind auf der je anderen Seite gelehrt.


… auf dem Weg der Gerechtigkeit und des Friedens

Nicht zuletzt hat der ÖRK auch intern eine bemerkenswerte neue Kultur der Annahme entwickelt. Aus der Zentrale in Genf kommen nicht mehr komplette Programme, die die Mitgliedskirchen auszuführen haben. Vielmehr bewegen sie sich aktiv in einer gleichberechtigten Gemeinschaft, in der jede Mitgliedskirche eine eigene Freiheit hat, Anregungen dem eigenen Kontext entsprechend umzusetzen.

Wie aber können wir reflektieren, ob wir auf einem guten Weg sind, einander anzunehmen? Die Vollversammlung hat dazu im letzten Herbst das Motto verabschiedet: Gott des Lebens, weise uns den Weg der Gerechtigkeit und des Friedens. Passend zum Weg wird das Bild der Pilgerreise verwendet – Gerechtigkeit und Frieden sind dabei Zeichen und Charakter des Weges. Um auf dieser Pilgerreise voranzukommen, werden wir lernen müssen einander anzunehmen. Dann aber geschieht auch das, was Paulus am Ende seiner Aufforderung an die Gemeinden in Rom noch betont: gegenseitige Annahme – zu Gottes Lob.


Für die Arbeit in der Gruppe

Greifen Sie das Motto des Pilgerwegs des ÖRK auf: Gott des Lebens, weise uns den Weg der Gerechtigkeit und des Friedens. Und machen Sie sich einfach auf den Weg und gehen los – sei es an einem Tag, sei es verteilt auf mehrere Tage:
– zu den schönen Orten, die uns gut tun, die unsere Seele auftanken lassen und uns Kraft geben (via positiva4): Unterwegs kann man sich darüber austauschen, welche Gaben vorhanden sind, was gewachsen und geworden ist.
– zu Orten, die uns aufrütteln, die Schmerzpunkte unserer Gesellschaft sind (via negativa). Sprechen Sie in kleinen Gruppen darüber: Was hat mich/uns berührt? Worauf bin ich vielleicht zum ersten Mal aufmerksam geworden?
– In der gemeinsamen Runde kann dann geteilt werden: Was kann ich, was können wir wie anpacken, was neu nutzen oder verändern (via transformativa)?

Lied: Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn oder: Until all are fed (Tommy Brown & Bryan F. McFarland, u.a. bei YouTube zu finden: www.youtube.com/watch?v=XLwmYIzkb78)


Judith Königsdörfer, geb. 1983, hat Agrarwissenschaften in Jena studiert und arbeitet jetzt an einer Promotion über Bäuerinnen und Bauern in der DDR.


Anmerkungen
1)
Female-Lay-Young = weiblich – Laie – jung
2) In Südkorea gibt es die PROK (Presbyterian Church in the Republic of Korea) und das NCCK (National Christian Council of Korea); in Nordkorea die KCF (Korean Christian Federation).
3) Am 15. August 1945 wurde Korea von fast 50 Jahren japanischer Kolonialherrschaft befreit, ebenfalls an einem 15. August (1953) wurde die Halbinsel entlang des 38. Breitengrades geteilt.
4) Die Pilgerreise hat mindestens drei Dimensionen: via positiva (die Gaben feiern), via negativa (die Wunden ansehen) und via transformativa (die Ungerechtigkeiten verwandeln). Sie sind in der Einladung zur Pilgerreise weiter erklärt, die auf der Seite des ÖRK zu finden ist (derzeit nur in Englisch):
www.oikoumene.org/en/resources/documents/
central-committee/geneva-2014/an-invitation-to-the-pilgrimage-of-justice-and-peace

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