Ausgabe 2 / 2017 Andacht von Sigrid Zweygart-Pérez

Wie eine Einheimische, eine von euch…

Andacht zu Lev 19,34

Von Sigrid Zweygart-Pérez

     
„Und, fahren Sie in den Ferien nach Hause?“ So wird mein Mann oft zu Beginn der Ferien gefragt. Und die Menschen meinen damit, ob er nach Spanien fährt. Dort wurde er geboren, dort hat er gelebt, bis er als 22-Jähriger zum Studieren nach Deutschland kam. Und blieb.

Das ist jetzt bald 30 Jahre her. Sein Deutsch ist perfekt, nur sein Name ­verrät, dass er einen „Migrationshin­tergrund“ hat. Das scheint für viele Menschen bedeutsamer zu sein, als die Anzahl der Jahre, die er hier in Deutschland lebt. Oder die Tatsache, dass er mit einer deutschen Frau verheiratet und Vater von vier Kindern mit deutscher Staatsangehörigkeit ist. Zuhause, so die Meinung vieler, zuhause ist er damit noch lange nicht hier.

In Deutschland anzukommen, gar als „Einheimische“ zu gelten, das ist offensichtlich nicht so einfach. Für einen EU-Bürger, dem man weder ansieht noch anhört, dass er nicht in Deutschland geboren wurde. Für eine kopftuch­tragende Frau, deren Hautfarbe und Akzent vermuten lassen, dass sie ihre Wurzeln in einem anderen Land hat, wird es da nicht leichter sein. Ob das in anderen Ländern einfacher ist, kann ich nicht beurteilen. Bei uns bleibt man ­jedenfalls das, was man in den Augen oder in der Wahrnehmung Vieler ist:
Ein Ausländer. Eine Fremde.

Gewohnt nüchtern und realistisch ist das Bild, dass die biblischen Texte auf die Situation von Menschen werfen, die als von außen dazu gekommen empfunden werden. Immer wieder wird dem Volk Israel aufgetragen, den Schutz der Fremden zu gewährleisten. Offensichtlich war das nötig und nicht selbstverständlich. „Wie eine Einheimische, eine von euch, sei die Person, die unter euch als Fremde lebt …“ So heißt es zum Beispiel im Buch Levitikus im 19. Kapitel (Vers 34).

Das ist zunächst eine rechtliche An­weisung. Und das ist viel! Dass Fremde rechtlich gleich behandelt werden wie Einheimische, ist bis heute in den meisten Ländern unserer Welt nicht ge­geben. Ja, nicht einmal gewollt oder als Maxime gesetzt, wie im biblischen Gebot. Auch bei uns in Deutschland wird beispielsweise bei der Sozial­ge­setz­­gebung unterschieden zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen. So soll es nicht sein. Sagt die Bibel. „Wie eine Einheimische, eine von euch, sei die Person, die unter euch als Fremde lebt …“
Aber auch in diesem Gebot bleibt die Fremde eine Fremde. Der Verfasser bzw. die Verfasserin gibt sich nicht romantischen Vorstellungen hin, wie die Welt sein sollte, sondern sieht sie, wie sie ist. Als einen Ort, an dem es schwer ist, aus der Bezeichnung, aus dem Wahrgenommenwerden als „Fremde“ herauszuwachsen.

Das lässt sich natürlich auch positiv sehen: Das biblische Gebot verlangt nicht von der Fremden, sich zu assimilieren. Es gesteht ihr zu, fremd zu bleiben. Mit fremden Gebräuchen, einer fremden Sprache, einer fremden Religion. Hier ist nicht die Rede von Integrationspflicht, Leitkultur oder ähnlichen Forderungen. Fremde dürfen ihre Fremdheit bewahren. Und genießen dennoch vollen rechtlichen Schutz. Die einzige For­derung, die gestellt wird, richtet sich an die Vertre­terinnen und Vertreter der „Mehrheitskultur“.

Und die geht dann doch weit über die rein rechtliche Forderung hinaus, wenn es weiter heißt: „… und du sollst sie ­lieben wie dich selbst …“ Auch der ­Begriff „lieben“ entbehrt erst einmal jeg­licher romantischen Vorstellung. Es geht nicht um Emotionen, sondern um eine bestimmte Haltung, die gegenüber Fremden eingefordert wird. Und die hat etwas mit Achtung zu tun. Achtung vor der Andersartigkeit, die mir begegnet. Achtung vor der Geschichte, die ihn oder sie hierher geführt hat und die ihn oder sie dazu bewegt, hier in der „Fremde“ zu bleiben. Das setzt Interesse voraus, von dieser Geschichte Kenntnis zu nehmen. Sie zu hören. Und vielleicht sogar zu verstehen. Denn genau das würde ich mir, so verstehe ich das Gebot, auch wünschen, wenn ich selber in der Situation wäre, eine Fremde zu sein. Dass mir ­jemand zuhört. Sich für meine Geschichte interessiert. Mich in meiner Fremdheit ansieht und versucht, mich zu verstehen. „Du sollst sie lieben wie dich selbst.“

Weil wohl auch im alten Israel die Gefahr bestand, dass sich den Fremden gegenüber eine gleichgültige bis ablehnende Haltung breit macht, darum erinnert das Gebot an eine Grunderfahrung seiner Bewohnerinnen und Bewohner: „Denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland!“

„Auch ihr“, so mahnt das Gebot, „auch ihr habt in den Jahrhunderten, über die Generationen hinweg nicht aufgehört, fremd zu sein. Auch eure Mütter und Väter sind niemals Ägyp­terinnen und Ägypter geworden. Sie haben es erlebt, aufgrund ihrer Fremdheit zu Sünden­böcken gemacht zu werden. Sie wussten wie es sich anfühlt, misstrauisch beäugt zu werden. Diese Er­fahrung macht euch zu denen, die ihr heute seid. Ihr könnt nicht Israel sein und die Geschichte eures Fremdseins ausblenden.“

Den Israeliten wird mit diesem Gebot eine Kompetenz zugesprochen. Die Kompetenz, sich in die Menschen hineinversetzen zu können, die nun ihrerseits als Fremde in ihrem Land leben. „Ihr könnt das. Ihr bekommt das besser hin als die Ägypter damals. Ihr seid in der Lage, den Fremden unter euch auf Augenhöhe zu begegnen.“ Und als Bekräftigung dieses Zuspruchs folgt noch ein Satz, der nun noch dem größten Skeptiker den Wind aus den Segeln nimmt. „Ich bin der Herr, euer Gott!“

Beneidenswert! Das klingt nicht nur so viel zuversichtlicher als ein „Wir schaffen das!“ Das dann im Wahlkampf kleingläubig und ängstlich in ein „Wir schaffen das, die Flüchtlinge wieder los­zuwerden“ verkehrt wird. Es stellt die Begegnung zwischen Einheimischen und Fremden auf eine neue Basis. Die Fremden werden zu denjenigen, die das Volk Israel dauerhaft an seine eigene Identität erinnert. In dessen Umgang mit den Fremden erfüllt sich seine Beziehung zu dem Gott, der das Volk einst aus der Fremde hinausgeführt hat. Jenseits dieser ganz besonderen Geschichte gibt es keine Beziehung zu Gott!

Wenn ich als Kirchenbezirksbeauftragte für Flucht und Migration nach meinen Erfahrungen gefragt werde, dann gehört das zu meinen wichtigsten Antworten: Meine Beziehung zu Gott hat sich verändert. Mein Glauben hat durch die Begegnung mit den Menschen, mit denen ich durch meinen neuen Auftrag in Kontakt komme, noch einmal eine neue Dimension hinzugewonnen. Viele von ihnen fühlen sich in einer Welse von Gott begleitet und getragen, die mich staunen lässt. Auf ihrem Weg, der sie durch Abgründe und Katastrophen hindurch hier her nach Deutschland geführt hat. Die Unmittelbarkeit, mit der sie ihre eigene ­Geschichte mit der Geschichte vom ­Exodus in Beziehung setzen, lässt mich ahnen, welche Kraft in Zeiten der höchsten Not und Gefahr der Glaube an den befreienden Gott entfalten kann! Dabei bleibt mir tatsächlich Vieles von dem, wie gerade charis­matisch geprägte Menschen aus Afrika Gott glauben und ihn feiern, fremd. Unverständlich. Manchmal fast ein wenig unheimlich. Dann muss ich lachen: Wie leidenschafts­los und fremd müssen sie wohl unsere europäisch-protestantischen Gottesdiens­te empfinden!

Es beginnt mit dem Recht. Für die Beziehung zwischen Einheimischen und Fremden fordert das Gebot eine recht­liche Gleichbehandlung. Auch für uns heute muss der Einsatz für die Wahrung der Rechte von Migrantinnen und Migranten eine zentrale Rolle spielen. In ­unseren Kirchenleitungen mit ihrem Einfluss bei den Landesregierungen. In unseren gemeindlichen Asylarbeits­kreisen, die gerade aktuell über die Maßen mit den Folgen konfrontiert werden, die der sukzessive Abbau des Rechst auf Asyl mit sich bringt. Und da ist die Abschiebung abgelehnter Flüchtlinge aus Afghanistan nur die Spitze des Eisbergs. Aber auch in unseren Fami­lien, Freundeskreisen und am Arbeitsplatz, wo sich Ansichten verdichten, die nicht mehr von einem verfassungsmäßigen Rechtsverständnis, sondern viel mehr von Angst und Ablehnung geprägt sind.

Aber es sind eben gerade nicht nur die Begegnungen mit christlichen Geflüchteten, die mich Gott neu erfahren lassen. In großer Dankbarkeit erinnere ich mich an einen Nachmittag mit einer jungen Muslima aus Gambia. Mitten im Ramadan saßen wir zusammen auf dem Heidelberger Marktplatz in der warmen Sonne. Aus Solidarität habe auch ich auf ein durststillendes Glas Wasser (oder noch lieber: kühlen Biers!) verzichtet. Die Verständigung war nicht so einfach, weil sie nur wenig Englisch sprach. Aber so viel konnte ich von ihrer Geschichte verstehen: Dass sie als junge Witwe vor einer zwangsweisen Wiederverheiratung durch ihre Familie geflohen war. Und dass sie ihren kleinen Sohn bei seiner Tante zurücklassen musste, weil die Flucht viel zu gefährlich gewesen wäre für das Kind. Gemeinsam haben wir die Fotos von ihm auf ihrem Smartphone angeschaut. Eins nach dem anderen. Dann waren wir beide eine Weile still. Bis sie sagte: „Now I have a mother here in Germany.“ Sie hat damit mich, eine ihr nahezu ganz fremde Frau, zu einer Person gemacht, die in ihrem Leben eine Rolle spielt, welche an Bedeutung kaum noch zu übertreffen ist. In kaum einem Moment meines Lebens habe ich mich Gott näher gefühlt, durch dessen Liebe wir über alle Grenzen hinweg zu seinen Kindern geworden sind. Als in diesem Moment, in dem sich ein Mensch mit anderen Hautfarbe, Sprache und Religion als meine Tochter gefühlt hat.

Es beginnt mit dem Recht. Aber damit soll es nicht enden. Das Gebot aus dem Buch Levitikus traut uns da viel mehr zu. Gott traut uns viel mehr zu. Traut uns zu, dass wir uns als Fremde und Ein­heimische in einer Weise begegnen, die von keiner Seite verlangt, sich der an­deren anzupassen. Die uns unser wechselseitiges Empfinden der Fremdheit zugesteht. Und in der dennoch Beziehungen entstehen können, die uns staunen machen. Staunen über die ­Geschichten der Menschen, die zu uns kommen. Staunen über die befreiende Kraft des Glaubens. Staunen über uns selbst.

„Wie eine Einheimische, eine von euch, sei die Person, die unter euch als Fremde lebt Denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland! Ich bin der Herr, euer Gott.“ Amen.

Liedvorschlag:
„Es kommt die Zeit, in der die Träume sich erfüllen“
aus: Wo wir Gott loben, wachsen neue Lieder, Strube-Verlag

Sigrid Zweygart-Pérez, Pfarrerin, Kirchenbezirksbeauftragte für Flucht und Migration Heidelberg

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