Ausgabe 2 / 2003 Artikel von Ute Denzer-Horneber

Wie Fremdheit entsteht

Über die Schwierigkeiten, Unterschiede auszuhalten

Von Ute Denzer-Horneber

 

Fremdheit hat viele verschiedene Aspekte. Wichtige Hinweise erhalten wir durch eine Erinnerung an die Wortbedeutung von fremd. Im Althochdeutschen meint fram: „weiter weg, entfernt“. Im Mittelhochdeutschen heißt vremde „entferntes Land“, aber auch „Feindschaft“. Fremde sind in dieser Bedeutung sowohl Menschen, zu denen eine gefühlsmäßig distanzierte Beziehung besteht, als auch diejenigen, die aus einem anderen Land kommen. Fremd fühlen sich Menschen, wenn die eigene Identität verunsichert wird.
Frauen aus verschiedenen Herkunftsländern, mit denen ich arbeite, beschreiben ihre Fremdheitserfahrungen so:
• Ich muss in einem fremden Sprachumfeld leben.
• Ich weiß nicht, wie die gesellschaftliche Regeln und Traditionen gehandhabt werden.
• Ich weiß nicht, wie das Rechtssystem funktioniert.
• Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten kann.
• Ich weiß nicht, welches Verhalten welche Konsequenzen hat.
• Ich weiß nicht, wie gesellschaftliche Beziehungen zu regeln sind.
• Ich bin von fremden Gerüchen, fremden Geräuschen, fremder Musik … umgeben.

Was als fremd empfunden wird, ist immer relativ. Es hängt davon ab, was für mich das Vertraute, das Gewohnte ist, und welchen kulturellen und sozialen Hintergrund die Gemeinschaft hat, ich selbst habe. Nichts ist fremd an sich, sondern wird fremd nur aus dem Blickwinkel der Betrachtenden. Fremdheit beruht also immer auf der Beziehung zwischen einem Menschen und dem, was ihm entgegentritt. Fremd ist immer das, was ich nicht bin oder nicht kenne. Indem ich mich im Spiegel des Fremden sehe, erkenne ich verschärft kulturelle Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten.

Um den Umgang mit Fremdem und Fremden zu lernen, ist es also wichtig, sich bewusst zu machen, wie (meine und der anderen) Identität entsteht.

Identität entwickelt sich in Abgrenzung zum Anderen. Bereits in der frühkindlichen Entwicklung gibt es ein ständiges Wechselspiel des kindlichen Selbst mit seiner Umgebung. Bis etwa zum achten Monat glaubt sich das Kind mit der Mutter identisch. Danach entdeckt es die Andersartigkeit der anderen Personen. Es fremdelt und reagiert ängstlich. Es dauert dann noch eine ganze Weile, bevor das Kind „ich“ sagen lernt: zunächst nennt es sich – so wie die anderen – mit dem Namen. Einen weiteren großen Schritt zur Entwicklung einer eigenen Identität geht das Kind dann in der Pubertät. Was wir im Einzelfall oft schmerzlich erleben, ist für diese Entwicklung aber ganz wichtig: die Jugendlichen definieren sich selbst – in Abgrenzung zu den Eltern.

Dass die Identität eines Menschen sich in der Abgrenzung zu anderen entwickelt, bedeutet zuglich, dass das Eigene immer fremde Anteile hat.

Der Wiener Psychoanalytiker Siegmund Freud hat beobachtet, dass eigene emotionale Konflikte und deren negative Anteile nach außen, auf andere übertragen werden, während die positiven Anteile dem Eigenen zugerechnet werden. Diese Konflikte wurden verdrängt – und begegnen nun im Fremden: als die unheimliche und angstbesetzte verborgene Seite der eigenen Identität.

Eine amerikanische psychologische Studie hat festgestellt, dass es zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Minderheiten und auch zwischen Menschen mit Behinderungen und „Nichtbehinderten“ kürzere Blickkontakte, abwehrendere Gespräche und eine weniger offene Körperhaltung gibt als zwischen Personen gleicher Herkunft. Beim Kontakt mit Menschen mit sichtbaren Behinderungen tritt eine Irritation auf, die „Nichtbehinderten“ sehen als hervorstechendes Merkmal der „anderen“ die Behinderung. Zugleich wollen sie aber, dass das nicht bemerkt wird und versuchen so zu tun, als ob „nichts wäre“. Es ist anzunehmen, dass diese Reaktion durch eigene Krankheitsängste hervorgerufen wird.

Kontakte zu Westeuropäern, Japanern und Nordamerikanern empfinden wir meist als Bereicherung. Touristen werden nicht als bedrohliche Fremde betrachtet. Beim Kontakt z.B. zu südeuropäischen Roma stehen hingegen Angst und Befürchtungen im Vordergrund. Diskriminierende Vorstellungen wie Angst vor Überfremdung stellen sich ein. Armut macht Angst.

Der Soziologe und Philosoph Georg Simmel sagt: Fremd ist nicht der, der heute kommt und morgen geht, für den Fremden ist es wesentlich, dass er heute kommt und morgen bleibt. In der industrialisierten Gesellschaft sind die Fremden jedoch die Gäste, die geblieben sind. Bei den vor zwei Generationen aus der Türkei Zugewanderten und inzwischen mit einem deutschen Pass ausgestatteten Mitbürgerinnen und Mitbürgern sollte man denken, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung davon ausgeht, dass sie „aus Deutschland kommen“. Aber wer dunkle Haare hat, einen leichten sprachlichen Akzent und einen fremd klingenden Namen, die oder den fragt die Mehrzahl der Bevölkerung, woher er oder sie kommt.

Viele Zuwanderer haben eine gemischte Identität entwickelt, die nicht mehr nur deutsch oder türkisch ist. Andere ziehen sich in ihre eigenen kulturellen Räume zurück, manchmal auch aus der Erfahrung, dass Deutsche keine Beziehungen mit ihnen wollen.

Die Verfolgung der Bevölkerung jüdischer „Abstammung“ im Nationalsozialismus zeigt, dass das eigene Empfinden der Identität – als Deutsche und (zum Teil nicht religiös praktizierenden) Juden – und die zugeschriebene Identität – nicht zum deutschen Volk zu gehören – nicht übereinstimmen müssen. Besonders bei inneren Schwierigkeiten in einer Gesellschaft kann die Konstruktion von den „fremden Feinden“, auf die man aufpassen muss, einsetzen. „Sie könnten dem Land schaden!“ Da sich das Verhalten der Bevölkerung über Ängste leicht beeinflussen lässt, ist dies leider immer noch ein beliebtes politisches Manipulationsinstrument.

Frauen, die unsere Integrationskurse besuchen, berichten oft, dass sie keine engeren Kontakte zu Deutschen haben, obwohl sie nicht abgeneigt wären. Sie empfinden eine betuliche Höflichkeit als oberflächliches Interesse, das keine tiefere Beziehung auf gleicher Augenhöhe trägt. Genauso realisieren die Frauen, dass sie wegen ihrer Exotik Beachtung finden, und erleben das als Missachtung der anderen Teile ihrer Persönlichkeit.
Am Beispiel bi-nationaler Ehen sehe ich, dass Verschiedenheit ausgehalten werden muss, wenn eine Partnerschaft gelingen soll. Unterschiede und Differenzen sollen wahrgenommen, aber nicht überbewertet werden. Respekt vor der Andersartigkeit des Partners und Interesse an dessen anderen kulturellen Erfahrungen führen zu einer großen persönlichen Bereicherung beider Partner.

Bausteine für die Gruppenarbeit

Ziel: Die Gruppenarbeit soll Erfahrungen des Gefühls, sich fremd zu fühlen, aufgreifen. Dabei ist sehr behutsam vorzugehen, weil das Thema unweigerlich die eigenen Selbstdefinitionen in Frage stellt. Mit diesen Erfahrungen, sich fremd zu fühlen und etwas als fremd zu empfinden, können dann die Mechanismen herausgearbeitet werden, die Fremdheit entstehen lassen. Ziel ist, etwas über die Voraussetzungen für geglückte Beziehungen mit Fremden zu lernen.

Ablauf:
Die Teilnehmerinnen werden aufgefordert, jede für sich
• 3 Verben (z.B. befremden, ängstigen, nicht beachten),
• 3 Nomen (z.B. Ausländer, Einsamkeit, Heimat) und
• 3 Adjektive (z.B. anders, unbekannt, nicht vertraut),
die im Zusammenhang mit fremd stehen, groß auf ein DIN A5 Blatt zu schreiben.
Wenn Sie befürchten, dass die Gruppe die negativen Assoziationen, die mit Fremdsein verbunden sind, ablehnt, können sie auch mit dem Sketch von Karl Valentin beginnen (siehe Arbeitsmaterial unten auf der Seite) und dann Wörter zum Thema „fremd“ sammeln.

Die gesammelten Wörter werden um das Wort „Fremdsein“ geordnet (auf dem Fußboden in der Mitte eines Kreises oder an der Wand). Sie können die Gruppenmitglieder fragen, welche emotionale Nähe oder Entfernung das jeweilige Wort zum Fremdsein hat. Schreiben Sie Kommentare, die während des Ordnens gesagt werden, auf und legen diese zu den Wörtern.

Überlegen Sie anschließend gemeinsam: Was ist das Eigene? Wer bin ich?

Sammeln sie „Etiketten“, z.B.: ich bin verheiratet, ich bin weiblich, ich bin evangelisch, ich bin Oma, ich bin Deutsche, ich bin jung, ich bin krank usw.; überlegen Sie zusammen, ob diese Etiketten feste, „objektive“ Größen sind, oder ob in verschiedenen Gruppen unterschiedliche Etiketten wichtig sind und anders gewertet werden.

Diskutieren Sie in vier Kleingruppen: (1) evangelisch in der Diaspora; (2) evangelisch in überwiegend evangelisch bewohnten Gebieten; (3) deutsch im Ausland; (4) deutsch im Inland dieselben Fragen: Was macht den Unterschied aus? Entsteht durch Ab- und Ausgrenzung Fremdheit?

Überlegen Sie zusammen im Plenum, wie Sie Fremden begegnen können und welche Qualität die Beziehungen haben müssten, um ihnen gerecht zu werden.
Fragen, die dieses Gespräch anregen können, sind: Gelingt es mir, neben den Differenzen auch das Gemeinsame zu sehen? Haben Ausländerinnen besondere „Eigenschaften“ außer ihrer nationalen Herkunft? Welche Frau steckt unter dem Kopftuch? Kann ich mir Fremdes / Fremde akzeptieren, auch wenn ich es / sie nicht verstehe? Welche Rechte und welchen Platz gestehe ich Fremden zu? Gibt es da auch Grenzen? Und wenn ja: welche? Und warum diese?

Sie können schließen mit Mt 25,35 „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr…“; lassen Sie das Ende des Satzes von jeder Teilnehmerin in stiller Meditation ergänzen.

Ute Denzer-Horneber, Jg. 1947, ist Diplompädagogin und Sozialarbeiterin. Sie arbeitet bei der Ev. Frauenhilfe Landesverband Braunschweig als Referentin für Internationale Frauenarbeit. Ehrenamtlich ist sie Vorsitzende im Landesverband Hannover des Vereins für Internationale Jugendarbeit (VIJ) und Mitglied im deutschen Komitee von YWCA.

Arbeitsmaterial:

Die Fremden

Liesl Karlstadt: Wir haben in der letzten Unterrichtsstunde über die Kleidung des Menschen gesprochen, und zwar über das Hemd. Wer von euch kann mir nun einen Reim auf Hemd sagen?
Karl Valentin: Auf Hemd reimt sich fremd!
Gut – und wie heißt die Mehrzahl von fremd?
Die Fremden.
Jawohl, die Fremden. – Und aus was bestehen die Fremden?
Aus „frem“ und aus „den“.
Gut – und was ist ein Fremder?
Fleisch, Gemüse, Obst, Mehlspeisen und so weiter.
Nein, nein, nicht was er ißt, will ich wissen, sondern wie er ist.
Ja, ein Fremder ist nicht immer ein Fremder.
Wieso?
Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.
Das ist nicht unrichtig. – Und warum fühlt sich ein Fremder nur in der Fremde fremd?
Weil jeder Fremde, der sich fremd fühlt, ein Fremder ist, und zwar so lange, bis er sich nicht mehr fremd fühlt, dann ist er kein Fremder mehr.
Sehr richtig! – Wenn aber ein Fremder schon lange in der Fremde ist, bleibt er dann immer ein Fremder?
Nein. Das ist nur so lange ein Fremder, bis er alles kennt und gesehen hat, denn dann ist ihm nichts mehr fremd.
Es kann aber auch einem Einheimischen etwas fremd sein!
Gewiss, manchem Münchner zum Beispiel ist das Hofbräuhaus nicht fremd, während ihm in der gleichen Stadt das Deutsche Museum, die Glyptothek, die Pinakothek und so weiter fremd sind.
Damit wollen Sie also sagen, dass der Einheimische in mancher Hinsicht in seiner eigenen Vaterstadt zugleich noch ein Fremder sein kann. – Was sind aber Fremde unter Fremden?
Fremde unter Fremden sind: wenn Fremde über eine Brücke fahren, und unter der Brücke fährt ein Eisenbahnzug mit Fremden durch, so sind die durchfahrenden Fremden Fremde unter Fremden, was Sie, Herr Lehrer, vielleicht so schnell gar nicht begreifen werden.
Oho! – Und was sind Einheimische?
Dem Einheimischen sind eigentlich die fremdesten Fremden nicht fremd. Der Einheimische kennt zwar den Fremden nicht, kennt aber am ersten Blick, dass es sich um einen Fremden handelt.
Wenn aber ein Fremder von einem Fremden eine Auskunft will?
Sehr einfach: Frägt ein Fremder in einer fremden Stadt einen Fremden um irgend etwas, was ihm fremd ist, so sagt der Fremde zu dem Fremden, das ist mir leider fremd, ich bin hier nämlich selbst fremd.
Das Gegenteil von fremd wäre also – unfremd?
Wenn ein Fremder einen Bekannten hat, so kann ihm dieser Bekannte zuerst fremd gewesen sein, aber durch das gegenseitige Bekanntwerden sind sich die beiden nicht mehr fremd. Wenn aber die zwei mitsammen in eine fremde Stadt reisen, so sind diese beiden Bekannten jetzt in der fremden Stadt wieder Fremde geworden. Die beiden sind also – das ist zwar paradox – fremde Bekannte zueinander geworden.

Karl Valentin

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