Alle Ausgaben / 2013 Material von Jürgen Ebach

Wildesel-Menschen

Von Jürgen Ebach


Über ihren Sohn Isma'el bekommt Hagar zu hören: „Der wird ein Wildesel-Mensch sein, er gegen alle, und alle gegen ihn. In Gegenwart aller seiner Geschwister lässt er sich nieder.“ Eine eigentümliche Ansage ist das; man mag kaum glauben, dass die werdende Mutter diese Zukunft ihres Kindes gutheißt. Dein Sohn wird ein Esel sein und ein Außenseiter dazu? Das klingt nicht gerade verheißungsvoll. Aber das Bild ändert sich, wenn man jenen „Wildeselspruch“ in seinen biblischen Kontexten betrachtet.

Die Bibel enthält eine ganze Reihe biblischer Tiersprüche als Bezeichnungen von Ahnherrn von Stämmen und Völkern. In den Sprüchen des Patriarchen Jakob über seine Söhne und die Stämme, die sie repräsentieren, gibt es den Löwen Juda, den Wolf Benjamin, die Hirschkuh Naftali. Die Tierbilder charakterisieren die so Bezeichneten – ihre Herrscherwürde, Wildheit oder Wendigkeit. Der Spruch über Isma'el als Wildesel steht in dieser Tradition. Nun muss man dazu bedenken, dass der Wildesel, der Onager, ein wildes, kaum zu zähmendes Tier ist. Assyrische Könige waren stolz darauf, Onager vor ihre Streitwagen spannen zu können. Während der Hausesel für ein versorgtes, aber unfreies Leben steht, repräsentiert der Wildesel die ungebundene Freiheit, die freilich kein ungefährdetes Leben garantiert. In Gottes Reden am Ende des Hiobbuches, die Hiob vor Augen führen, dass die bunte Welt keine heile Welt sein kann, gehört der Wildesel zu den Tieren, deren Lebensweise der der Menschen widrig ist, die aber doch leben dürfen, wie sie sind, und sich nicht an die Menschen anpassen müssen. In diesem Sinne ist der Wildesel in der Tat ein Außenseiter, einer, der sich den Konventionen entzieht, sich ins Gegebene nicht fügt.

Thomas Naumann verdanke ich den Hinweis auf zwei bemerkenswerte Gestalten der Literaturgeschichte, die diesem Wildeselsohn der Magd Hagar gleichen. Über Karl Kraus, den scharfen Sprach- und Gesellschaftskritiker, schrieb ein Zeitgenosse: „Er ist ein Ismael, der sich seine Zeitgenossen zu Feinden macht und in den seltensten Fällen ihre Mängel ungestraft lässt.“ Und ein anderer Außenseiter der Lite-ratur und Kenner der Abgründe der menschlichen Seele, August Strindberg, sah sich selbst als den Sohn Hagars, wenn er im Anschluss an die Hagarpassage des Paulus in Gal 4 schrieb: „Ich war der Sohn einer Magd, von der geschrieben steht: ‚Treibe diese Magd aus mit ihrem Sohn …'“. Hörten wir in jenem letzten Satz des Boten Adonajs womöglich zunächst, Hagars Sohn werde ein Esel sein und ein Außenseiter dazu, so klingt es jetzt anders: Dein Sohn wird ein unkonventioneller, ein freier, ein kritischer Mensch sein; er wird es nicht leicht haben im Leben, aber er wird sich nicht unterkriegen lassen und sich nicht anpassen an die herrschenden Verhältnisse. Ist es nicht verständlich, dass Hagar diese Zukunft ihres Sohnes annimmt, die Zukunft eines freien und selbstbewussten Kindes einer Sklavin, die den Exodus aus dem Sklavenhaus ging? Gewiss, die Sklavin könnte sich für ihren Sohn auch ein angepasstes und sicheres Leben mit bescheidener Karriere wünschen. Aber eine solche Sklavin wäre wohl gar nicht aus ihrer Knechtschaft ausgezogen.

In gewaltigem Zeitsprung höre ich die werdende Mutter Hagar Bert Brechts „Wiegenlieder“ singen: „Als ich dich in meinem Leib trug / War es um uns gar nicht gut gestellt“ heißt es da – und dann später:

Doch hab ich im Kampf dich Kleinen
Erst einmal groß gekriegt
Dann hab ich gewonnen einen
Der mit uns kämpft und siegt

und schließlich in der letzten Strophe:

Du, mein Sohn, und ich und alle unsresgleichen
Müssen zusammenstehn und müssen erreichen
Daß es auf dieser Welt nicht mehr zweierlei Menschen gibt.

Auszug aus:
Der Exodus der Sklavin und das Lebensrecht des Wildesels

Bibelarbeit über 1 Mose 16
DEKT Bremen 2009

Vollständige Bibelarbeit:
www.bibel-in-gerechtersprache.de/downloads/bremen/Ebach-Bibelarbeit-Gen16.pdf

und in:
Jürgen Ebach
Mehrdeutlichkeit
Theologische Reden 9
Uelzen 2011
© Erev-Rav
www.erev-rav.de

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang