Ausgabe 1 / 2016 von Magdalene Ziegler

Wir machen die Tür zu

Von Magdalene Ziegler

Im September 2012 haben wir Angela verkauft, schweren Herzens. Angela war eine schöne, großrahmige und schwere Fleckviehkuh, elfeinhalb Jahre alt. Sie war nicht nur schön, sie hatte auch ein paar Besonderheiten. Zum Beispiel konnte sie ihre Augen ungewöhnlich weit aufreißen, wenn irgendetwas sie beunruhigte. Da reichte schon eine umfallende Grasgabel in ihrem Blickfeld, sofort rollte sie ängstlich die großen Augen und warf den Kopf zurück. … Besonders gut funktionierte ihre Verdauung, wie bei allen vorangegangenen Kühen der A-Linie! Die A-Linie, d.h. die Kühe, deren Name mit „A“ anfängt, können wir zurückverfolgen bis in die Zeit, als Hansjörgs Großvater den Hof bewirtschaftete, also in die 1920er Jahre. Auch in Zeiten, wo nur wenige Kühe gehalten wurden, gab es immer eine A-Kuh und wir bemühten uns ebenfalls, diese Linie nicht aussterben zu lassen. …

Auch ihr Trächtigkeitsgeschehen verlief immer besonders zuverlässig. Der Tierarzt brauchte meist nur eine Besamung durchzuführen, und dann brachte sie neun Monate später ein kräftiges, gesundes Kalb zur Welt. Vor drei Jahren überraschte sie uns an einem eisigen Januarmorgen sogar mit Zwillingen! Viele tausend Liter Milch gab sie in all den Jahren. … Im letzten Jahr bekam sie eine Euter-Entzündung, die auch nach einer Behandlung durch den Tierarzt nicht ganz abklang und in der Folge taugte ihre Milch nicht mehr für den Verkauf. Also nahmen wir sie aus der Herde heraus und brachten sie mit zwei jungen Kälbern in einem separaten Stall unter. Die Kälber gediehen mit so viel Milch und ihrer ausgeprägten Fürsorglichkeit natürlich prächtig! Auf diese Weise konnten wir Angela noch etliche Monate „beschäftigen“. Aber irgendwann versiegte die Milch und wir meldeten sie zum Schlachten an. Diese Entscheidung fiel uns besonders schwer, weil zum ersten Mal eine abgehende Altkuh nicht durch eine junge Kalbin ersetzt wurde. Das markierte gleichsam den Anfang vom Ende der Milchviehhaltung.

Inzwischen ist es Juli 2013. Wir haben in den vergangenen Monaten einige Anläufe gemacht, den Hof mit Hilfe anderer Menschen weiterzuführen. … Doch dann haben wir uns entschieden, die Kühe Ende August wegzugeben. Die sechs jüngeren, die wieder trächtig sind, wird ein befreundeter Bioland-Hof übernehmen. Die beiden alten werden wir noch eine Weile behalten und wenn das Grünfutter zu Ende geht, werden sie wie Angela an einen Metzger verkauft.

Seit diese Entscheidung feststeht, mache ich viele Arbeiten noch bewusster, sehe das endgültige letzte Mal vor mir: noch vier Wochen melken, noch ungefähr zwölfmal die Liegeboxen einstreuen, noch einmal die Stallfenster und die Milchküche gründlich putzen. … Ich werde zurückblicken auf 30 erfolgreiche Jahre, die ich in dem Stall gewirkt habe, Hansjörg auf mehr als 60 Jahre. Wie wird es sein ohne die feste Tagesstruktur, die die Tiere vorgeben? Nicht mehr morgens vor dem Frühstück die Stallarbeit machen und abends einen letzten Blick auf alle Tiere vor dem Zubettgehen! Nicht mehr morgens ein neugeborenes munteres Kalb bei seiner Mutter vorfinden! Nicht mehr zusehen, wie abends alle Kühe behaglich in ihren Boxen liegen und wiederkäuen! … Aber auch nicht mehr erkältet und halb krank im kalten Melkstand stehen und melken müssen! Nicht mehr an eisigen Wintertagen die Kühe von Hand aus dem Eimer tränken, weil die Wasserleitung eingefroren ist!

Ich habe schon mit einigen Bäuerinnen gesprochen, die den Hofaufgabe-Prozess hinter sich haben und alle sagten ungefähr dasselbe: „Nach ein paar Monaten wirst du nur noch froh darüber sein, dass die Tiere weg sind.“ Ich glaube noch nicht an diese Voraussage. Aber ich hoffe sehr auf das Sprichwort, das da sagt: „Wenn eine Tür zugeht, dann geht woanders eine auf.“ Hoffentlich finde ich diese andere Tür!

Und erst mal muss die eine geschlossen werden.

Auszüge aus:
Wir machen die Tür zu
in:
Ulrike Siegel (Hg.)
Einen Hof verlässt man niemals ganz
© Landwirtschaftsverlag GmbH Münster 2013

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