Ausgabe 2 / 2017 Artikel von Filiz Sirin und Birol Mertol

Wir und Nicht-Wir

Der Anti-Bias-Ansatz als Möglichkeit der Auseinandersetzung mit rassistischen Bildern und Deutungsmustern

Von Filiz Sirin und Birol Mertol

Mit dem verstärkten Zuzug von geflüchteten Menschen aus Krisengebieten dieser Welt bekommen rassistische Denkweisen und Praxen durch das Erstarken von rechtspopulistischen bis rechtsextremen Ideologien eine neue Qualität. Sie gehen bis weit in die Mitte der Gesellschaft.
In der antirassistischen Arbeit wird mit einem Ansatz gearbeitet, der Anti- Bias heißt. Er reagiert auf rassistische Logiken und Differenzierungen und hilft, Handlungsstrategien gegen Rassismus zu entwickeln.

Die Reaktionen auf die Gewalt in der Kölner Silvesternacht 2015/2016 zeigen, wie hier kolonial-rassistisch geprägte Bilder von fremden (Schwarzen1) Männern mit Vergewaltigungsmythen2 wiederbelebt und das Bedrohungsszenario gegenüber – ausschließlich – (weißen) Frauen im öffentlichen Raum aufrecht gehalten wird. Im Folgejahr 2016/2017 werden knapp tausend Menschen aufgrund – ihnen äußerlich zugeschriebener – „nordafrikanischer Herkunft“ vom Rest der Menschen im Bahnhof Köln getrennt, durch separate Türen an Sammelpunkte durch ein massives Polizeiaufgebot eskortiert und müssen Kontrollen über sich ergehen lassen. Durch diese Praxis werden Anknüpfungspunkte an die Funktionen von Rassismus deutlich:

Erstens: Konstruktion und Kategorisierung von Menschen aufgrund phänotypischer Merkmale und/ oder aufgrund der (kulturellen) Herkunft.
Zweitens: Markierung durch den Begriff „Nafri“, als ausgemachte „Nordafrikanische Intensivtäter“.
Und drittens: Selektion, Ausgrenzung oder Sonderbehandlung dieser zugeschrieben Gruppe durch Kontrollen der Polizei vor Ort und die weitere Stigmatisierung in der Gesellschaft.
Durch die Wirkmacht und einseitige Medien- und Politikdiskurse werden rassistische Bilder transportiert, reproduziert und normalisiert, so dass diese weit auch in der pädagogischen Praxis bei Fachkräften, Kindern und Jugend­lichen ihre Anwendung finden. So begegnen uns in der Erwachsenenbildung häufig Abschottungstendenzen von (weißen) privilegierten und von Rassismus nicht betroffenen Menschen, die sich darin äußern, dass rassistisch geladene Begriffe entweder nicht so gemeint sind (Rechtfertigung) oder der Verweis auf „früher“ gegeben wird. Früher habe es auch niemanden gestört (Normalisierung).

Im folgenden Artikel stellen wir anhand alltagsrassistischer Beispiele aus der Qualifikationsarbeit dar, wie Differenzierungen an rassistische Logiken anknüpfen, wie Rassismus mit einem Konzept von Wir und Nicht-Wir arbeitet und wie diese in Verbindung mit Macht stehen. In diesem Zusammenhang stellen wir kurz den Anti-Bias-Ansatz vor, weil er mit Blick auf Differenzierungen und Einseitigkeiten gute Anknüpfungspunkte anbietet, um sich auch mit Rassismus auseinanderzusetzen und Handlungsstrategien zu entwickeln.

Von Differenzierungen zur Diskriminierung

Diskriminierung ist zunächst als „Ungleichbehandlung in vergleichbaren Situationen“ bzw. als „Gleichbehandlung trotz unterschiedlicher Voraussetzungen“ (vgl. Europahaus Aurich/ Anti-Bias-Werkstatt 2007) zu verstehen. Zu Diskriminierungen kommt es, wenn Unterschiede (Differenzierungen) zwischen Menschen bewertet und in eine Rangordnung gebracht werden. Meistens haben diese Art von Bewertungen System3 und sind eingebunden in eine geschichtliche Tradition, wie z.B. beim Rassismus als eine spezifische Diskriminierungsform. Rassifizierende Bewertungen geschehen in einem Prozess der sozialen Konstruktion, indem z.B. die Hautfarbe als Differenzmerkmal etabliert und dann die „weiße“ Hautfarbe als höherwertiger in einem binären System konstruiert wird. Diese bewerteten Differenzierungen können dann durch Handlungen Rassismus zur Folge haben, wenn die Akteur_innen dieser diskriminierenden Handlungen über eine entsprechende Machtbasis verfügen. Rassismus liegt damit die machtvolle Unterscheidung von Menschen in ein „Wir“ und „die Anderen“ zugrunde, wobei das „Wir“ als normal und „die Anderen“ als abweichend konstruiert werden (vgl. Mecheril 2004, 193).

Rassismus im Alltag

Alltagsrassismus hat viele Gesichter. Es ist die Frage nach der – vermeintlichen – Herkunft, obwohl man in Deutschland geboren wurde. Es sind die abwertenden Blicke im Bus, die rassistischen Rufe im Stadion, die Zurückweisung an der Diskotür oder die rassistischen Darstellungen in Büchern, Zeitungen und Filmen. Vermeintliche Komplimente wie „Du sprichst aber gut Deutsch“ oder lobend gemeinte Verallgemeinerungen wie „asiatische Schüler_innen sind immer so fleißig“ sind weitere Beispiele für Alltagsrassismus.

„Ich kann hier keine Diskriminierung sehen, ist doch ein Kompliment“, ist eine häufige Antwort, wenn wir in Fortbildungsveranstaltungen der FUMA Fachstelle Gender NRW auf diese Schieflagen aufmerksam machen. Dabei wird z.B. bei der Frage „Woher kommst du wirklich?“ der befragten Person eine „Heimat“ fern von Deutschland unterstellt. Schlimmer noch: dass sie hier nicht ‹richtig› dazugehören und ob sie ‹dorthin zurück› gehen mögen. In dieser Frage drückt sich beispielhaft der tägliche Rassismus aus.

Die oben genannten Beispiele haben gemeinsam, dass starre, althergebrachte Einordnungen vorgenommen werden, um Menschen nach Ethnien, Nationen, Kulturen in Schubladen einzusortieren. Diese Einordnungen sind zumeist negativ. Durch die Einteilung der Menschen in ein „Wir“ und „Nicht-Wir“, was meist aus einer machtbesetzten Perspektive geschieht, wird aus der Soziologie dieser Prozess als „Othering“ bezeichnet. In diesem Prozess wird die eigene Gruppe hervorgehoben während gleichzeitig die „Anderen“ als fremd disqualifiziert werden.

In Anti-Bias-Seminaren werden Möglichkeiten eröffnet, einseitige Perspek­tiven zum Thema zu machen und ein Bewusstsein für einseitige Bilder und dominante Diskurse zu schaffen. Teilnehmende werden eingeladen „Dinge“ zu hinterfragen, die ihnen als normal erscheinen.
Anti-Bias-Arbeit bedeutet demnach immer auch eine klare politische Positionierung, die den Abbau von Macht­asymmetrien und Diskriminierungen auf allen Ebenen in der Gesellschaft ­einfordert. (vgl. Bettina Schmidt 2015)

Was ist Anti Bias?

Zum Begriff und Hintergrund
Der Ursprung des Anti-Bias-Ansatzes liegt in der Kleinkinderpädagogik. Anti-Bias wurde Ende der 1980er Jahre in den USA von Lousie Derman-Sparks und Kolleginnen entwickelt und in Südafrika für die Erwachsenenbildung adaptiert. Derman-Sparks möchte mit ihrer Auswahl der Begrifflichkeit verdeutlichen, dass sich der Ansatz gegen jede Form von Ausgrenzung, Diskriminierung und Unterdrückung richtet. Die Anti-Bias-Werkstatt übersetzt den Begriff „Bias“ mit „Schieflage“, weil so neben der individuellen Ebene auch die strukturelle Ebene in diesem Kontext hergestellt werden soll (vgl. Schmidt 2009, 8). Mit dieser Blickrichtung richtet sich die Aufmerksamkeit einerseits auf die indivi­duelle und gesellschaftliche Ebene und andererseits auf die Ver­strickungen des Individuums in gesell­schaft­liche Machtverhältnisse. Damit wird in der Defini­tion mit bedacht, dass unfaire Ungleichbehandlung oder Diskriminierung eine mögliche Folge von „bias“ sein kann. Jedoch können ausschließlich persön­liche Vorurteile oder Voreingenommenheiten nicht zur Diskriminierung per se führen, sondern nur, wenn sie in Verbindung mit Macht stehen. Im Rahmen unserer Bildungsarbeit arbeiten wir mit dem Begriff „Vorurteilsreflektierte Pädagogik“. Der Name verdeutlicht, dass es nicht darum gehen kann, frei von Vorurteilen zu werden, sondern sich die eigenen Vorurteile in Reflexionsprozessen bewusst zu machen und aus dieser Bewusstheit heraus zu handeln.

Ziele der Anti-Bias-Arbeit
Bereits in den früheren Kindheit beginnt ein Prozess der Aneignung von Stereotypen und Vorurteilen, der Unterscheidung zwischen den eigenen Gruppen und den „Anderen“. Durch die Anti-Bias-Arbeit sollen diese Muster der Wahrnehmung und Bewertung hinterfragt und neu ­bewertet werden. Ziel ist ein Umgang miteinander auf der Basis von Gleichwertigkeit. Daraus ergeben sich vier grundsätzliche pädagogische Ziele:

– „Die Anerkennung und Stärkung aller an Lernprozessen Beteiligten in ihren individuellen und Bezugsgruppen-Iden­titäten
– Die Förderung einer respektvollen und wertschätzenden Haltung gegenüber Vielfalt unter Menschen
– Die Sensibilisierung für Vorurteile und Diskriminierung und Unterstützung von kritischem Denken
– Die Ermutigung und Stärkung der Fähigkeit, gegen Diskriminierung aktiv zu werden“ (Anti-Bias-Netz 2016, S. 13)

Im Anti-Bias-Ansatz werden alle Formen von Diskriminierung und Privilegierung miteinbezogen, ohne diese zu hierarchi­sieren. Dabei werden sowohl verschiedene Ebenen von Diskriminierungen (interpersonelle, ideologisch-diskursive, institutionell-strukturelle) als auch Über­schneidungen und Wechselwirkungen verschiedener Diskriminierungsformen (z. B. Rassismus, Klassismus, Sexismus, Homo- und Transphobie u.a.) thema­tisiert.

Aus der Praxis
In unserer Anti-Bias-Arbeit stehen weniger die Methoden als solche im Mittelpunkt. Die einzelnen Übungen sehen wir als Türöffner, um mit den Teilnehmenden ins Gespräch zu kommen, Prozesse anzustoßen sowie die Teilnehmenden zu ermutigen einen kritischen Blick auf scheinbare Normalitäten zu werfen.

Der Einstieg erfolgt über Übungen, die biografisch gesehen Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Gruppe ansprechen. Im Anschluss daran erfolgt die Auseinandersetzung mit Vorurteilen, indem nach persönlichen Erfahrungen der Teilnehmer_innen gefragt wird. Der Austausch über die Funktion und die Wirkungen von Vorurteilen ermöglicht die Erkenntnis, dass ein vorurteilfreies Leben zwar nicht realistisch, aber dass ein bewusster und reflektierter Umgang mit Vorurteilen möglich ist. Im weiteren Verlauf des Trainings erfolgt die Auseinandersetzung mit der eigenen gesellschaftlichen Positionierung und der Wahrnehmungsschärfung für Ausgrenzung. Dabei ist es wichtig, einen Blick auf eigene Privilegien und Strukturen von Dominanz und Unterdrückung in der Gesellschaft zu werfen sowie das Zusammenspiel privater und gesellschaftlicher Ebenen zu analysieren. Prinzipiell geht es darum, ins Handeln zu kommen und mit Veränderungen zu beginnen.

Ausblick
Der Anti-Bias-Ansatz bietet auf dem Weg zu einer demokratischen Gesellschaft, die sich vorurteilsreflektiert, machtsensibel und diskriminierungsfrei versteht, keine „Rezepte“ sondern Angebote zum lebenslangen Arbeiten an einer diskriminierungskritischen und ­diversitätsreflektierten4 Haltung. Die Perspektive des Anti-Bias-Ansatzes eröffnet neue Räume in der Bildungsarbeit, denn es geht nicht darum, sich schuldbewusst mit der Situation der „Anderen“ auseinanderzusetzen, sondern darum, die eigene Verstrickung in Machtverhältnisse zu reflektieren, zu spüren und zu erleben. Grundsätzlich geht es darum zu erkennen, welche Auswirkungen Ungleichheit in der Gesellschaft auf einen selbst und andere hat, um daraus Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln.

Filiz Sirin, Bildungsreferentin der FUMA Fachstelle Gender NRW, Schwerpunkte: Vorurteilsreflektierte Pädagogik (Anti-Bias-Ansatz), Social-Justice-Ansatz, Genderpädagogik und (interkulturelle) Mädchen­arbeit

Birol Mertol, Bildungsreferent der FUMA Fachstelle Gender NRW, Schwerpunkte: Vorurteilsreflektierte Pädagogik (Anti-Bias-Ansatz), Gender- und Migrationspädagogik und Jungenarbeit in der Migrationsgesellschaft

Anmerkungen
1) Der Begriff „Schwarz“ wird groß geschrieben und bezieht sich auf das Selbstverständnis im rassistisch-konstruierten Machtgefüge. Durch die positive Umdeutung von „Schwarz“ aus einer Widerstandssituation wird der Begriff als eine politische Selbstbezeichnung großgeschrieben. (vgl. Eggers et al. 2005, Sow 2009). Im Gegensatz dazu gilt „weiß“ gilt als Konstrukt und stellt aus der Geschichte des Rassismus eine etablierte Norm dar, welches das Ziel verfolgt, eigene Gruppenprivilegien und so auch Rassismus zu legitimieren. Durch das Kursivgedruckte und die Kleinschreibung der Kategorie „weiß“ soll der Konstruktionscharakter hervorgehoben werden. (vgl. Anti-Bias-Netz 2015, 143)
2) Mit Vergewaltigungsmythen werden stereotype Vorstellungen betreffend Vergewaltigungen bezeichnet, die trotz wissenschaftlicher Widerlegung von vielen Menschen geteilt werden und oftmals sexualisierte Gewalt verharmlosen und die Täter entlasten (vgl. Homepage denkwerkstattblog)
3) Birgit Rommelspacher spricht von Rassismus … „als ein System von Diskursen und Praxen, die historisch entwickelte und aktuelle Machtverhältnisse legitimieren und reproduzieren.“ (Rommelspacher 2011, S. 29.)
4) Vgl. hierzu: z.B. https://situationsansatz.de/files/texte%20ista/fachstelle%20kinderwelten/kiwe%20pdf/Wagner%202012%20kinderleicht.pdf

Für die Arbeit in der Gruppe

Das Projekt MIKA-Methoden im Koffer für Alle. Vorurteilsreflektierte Pädagogik der FUMA Fachstelle Gender NRW enthält zu gender- und vorurteilsreflektierter Pädagogik Informationen, Methoden sowie eine Fülle von Ideen, wie Mädchen_ und Jungen_ in aller Unterschiedlichkeit lernen, miteinander umzugehen, sich gegenseitig zu akzeptieren und zu unterstützen. Hierzu müssen die Fachkräfte eine mindestens zweitägige Fortbildung durchlaufen, um den Koffer für mehrere Wochen auszuleihen. Diese beinhaltet einerseits die Sensibilisierung zu Grundlagen zum Anti-Bias-Ansatz mittels methodischer Settings und anschließender Reflexionsprozesse und andererseits, sich mit der Handhabe und Anwendbarkeit des Koffers vertraut zu machen.

Mehr Informationen: www.gender-nrw.de

Eine Vielfalt an Übungen angelehnt am Anti-Bias-Ansatz gibt es in dem Buch
Perspektivwechsel, Theoretische Impulse – Methodische Anregungen, Materialien Nr. 173 hg.v. Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V.
www.zwst-perspektivwechsel.de
ISSN 0944-8705

Literatur
Eine ausführliche Literaturliste zu diesem Artikel ­finden Sie online unter www.ahzw-online.de

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