Kirchen werden von Menschen für Menschen gebaut. Sie erzählen von Gott und vermitteln zugleich das Bild, das sich die Menschen von sich selbst und von ihrer Beziehung zu Gott machen.
Die Geschichte des Christentums ist immer auch eine Geschichte seiner Räume. Einerseits symbolisiert Christus mit seinem Leib den Tempel der
ChristInnen und macht so alle, die an ihn glauben, zu „lebendigen“ Steinen. Andererseits sind Kirchenbauten die räumliche Umhüllung eben dieser
christlichen Gemeinschaft, die sie schützt und nach außen hin abgrenzt.
Diese „Entäußerung des Glaubens“ hat im Laufe der Kirchengeschichte unterschiedliche Ausprägungen und Auswüchse erlebt. Kirchen wurden nicht immer nur als Gottesdiensträume oder symbolische Wohnorte Gottes auf Erden angesehen. Allzu oft verband sich die weltliche Macht mit ihnen. Der Protestantismus richtete sich gegen diese Entwicklung; in ihm ist eine „Verinnerlichung“ – im Gegensatz zur Entäußerung des Glaubens – ursächlich angelegt. Er weist auf die Unmittelbarkeit der Christenmenschen zu Gott hin. Das Allgemeine ist heilig, und wir brauchen keine aus dem Allgemeinen herausgeschnittenen heiligen Zeiten, Personen, Gesten und Räume.
Nun gibt es aber Kirchenräume und Kunst in Kirchenräumen, die vom Glauben anderer Generationen und der verbindenden Tradition erzählen. Das Christentum besitzt dieses wertvolle Glaubenskapital seiner Kirchenräume. Räume, die als heilig oder religiös wahrgenommen werden.
Die Kirchenraumpädagogik1 will den Menschen einen neuen Zugang zu den Kirchenräumen ermöglichen. Im Gegensatz zur klassischen Kirchenführung, die vor allem Fakten durch „Bereden“ an die TeilnehmerInnen heranträgt, durchbrechen kirchenraumpädagogisch inspirierte Führungen diese Einwegkommunikation zugunsten dialogischer und interaktiver Elemente, bauen Formen der Verlangsamung in die Führung ein und versuchen, spirituelle und theologische Dimensionen des Kirchenraumes erlebbar zu machen. Damit erweist die Kirchenraumpädagogik sich als eine zeitgemäße Form religiöser Bildung. Kirchenpädagogische Führungen fördern das Nachdenken über Riten und Räume, Kunst und Geschichte, Liturgie und spirituelle Fragen.
Die Teilnehmerinnen sollen einen Kirchenraum als Ort der Gottesbegegnung im Rahmen einer spirituellen Kirchenführung erleben können.
Zeit
1,5 Std.
Material
Teelichter in Gläsern, Seil (ca. 5 Meter lang), Glöckchen oder Gong, Gegenstände/Symbole (je nach Kirchenraum) in einem Korb
Vorbereitung:
Wer eine spirituelle Kirchenführung anbieten möchte, muss sich zunächst selbst auf den Kirchenraum und seine Umgebung einlassen, mit ihm vertraut werden.
Neben der atmosphärischen Wahrnehmung der Umgebung, der Lage der Kirche ist eine erste Annäherung an den Kirchenraum wichtig: Was empfinden Sie beim Eintreten in den Kirchenraum? Wie ist das Verhältnis von Licht und Dunkel? Welches Kunstwerk spricht Sie an? Was in diesem Raum deutet auf das aktuelle Gemeindeleben hin?
Im Anschluss an diese erste Erschließungsphase folgt die Erkundung der Baugeschichte der Kirche – mit Hilfe von Festschriften zu Jubiläen, Gemeindebriefen oder anderer Literatur und auch mündlicher Überlieferungen: Stellen Sie die wichtigsten Daten Ihrer Kirche zusammen (Grundsteinlegung, Fertigstellung, Anbauten und Umbauten, Zerstörungen durch Krieg/e, Wiederaufbau etc.) Die Erarbeitung eines Grundrisses der Kirche ist ein nächster Schritt; er soll gezeichnet und das Inventar der Kirche eingetragen werden. In Bezug auf das Inventar sind folgende Fragen zu stellen: Welche biblischen, religiösen Symbole, Figuren und Szenen gibt es? Gibt es ein beherrschendes Thema, wenn ja, wo schlägt es sich nieder? Was hat der Name der Kirche mit ihrer Gestaltung zu tun? Die Symbole sind in einem weiteren Schritt auf ihre Bedeutung in der traditionellen Auslegung und in Verbindung mit dem/der jeweiligen KünstlerIn hin zu befragen.
Nun folgen Vorüberlegungen im Blick auf die Planung der Kirchenführung. Da sind Absprachen mit der Gemeindeleitung und der Küsterin/dem Kirchendiener zu treffen: Was darf in der Kirche angefasst werden? Dürfen Kerzen angezündet werden? Stellt Ihnen die Gemeinde Geld für das Equipment, das Sie für Ihre Führung brauchen, zur Verfügung? Desweiteren müssen Vorüberlegungen im Blick auf den Raum angestellt werden: Wie ist die Akustik des Raumes? Wie und auf welche Weise kann man den Raum „erschreiten“? Und letztlich folgen die Vorüberlegungen im Blick auf die Gestaltung einer Kirchenführung: Welche kirchenpädagogischen Elemente gefallen Ihnen, welche eignen sich für Ihre Kirche? Spirituelle, erlebnispädagogische, musikalische, literarische, geschichtliche Elemente?
Ich zeige Ihnen nun einen exemplarischen Aufbau einer Kirchenführung – Sie können selbstverständlich auch ganz andere methodische Formen wählen.
Ablauf
Station: Draußen / Eintreten
Die TeilnehmerInnen werden vor der Kirchentür begrüßt. Ich gestalte diesen Anfang oft unerwartet, verteile zum Beispiel wortlos Äpfel und erzähle die Geschichte vom König und dem Apfel:
Ein König erhielt jeden Tag zu seiner Audienz von einem unbekannten Mann einen Apfel. „Ein Apfel für einen König“, dachte sich der König, „ist aber ein ungewöhnliches Geschenk!“ Und er gab den Apfel seinem Kammerdiener, der ihn in die königliche Vorratskammer bringen ließ. So ging es 365 Tage im Jahr. Immer kam der unbekannte Mann, brachte seinen Apfel, dieser landete unbeachtet in der Vorratskammer. Bis eines Tages – wieder war Audienz, und der Unbekannte überreichte seinen Apfel – das Äffchen der Königin von ihrer Schulter sprang, auf den Apfel zu lief und hineinbiss. Und heraus fiel ein Edelstein.2
„Liebe Teilnehmerinnen (ggf. und Teilnehmer), ich wünsche uns, wenn wir jetzt in diese Kirche eintreten, dass wir uns gemeinsam auf den Weg machen, den Edelstein des Kirchenraumes zu entdecken. Dass wir Funkelndes sehen, uns dabei hoffentlich nicht die Zähne ausbeißen, aber auf den sichtbaren Kern dieses Gebäudes stoßen … – Den Apfel dürfen Sie als Wegzehrung mitnehmen.
Wenn Sie jetzt eintreten, gehen sie bitte langsam, nehmen Sie sich Zeit und achten Sie darauf, welchen ersten Eindruck Sie von dem Kirchenraum haben. Wir treffen uns vor dem Altar wieder und treten jetzt ein unter dem Christuswort: ‚Christus spricht: Ich bin die Tür. Wer durch mich hineingeht, wird selig werden und wird ein- und ausgehen und Weide finden.‘ (Joh 10,9)“
Wenn alle Teilnehmerinnen in Ruhe vor dem Altar angekommen sind, lade ich dazu ein, die ersten eigenen Assoziationen zu benennen. Dabei bleiben alle Wahrnehmungen nebeneinander stehen und werden nicht bewertet.
Lieblingsplatzsuche
Auf dem Altartisch befinden sich Teelichtgläser in der Anzahl der Teilnehmerinnen. Ich lade dazu ein, jeweils ein Licht an den Altarkerzen zu entzünden und sich mit der brennenden Kerze im Teelichtglas in der Hand auf die Suche nach dem individuellen Lieblingsplatz im Kirchenraum zu machen. – Die Kerze dient hier zur Entschleunigung des Schrittes; wir gehen besonnener, wenn wir ein Licht tragen. Die Teilnehmerinnen brauchen ausreichend Zeit, um alle Ecken und Nischen der Kirche mit ihren jeweiligen Perspektiven testen zu können. Sie dürfen auf die Emporen ebenso, wie auf die Kanzel, hinter den Altar (sofern möglich), in das Kirchenschiff …
Nachdem alle Frauen einen Moment an ihrem Lieblingsplatz im Kirchenraum verharren konnten, erklingt ein leiser Gong, um alle wieder zum Altar zu bitten. Dort habe ich mit einem Seil auf dem Boden grob den Kirchenumriss ausgelegt und bitte nun eine nach der anderen, ihren Lieblingsplatz in diese „Kirchenlandkarte“ mithilfe des Teelichtglases einzutragen. Langsam füllt sich der Umriss mit den Kerzen, und die Teilnehmerinnen erzählen kurz, warum sie sich wo am liebsten aufgehalten haben. Mehrdimensionalität wie z.B. ein Lieblingsort auf einer Empore kann nicht dargestellt, nur erzählt werden.
Es entsteht ein leuchtendes Bodenbild, das – angereichert durch die Erzählungen der einzelnen – viel aussagt über die erste Wirkung des Kirchenraumes. Gibt es Orte, an denen viele gerne sind? Gibt es Ecken, die alle ausschließen? Warum könnte das so sein?
Diesen Schritt schließe ich ab mit dem Kanon „Sende dein Licht und deine Wahrheit“ (EG 172); Umriss und Kerzen bleiben bis zum Schluss der Führung vor dem Altar auf dem Boden stehen!
Vertiefung
Jeder Kirchenraum hat sein eigenes Glaubensbekenntnis. Damit ist der Ausdruck des Glaubens gemeint, den die Steine, die Kunst, die Symbolik transportieren. In dem Schritt der Vertiefung machen sich die Teilnehmerinnen auf die Suche nach diesem Glaubensbekenntnis.
Durch meine persönliche Aneignung des Kirchenraumes (siehe Vorbereitung) treffe ich Vorentscheidungen darüber, welche Symbolsprache während der Vertiefungsphase der Führung in den Blick genommen werden soll. Dessen muss ich mir bewusst sein: Das Glaubensbekenntnis, das die anderen wahrnehmen sollen, ist wesentlich davon geprägt, was ich selber als Leiterin der Kirchenführung in meiner Auseinandersetzung mit dem Raum wahrgenommen habe. Mit dieser Tatsache ist achtsam umzugehen – es gibt nicht richtig und falsch!
Ich bereite einen Korb mit Symbolen vor, die aus meiner Sicht auf das Glaubensbekenntnis des Kirchenraumes hinführen. – Symbole,3 die in dem Korb liegen könnten, sind: eine Bibel mit einer markierten Textstelle, die auf den Namen der Kirche verweist; eine Feder für eine Engelsfigur; farbige Tücher oder Mosaiksteinchen, um auf eine Farbsymbolik hinzuweisen; Zahlen (aus Filz ausgeschnitten), um der Zahlsymbolik der Kirche auf die Spur zu kommen; Weintrauben, um auf den Altartisch als Ort der Abendmahlsfeier zu verweisen; sämtliche Bilder und Symbole, die in Kunstwerken, Fenstern, Reliefs etc. im Kirchenraum vorkommen, und deren Sinngehalt nachgegangen werden soll/kann …
Die Teilnehmerinnen schließen sich in Kleingruppen zusammen, ziehen ein Symbol aus dem Korb und haben die Aufgabe, sich mit dem Symbol auf die Suche durch den Kirchenraum zu begeben: Wo findet sich das Symbol wieder? Wofür könnte es stehen? Was verbinde ich mit dem Symbol in diesem Kirchenraum?
Wenn die Gruppen sich im Kirchenraum verteilt haben, gehe ich als Leiterin nach einigen Minuten von Gruppe zu Gruppe und höre hin, beantworte Verständnisfragen und staune über die Sichtweisen der Forscherinnen. – Für diesen Schritt ist es gut, sich Wissen über die Kirchen und ihre Entstehung angeeignet zu haben, es dient aber nicht dazu, es den Teilnehmerinnen ungefragt „überzustülpen“, sondern ihnen damit stützend zur Verfügung zu stehen, sofern mehr Hintergrund gefragt ist.
Nach angemessener Zeit lasse ich den Gong erklingen und bitte erneut alle Frauen, vor dem Altar zusammen zu kommen. Nun stellt jede Gruppe ihr Symbol vor, zeigt im Kirchenraum auf, wofür dieses ihrer Ansicht nach steht, und was es im Bezug auf das Glaubensbekenntnis dieses Raumes aussagt. An dieser Stelle kann es interessant sein, wenn die Leiterin einige historische Aspekte des Baus hinzufügt, ohne dabei allerdings die Ergebnisse und Wahrnehmungen der Teilnehmerinnen zu negieren.
Wenn ich Weintrauben im Symbolkorb (in einer Schale) mitgebracht habe, lasse ich die Gruppe mit den Trauben diesen Vertiefungsschritt abschließen und lade dazu ein, um den Altar stehend einander die Trauben zu reichen und miteinander zu essen – eine Erinnerungshandlung an das letzte Abendabendmahl und meist ein dichter Moment, der individuelle Emotionen fördert.
Schluss
Ich fasse kurz zusammen, welche Wahrnehmungen die Teilnehmerinnen während der Kirchenführung ausgetauscht haben – auf welche Weise die Gruppe Gott in diesem Kirchenraum symbolisch begegnet ist – und verteile an jede Frau einen kleinen Glasedelstein (in Rückbezug auf die Eingangsgeschichte vom König und dem Apfel).
Anja Bremer, geb. 1974, ist Dipl.-Religionspädagogin, Kirchenraumpädagogin, Klinikseelsorgerin (KSA) und Öffentlichkeitsbeauftragte. Sie war mehrere Jahre für die Spirituellen Kirchenführungen der Evangelischen Frauen in Baden zuständig und hat ca. 1.500 Frauen und Männer mit den Methoden der Kirchenraumpädagogik durch badische Kirchen geführt.
Anmerkungen
1) Zum Selbstverständnis der Kirchenraumpädagogik und ihren Methoden vgl.: Birgit Neumann, Antje Rösener: Kirchenpädagogik. Kirchen öffnen, entdecken und verstehen. Ein Arbeitsbuch, Gütersloh 2003 / Hartmut Rupp: Handbuch der Kirchenpädagogik: Kirchenräume wahrnehmen, deuten und erschließen, Stuttgart 2005 / Margarethe Luise Goecke-Seischab, Jörg Ohlemacher: Kirchen erkunden – Kirchen er–schließen. Ein Handbuch mit über 300 Bildern und Tafeln, einer Einführung in die Kirchenpädagogik und einem ausführlichen Lexikonteil, Köln 2010
2) Geschichte frei erzählt nach Hans Peter Held, Einen Apfel für den König, in: Erich Eßlinger, Geöffneter Himmel, Heidelberg 1999, S.43f
3) Die in Fußnote 1 vorgeschlagene Literatur bietet neben einer Methodenvielfalt auch lexikalisch aufgebaute Symboldeutungen.
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