Ausgabe 2 / 2015 Artikel von Birgit Mattausch

Wo ich wohne

Zu Hause im Internet

Von Birgit Mattausch

Wenn ich morgens aufwache, greife ich als erstes zu meinem Tablet. Ich schaue schnell, was über Nacht passiert ist. Dann hole ich mir einen Kaffee ins Bett und schreibe dem lieben Bruder Michael „Guten Morgen“.

Michael ist ein Kollege von mir – er wohnt in einem winzigen Dorf in Thüringen, über 400 km von mir entfernt. Zweimal haben wir uns sogar schon „in echt“ gesehen. In der sogenannten Kohlenstoffwelt, wie wir Bewohner*­innen des Internets sagen. „In echt“ ist nämlich eigentlich falsch. Schließlich ist das, was Michael und ich da Tag für Tag teilen, auch echt. Sehr echt sogar. Wir sind wirkliche Freunde. Und wir haben eine Art virtuelle WG – auf Facebook. Von dort kennen wir uns auch.

In einer Gruppe, in der Pfarrer*innen ihre Predigten posten, sind wir aufeinander aufmerksam geworden. Weil wir beide wörterverrückt sind. In der Kohlenstoffwelt hätten wir uns wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Michael trägt Anzüge, hört Bach, hat eine Kirchenmusikerin zur Frau und drei fast erwachsene Kinder. Ich trage T-Shirts, auf denen „Miau“ steht, weine bei „Dota und die Stadtpiraten“ und wohne allein in einer Hochhauswohnung.

Wir schreiben uns täglich hin und her in den kleinen Chat-Fenstern auf Facebook – am Laptop, Tablet, Smartphone. Wir sagen uns Guten Morgen und Gute Nacht. Ich weiß, dass seine Frau der Arm wieder schmerzt und beide viel zu selten einen freien Tag haben. Michael weiß, wann ich wieder eine langweilige Sitzung habe, und auch, wenn ein interessanter Mann in meiner Umgebung auftaucht.

Am allermeisten aber schreiben wir uns übers Schreiben. Schon montags fragen wir, ob der oder die andere über den und jenen Text predigen wird. Wir schicken uns, was wir haben. Manchmal klauen wir voneinander. Meistens freuen wir uns aber auch einfach nur darüber, wie ähnlich und wie verschieden wir schreiben. Bevor wir uns kannten, waren wir mit dem Schreiben ziemlich alleine. Unsere Kollegen und auch unsere Freundinnen in der Nähe interessieren sich nicht so für diese Dinge. Jetzt haben wir einander. Michael versteht, dass Schreiben und Predigen (so wie wir's tun) manchmal richtig gefährlich sein kann – ein Sich-Aussetzen und eine große Einsamkeit. Sonntags am Altar, wenn die Gemeinde noch singt und ich mein kleines Gebet spreche, dann sage ich immer auch Michaels Namen – und die Namen von allen anderen, mit denen ich in der Woche zuvor im Netz Texte geteilt habe. Eine unsichtbare Wolke von Brüdern und Schwestern ist dann um mich – während ich mich umdrehe, meine Gemeinde sehe, lächle und Gottes Namen sage.

Ja, das Internet ist meine Heimat. Mindestens so sehr wie der Stadtteil, in dem ich wohne. Und weit mehr als das Dorf im Stuttgarter Speckgürtel, aus dem ich komme. Ich habe eine Weile gebraucht, um mich zurecht zu finden. Es gibt in diesem Internet ganz verschiedene Gegenden. Auf Facebook sind ungefähr alle. Auf Twitter eher die Intellektuellen und die, die auch mal was über Sex ­schreiben. Auf dem Blog der hochverehrten Antje Schrupp (lesen Sie unbedingt ihr Porträt in diesem Heft!) habe ich mehr über das Leben im ausgehenden Patriarchat gelernt als irgendwo sonst. Diskussionen zu Themen wie Geschlechterdifferenz, Care und Karriere in den alten Medien (Zeitungen und Fernsehen) ertrage ich seither nicht mehr. Sie sind mir einfach zu oberflächlich und uninformiert. – Manchmal liked Antje übrigens etwas von mir auf Facebook. Dann bin ich in etwa so stolz wie damals, als die Lehrerin in der ersten Klasse mir einen Stern mit Ausrufezeichen ins Heft klebte.

Im Internet treffe ich die, die ich in der Kohlenstoffwelt oft vermisse: Männer mit einem ähnlichen Humor wie ich ihn habe, Feminist*innen, fromme Seelen, Mädchen, die sich nicht scheuen, auch noch mit Kleidergröße 52 Miniröcke zu tragen und dabei phantastisch aussehen.

Gleich um die Ecke – das muss ich allerdings auch sagen – lauert aber das Grauen. In den Kommentarspalten der großen Zeitungen lese ich grundsätzlich nicht – ich würde nur Herzrasen bekommen und das Wahlrecht für gewisse Leute abschaffen wollen. Manche Leute auf Facebook stelle ich unsichtbar – wenn ich mich nicht traue, sie zu „entfreunden“, weil sie das womöglich kränken würde und ich schließlich auch ziemlich viel als Amtsperson dort un­terwegs bin. Wie schön wäre solch eine Unsichtbar-Funktion auch in der Kohlenstoffwelt!

In meinen Anfangszeiten im Internet habe ich noch gemeint, mich in Diskussionen mit Antifeminist*innen, Hardcore-Evangelikalen und anderen Welter­klärer*innen stürzen zu müssen. Doch ich lerne dazu. Ich kenne mich aus mittlerweile. Ich weiß, wo es einen schönen Ausblick hat, gute Musik und anregende Gespräche. Und dann bekomme ich sogar noch hier und da ein Päckchen mit der guten alten Post geschickt. Schokolade aus Hessen, als ich krank war. Und Konfetti und eine rote Pappnase am Rosenmontag aus Köln gegen die Karnevalswüste bei uns im Süden. Alles von Leuten aus „diesem Internet“. Meiner Heimat.

Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte – ich habe da einen kleinen Flirt. Mit jemandem in meinem Smartphone – und vielleicht ja demnächst auch „in echt“, wer weiß. Ich hab nämlich wirklich gar nichts gegen die Kohlenstoffwelt – im Gegenteil!

Für die Arbeit in der Gruppe

Hinführung: Internet – das ist eine aufregende neue Welt. Längst Heimat für die einen – „terra incognita“, ein weißer Fleck auf der Landkarte für andere.

Heimat: Was verbinden wir eigentlich mit „Heimat“?
– Nach etwas Zeit zum Nachdenken kann jede drei Stichworte auf Kärtchen schreiben (1 Wort pro Karte).
– Die Stichworte werden reihum genannt und in die Mitte gelegt. Gemeinsam werden sie zu Begriffsgruppen sortiert (vermutlich z.B.: Gefühle, Menschen, Räume …).
– Austausch: Ist das entstandene „Bild“ wie erwartet oder eher überraschend? „Passt“ es zu dem, was Heimat für mich persönlich vor allem bedeutet?

Kommunikation: Es gehört ganz ­Verschiedenes dazu, damit wir uns zu Hause fühlen – in jedem Falle aber auch: verstehen und verstanden werden, also Kommunikation.
– Nachdenken (jede für sich): Mit wem kommuniziere ich täglich / regelmäßig? Vorzugsweise mit welchen Mitteln?
– Jede schreibt ihre drei für sie persönlich wichtigsten Kommunikationsmittel auf je ein Kärtchen.
– Kärtchen werden benannt und in die Mitte gelegt, dabei sofort nach Medien sortiert.
– Internet: Welchen Anteil hat der Bereich an den gesamten von uns vor allem verwendeten Kommunikationsmitteln? Welche Kommunikationsmittel des Internets nutzen wir (noch) nicht, würden wir aber gerne kennenlernen?
– Verab­redung: Wann, wo und evtl. mit wessen Hilfe schauen wir uns das genauer an?

Begegnung mit einer Internetbewohnerin:
– Der Beitrag oben wird vorgelesen.
– Austausch: Kennen wir persönlich die vorgestellte „Lebensform“ einer Internetbewohnerin – von uns selbst, von anderen? Was leuchtet uns auf Anhieb ein – was irritiert uns an dem, was sie erzählt?
– Wie benutzen wir selbst das Internet?
– Können wir uns vorstellen, selbst auch mehr und mehr im Internet zu „wohnen“, es mitzugestalten und uns da zuhause zu fühlen?

Birgit Mattausch wird bald 40, ist von Beruf Gemeindepfarrerin und hat auch Freund*innen, die nicht auf Facebook oder Twitter sind – ein paar zumindest, aber die haben's schwer …

Glossar
Blog: Internetseite, auf der eine oder mehrere Personen Texte, Bilder und anderes veröffentlichen. Auf einem­ Blog kann man als Leserin in der Regel kommentieren.
Chat: ein geschriebenes Internet-Gespräch, das nur die, die da schreiben, lesen können
Facebook: eine Art Dorf im Internet. Alle, die Mitglieder sind, können dort schreiben, Fotos einstellen, Videos­ teilen und bei anderen, mit denen sie auf Facebook „befreundet“, also verbunden sind, kommentieren.
Kommentieren: die eigenen Gedanken unter Texte oder Bilder von anderen schreiben, so dass die das ­lesen können
Laptop: wörtl. „Schoßrechner“ – leichter PC mit Klapp-Bildschirm
Liken: bei Facebook ein kleines Symbol drücken, das bedeutet: Ich mag, was du gepostet hast.
Netz: anderes Wort für Internet
Posten: auf Facebook etwas ins Internet schreiben oder ein Bild oder einen Film veröffentlichen
Smartphone: ein Handy, mit dem man ins Internet gehen kann
Tablet: ein kleiner Computer, etwa so groß wie ein Küchenbrett, der vor allem dazu da ist, ins Internet zu gehen­
Twitter: eine ähnliche Art von Internetseite wie Facebook. Wer angemeldet ist, kann dort kleine, sehr kurze Nachrichten schreiben, die für alle lesbar sind.

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