Noch sechzig Tage. Das habe er gerade ausgerechnet, sagt Tanner. Noch genau sechzig Tage bis zum 19. Februar.
Er tut sich heute schwerer mit dem Gehen als bisher, er kommt nur unsicher voran, die Hände zittern stark. Er hat Schmerzen, man kann es an seinem Gesicht sehen. Die Schmerzen haben sich eingegraben in seine Mundwinkel. Es sind jetzt besonders die Schmerzen im Bauch. Stiche, Nadelstiche, Messerstiche, unablässig.
Sechzig Tage. Nur noch sechzig Tage Lebenszeit.
Die Uhr auf dem Sideboard schlägt. Sie schlägt ihren Dreißig-Minuten-Rhythmus.
Sechzig Tage sind 86 400 Minuten. Nachdem die Uhr geschlagen hat, sind es noch 86 370 Minuten …
Es ist Zeit für heute zu gehen. Das Gespräch hat Tanner angestrengt wie nie.
„Verstehen Sie mich nicht falsch“, sagt er. „Es ist nur so, dass keiner wirklich weiß, wie es mir geht.“
Ein halbes Jahr lang, bis zu dessen Tod im März 2008, begleitet Wolfgang Prosinger den an AIDS, Parkinson und Krebs leidenden „Ulrich Tanner“, der mit Hilfe der schweizerischen Organisation „Dignitas“ sterben will. Die Aufzeichnungen aus den Gesprächen zwischen den beiden zu lesen ist bewegend, bisweilen aufregend. Emotional dicht sind auch die Passagen, die die Reaktionen der Freunde Tannes auf dessen Vorhaben beschreiben.
Wer sich auf den so respektvoll wie schonungslos offen geführten Dialog einlässt, wird unweigerlich in die eigene Auseinandersetzung mit dem Thema Sterbehilfe gezogen. Hilfreich sind dabei die mehrfachen Unterbrechungen der Reportage durch kurze Kapitel, in denen die öffentlichen Debatten um Selbsttötung, um Sterbehilfe und deren Alternativen Palliativmedizin und Hospiz-Bewegung und um die Arbeit von „Dignitas“ knapp und präzise dargestellt werden. „Tanner geht“ ist ein Buch, das unter die Haut geht und sehr nachdenklich macht. Und vorsichtiger im Urteilen allemal.
Wolfgang Prosinger: Tanner geht. Sterbehilfe – Ein Mann plant seinen Tod
S. Fischer Verlag GmbH · Frankfurt am Main 2008 · ISBN 978-3-10-059030-5
