Ausgabe 1 / 2013 Artikel von Gundula Döring

Wovon wir nicht schweigen wollen

Aufschlussreiches über eine missionarische Kirche

Von Gundula Döring

Als Jesus einen Taubstummen heilt, legt er ihm die Finger in die Ohren, berührt seine Zunge mit Speichel, seufzt zum Himmel und spricht: Hefata – öffne dich. Öffne dich! Das Heilungsgeschehen ist eine Öffnung.

Wer kann sich wem öffnen? Das ist für mich auch die Frage nach einer missionarischen Kirche. Ich arbeite in Hamburg in der Projektstelle +) kirche-aufschlussreich, der Name ist Programm. Kirche könnte sich aufschließen. Für das Ungewohnte. Das Überraschende. Das Unbequeme. Das Irritierende. Kirche könnte dazu beitragen, dass Menschen sich öffnen können für die Dimensionen des Lebens, die nicht machbar und verfügbar sind. Beides könnte heilsam sein. Kirche könnte Traditionen erschließen für Menschen, denen sie fremd (geworden) sind. Vielleicht können dann aufschlussreiche Entdeckungen gemacht werden.

„Die Kommunikation des Evangeliums kann nur gelingen, wenn … neu danach gesucht wird, mit welcher Sprache bzw. in welchen Formen es gelingen kann, den Menschen in ihren spezifischen Kontexten die Bedeutung des christlichen Glaubens für ihr Leben aufzuzeigen. Andererseits: Die Gemeinden werden nur dann attraktive Orte für die Menschen … bleiben bzw. werden können, wenn sie sich in ihren Sozialformen gegenüber den ihnen fremden Lebensstilen vieler der Menschen öffnen und im Blick auf veränderte gesellschaftliche Herausforderungen neue … Angebote entwickeln.“ So die Projektbeschreibung, in der diese Stelle noch „Missionarische Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge“ hieß. Die Aufgabe wollte ich mich stellen – aber nicht unter der Bezeichnung. Als ich dies im Bewerbungsgespräch auch so aussprach, stieß ich auf große Zustimmung. Das Wort „missionarisch“ sei ja tatsächlich ambivalent und löse bei vielen Ablehnung und Unbehagen aus. Für mich war dieses Gespräch insofern ermutigend, als sich darin zeigt, wie wichtig es sein kann, den „Geschmack“, die „Konnotationen“ eines geprägten Begriffs direkt anzusprechen und sich damit in einen Dialog zu begeben. Auch das kann „aufschlussreich“ sein.

Mission – ein Begriff mit Nachgeschmack
In der Sendung „Glaubenssachen“ setzt sich Matthias Dobrinski, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, mit „Mission“ auseinander und beginnt mit einem persönlichen Erlebnis: der Einladung des damals 17-Jährigen zu einem Treffen junger evangelikaler ChristInnen. Dort wurde ihm „bewusst, dass er sich nicht in dem Himmelreich wohlfühlen würde, das ihm da ausgemalt wurde – und die anderen sich wahrscheinlich auch nicht im Himmelreich des Autors.“ Diese Erinnerung ist Dobrinski wichtig. Denn wer „über Mission schreibt, sollte mindestens einen Missionierungsversuch überstanden haben. Sonst weiß er nämlich nicht, was manche Menschen befällt, wenn sie das Wort hören. Mission. Da soll einer auf eine Seite gezogen werden, wenn schon nicht überzeugt, so doch zumindest überredet. Da verspricht einer den Himmel im Anspruch, ihn zu besitzen, da droht einer mit der Hölle, als wüsste er genau, wer dort hineinkommt und wer nicht. Das Wort trägt an der Last der Geschichte. Es wurde im 16. Jahrhundert gebräuchlich, als die Päpste und die spanischen Könige Soldaten zu Pferd und mit Büchsen bewaffnet über das große Meer schickten, die dann mit einer Leichtigkeit die Krieger der Indio-Völker niedermetzelten, dass die Päpste und Könige glaubten, hier müsse Gott seine Hand im Spiel haben.“(1)

Dobrinski zeigt eindrücklich auf, wie verwoben das „Missionarische“ mit der je eigenen wie mit der Weltgeschichte ist. Mission, so scheint es, führt in jedem Falle von sich selbst weg hin zu etwas, was der/die andere für überlegen, besser oder nützlicher hält. Hier wird etwas deutlich von dem „Nachgeschmack“, der dem Begriff anhaftet. Gleichwohl hat er in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Renaissance erlebt. Schon deshalb ist es notwendig, ihn zu thematisieren und historisch einzuordnen.(2)

Mission – ein Begriff mit wechselhafter Geschichte
Lange wurde Mission als „Heidenmission“ verstanden. Missionare waren nach der Definition der Missionswissenschaft des 19. Jahrhunderts „Botschafter Christi, die im eigentlichen Sinne fortgesendet werden über die Grenzen der Christenheit hinaus, um jenseits der Grenzen unter Nichtchristen das Reich Gottes auszubreiten.“(3) Parallel zur „äußeren Mission“ entstand zeitgleich der Begriff der „Inneren Mission“, eingeführt durch den Göttinger Professor Friedrich Lücke in einem Vortrag von 1843 über „Die zwiefache innere und äußere Mission der ev. Kirche“. Johann Hinrich Wichern übernahm den Begriff, bezogen auf die soziale und geistliche „Rettungsarbeit“, die für ihn die Antwort auf die brennenden sozialen Fragen seiner Zeit war. Für ihn gehörten beide Dimensionen noch stark zusammen – später wurde der soziale Aspekt unter dem Begriff „Diakonie“ weiterentwickelt und professionalisiert, während die religiösen Aspekte als „Volksmission“ und „Evangelisation“ eine eigene Organisationsstruktur bekamen. „Evangelisation“ stammt aus der englischsprachigen Welt und bezeichnet eine einladende und werbende Verkündigung an getauften, aber der Kirche entfremdeten Menschen.(4) In der Zeit des 1. Weltkriegs, einer Zeit gesellschaftlicher Wandlungen und der Kirchenentfremdung breiter Massen, prägt der Rostocker Theologieprofessor Gerhard Hilbert 1916 den Begriff der „Volksmission“ als „die Mission, die die Volkskirche an sich selbst und an ihrem Volk zu treiben hat“.(5)

Im Begriff der Missio Dei, der sich seit der Weltmissionskonferenz 1952 durchgesetzt hat, wird ein Perspektivwechsel deutlich. Nicht vom „Objekt“ der Mission, den „Nicht-Christen“ her wird Mission verstanden, sondern von Gott selbst her. Um Gottes Sendung in die Welt geht es, die sich in Jesus Christus und der Kraft des Geistes in der Welt zeigt. Alle Missionsbewegung hat ihren Ursprung in dieser Missio Dei. Gott ist in dieser Definition selbst „der Missionar“ und die Kirche hat Teil an dieser „missionarischen“ Bewegung.

„Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen … und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde.“ (Apg 1,8) – In der neueren Missionstheologie richtet der Begriff des Zeugnisses den Missionsbegriff neu aus. Nicht um Bekehrung geht es, sondern um glaubwürdiges Zeugnis „von dem, was mich unbedingt angeht, von der Hoffnung, aus der ich lebe, von der Quelle der Lebenskraft und der Lebensfreude, die mir zufließt. Von dem Sinnhorizont, in dem ich mein -Leben und die Welt deute und mein Handeln orientiere.“(6) Der Sündenfall im Missionsverständnis beginnt für den Theologen Reinhold Bernhardt damit, dass die „Erste-Person-Perspektive“ verlassen und eine „Dritte-Person-Perspektive“ bezogen wird. „Wo das geschieht, verschiebt sich die Bezeugung einer höchstpersönlichen Wahrheitsgewissheit zu einer Behauptung eines allgemeingültigen Wahrheitsanspruchs. … Und als … Wahrheitsanspruch kann sie nun verbunden werden einerseits mit … Absolutheitsansprüchen … und zum anderen mit Machtansprüchen, d.h. mit Hoheits- und Herrschaftsansprüchen.“ (7)

Seit den 1990er Jahren erlebt der Missionsbegriff eine Renaissance im „Attribut“-Status. Kirche versteht und postuliert sich als „missionarische Kirche“. Synoden, Kundgebungen, EKD-Texte, Fusionsbeschlüsse und Strategiepapiere erinnern sich an diesen „Wesenszug“ der Kirche.(8) Daher ist zu fragen: Was geschieht mit einer Kirche, die das Stichwort „Mission“ betont? Welche Kirchenbilder stehen dahinter? Welche Interessenskonflikte?

Der Theologe Jan Hermelink sieht im Missionsbegriff einen „Leitbegriff der Selbstverständigung“. So ist es nicht zufällig, dass er nach der Wende im Prozess der Verständigung zwischen Ost und West ebenso eine Rolle spielt wie in jüngeren Fusionsprozessen. Wo unterschiedliche Kulturen aufeinander treffen, kann man sich zumindest darauf verständigen: „Wir sind missionarische Kirche!“ Der Begriff lässt eine organisatorische Vielfalt zu und eint zugleich. Er hat eine mobilisierende Funktion und ist in seiner Außenorientierung konsensfähig. Dass „Kirche nicht für sich selbst und in sich selbst genug ist“, ist sehr zustimmungsfähig.

In den innerkirchlichen Prozessen hat der Begriff also moderierende und integrative Funktion – bis zu einer gewissen Grenze. Denn auch wenn ein Dreischritt wie „Hinhören – Aufbrechen – Weitersagen“, so der Titel der von der EKD-Synode beschlossenen Missionarischen Impulse 2011, biblisch begründet und durchaus konsensfähig ist, werden spätestens in den Konkretionen erste Differenzen sichtbar. „Hinhören“ – wo und auf wen? „Aufbrechen“ – von wo und wohin? „Weitersagen“ – was und mit welchen Mitteln? Was wiederum nicht schädlich ist, sondern einer Kirche angemessen, die „wesentlich vielfältig“ (Hermelink) ist. Dabei werden auch alte „Gräben“ wieder sichtbar – und manche davon auch überschritten.

Mission – ein Handlungsfeld evangelischer Frauenarbeit?
Auf den Tagungen der Theologinnen in der evangelischen Frauenarbeit ging
es von Anfang an um Klärungsprozesse und Selbstverortungen im Kirche-Sein. Daraus entwickelte sich auch die Frage nach der „missionarischen Kirche“.Verstehen sich Angebote der evangelischen Frauenarbeit – wie das Fernstudium oder die Auseinandersetzung mit der Bibel in gerechter Sprache – als Teil des missionarischen Grundauftrags der Kirche? Oder ist das einfach Anpassung an einen Mainstream innerkirchlicher Papierfluten?

Die Evangelischen Frauen in Deutschland benennen ihre Arbeit als „Teil des gesamtkirchlichen missionarischen Auftrags.“(9) Gemeinsam mit der Männerarbeit der EKD definieren sie dabei missionarisches Handeln als Verkündigung der Frohen Botschaft – was „bedeutet, sich dafür zu engagieren, dass alle ‚Leben in Fülle haben' (Joh 10,10). Wir verstehen Mission als eine Lebensweise, die durch das Bemühen um gerechte und geschwisterliche Beziehungen Zeugnis von Gottes Gegenwart ablegt. Missionarisches Handeln ist somit vor allem an Gerechtigkeit und Solidarität sowie Freiheit und Selbstbestimmung orientiert. Das schließt die prophetische Kritik an Zuständen mit ein, die Menschen diskriminieren und leiden lassen.“(10)

Hier kreuzen sich zwei „Sprachcodes“, trifft sich die „Verkündigung der Frohen Botschaft“ mit „Freiheit und Selbstbestimmung“ und das „Zeugnis von Gottes Gegenwart“ mit „Gerechtigkeit und Solidarität“. Darin bestätigt sich die Deutung des Missionsbegriffs als Leitwort der Verständigung. Mission scheint hier als Brückenbegriff zu stehen zwischen kirchlichen „Lagern“ und Positionen, und die Auseinandersetzung mit ihm ist selbst das dialogische Geschehen, das für missionarisches Handeln gefordert ist. Denn „Mission ist Dialog mit anderen – gleich welcher Kultur und Tradition – und erfolgt auf Augenhöhe. Den eigenen Glauben zu hinterfragen und den Glauben anderer wertzuschätzen ist Teil der Botschaft der Freiheit. Dies bedeutet auch, eine Missionspraxis zu überwinden, die von einem exklusiven Heilsverständnis geprägt ist und eigene kulturelle Werte und Normen verabsolutiert.“(11)

Sich auf einen solchen Weg des Dialogs zu begeben, ist ein spannender Lernprozess. Auf diesem Weg sehe ich auch die Theologinnen der evangelischen Frauenarbeit. Angeregt durch die Bedeutung des „Zeugnisses“ in den Überlegungen zu einer feministischen Ekklesiologie bei Heike Walz stellte sich die Frage: Wofür will ich an meinem je eigenen Ort Zeugin sein – und wo können wir uns verbinden zu einer Gemeinschaft der Zeuginnen, innerhalb und außerhalb der Evangelischen Kirche? „Leidenschaftlich“ ist der Titel unseres Buchprojekts – getragen von der gemeinsamen Vision einer „österlichen Kirche, deren Spiritualität Lebenskraft stärkt und nährt“. Wie können wir Leidenschaft leben in einer österlichen Kirche? Vielleicht ist diese Frage sogar dieselbe wie die im Titel gestellte: „Wovon wir nicht schweigen wollen“?

Ich wünsche mir eine Kirche, zu der ich stehen kann, die sich zeigen kann, weil sich in ihr etwas zeigt, was sie nicht selber ist. Diesem „nicht selber“ möchte ich auf der Spur bleiben. Mit anderen zusammen, die auch etwas erwarten können, was langsam und unscheinbar wachsen will, manchmal ganz plötzlich da ist und dann auch wieder aus dem Blickfeld verschwindet. Leute, die daran erinnern, die damit auf dem Weg sind – das ist Kirche. Eine solche Kirche kann eigentlich auf das Wort „missionarisch“ verzichten. Wichtig ist nur, dass wir weiter auf der Suche bleiben nach einer Sprache, die sich befreit von „Behauptungen“ hin zu „Entdeckungen“. Ich glaube, dazu bietet evangelische Frauenarbeit guten Spielraum.

Gundula Döring, 55 Jahre, ist Pastorin und hat als Theologische Referentin im Nordelbischen Frauenwerk gearbeitet. – Der Beitrag ist die mit freundlicher Genehmigung gekürzte Fassung eines Vortrags beim Treffen der Theologinnen in der EFiD 2011.

Anmerkungen:
1 Matthias Dobrinski: Mission Zukunft. Kirchliches Reden von Gott in der Welt, Manuskript der Sendung Glaubenssachen vom 5.2.2012 auf ndr kultur, S. 2
2 zur Begriffsklärung ausführlicher: Klaus Schäfer, Was verstehen wir unter Mission? Vortragsmanuskript vom 6.1.2010
3 Gustav Warneck, zitiert nach Schäfer, ebd. S. 4
4 Vgl. z.B. Karl Barth, Kirchliche Dogmatik IV/3, 2. Hälfte
5 G. Hilbert, Volksmission und Innere Mission, 1917, zit. nach Schäfer S.7
6 Reinhold Bernhardt, Mission in einer multireligiösen Welt, in: ZMiss 3/2009, S.196
7 ebd., S. 199
8 Vgl. u.a.: EKD-Synode in Leipzig 1999 – Der missionarische Auftrag der Kirche an der Schwelle zum
3. Jahrtausend; Hearing des AMD 2008: Erwachsen glauben. Missionarische Bildungsangebote als Kernaufgabe der Gemeinde; EKD-Synode Magdeburg 2011: Was hindert's, dass ich Christ werde? Missionarische Impulse
9 Evangelische Frauenarbeit innerhalb eines starken Verbandsprotestantismus: Teil einer zukunftsfähigen Kirche der Freiheit – Download unter: http://www.evangelischefrauen-deutschland.de/images/stories/efid/Posi-tionspapiere/efid_verbandsprotestantismus_mai%202011.pdfQuellenangabe „Verbandsprotestantismus“
10 EFiD und Männerarbeit der EKD im Ev. Zentrum Frauen und Männer: Flyer „Heimat in der Kirche schaffen“ zur EKD-Synode 2011
11 ebd.; In die Richtung geht auch das Papier „MISSION BILDUNG“ des Netzwerks ÖKUFEM 2006 – Download unter http://www.emw-d.de/fix/files/Mission-Bildung-vers-M%E4rz%2006.pdf

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