Ausgabe 1 / 2013 Andacht von Andrea Felsenstein-Roßberg

Wozu berufen – wohin gesandt?

Andacht zur Orientierung im Labyrinth des Lebens

Von Andrea Felsenstein-Roßberg

Vorbereitung: In der Mitte eines Stuhlkreises liegt die Form eines 7-gängigen kretischen Labyrinthes aus einem dickeren roten Filzfaden oder eine große Kopie.

Votum
Wir feiern Andacht
im Namen des lebendigen Gottes.
Gott ist uns nahe auf unseren Wegen.
Christi Liebe lebt in uns.
Gottes Geistkraft umhüllt und führt uns.

Lied: Wechselnde Pfade, Schatten und Licht, / alles ist Gnade, fürchte dich nicht. (u.a. in: Kommt, atmet auf)

Impuls: Wozu bin ich berufen? Wohin bin ich gesandt? – Ehrlich gesagt, das sind große Fragen. Fast ängstigen sie mich, so grundsätzlich klingen sie. Fragen sie doch nach der Mitte meines Lebens, nach dem Sinn. Was soll ich darauf antworten? Kennen wir unseren Weg, unsere Lebensaufgabe? Unseren Lebenssinn? Unsere Berufung? Große Fragen, für die es keine schnellen Antworten gibt. Fragen, die Zeit brauchen. Geschützte Zeit, wie gerade hier, in der Andacht. Geschützte Zeit, wie sie uns die Vorbereitungszeit auf Ostern, die Passionszeit wieder schenkt.

In der sogenannten Fastenzeit ist tatsächlich Zeit, sich diesen großen Lebensfragen zu stellen. „7 Wochen ohne“ ist ein schönes Angebot, unser Leben nach dem Wesentlichen zu befragen. Worauf kann ich eigentlich gut verzichten? Kann weniger mehr sein? Worauf kommt es mir wirklich an? Die sieben Wochen vor Ostern laden uns auf eine Reise ein – freundlich und -liebevoll mit uns selbst umzugehen, Ballast abzuwerfen, zu spüren, was uns wirklich gut tut, unserer Sehnsucht nach Leben, nach Spiel, nach Lebendigkeit Raum zu geben.

Ein schönes Bild, ja eine „Leitfigur“ für diese Zeit ist für mich das kretische Labyrinth mit seinen sieben Umgängen. Wir sehen es hier in der Mitte vor uns. Es ist ein verschlungener Weg, der durch eine schmale Öffnung hindurch mit vielen Umwegen, Umkehrungen, Wendepunkten zu Mitte führt.

Das Labyrinth ist kein Irrgarten. Es gibt keine Sackgassen oder Abzweigungen, die in die Irre führen. Im Labyrinth geht niemand verloren. Der Weg ist gehalten in seiner Form und führt die, die in ihr unterwegs ist, Schritt für Schritt zur Mitte. Man muss nur immer weiter gehen.

Das Labyrinth erzählt in seiner Ursprungsgeschichte aus der griechischen Mythologie eine Geschichte von Rettung und Wandlung vom Tod zum Leben. Theseus besiegt im Labyrinth den Menschen fressenden Minotaurus und findet dank des Fadens, den ihm die Königstochter Ariadne mitgegeben hat, wieder aus dem Labyrinth heraus. Das Labyrinth, ein Symbol für Überleben in der Verwirrung, für Ordnung im Chaos, ein Hoffnungszeichen für wiedergewonnene Lebendigkeit. Kein Wunder, dass es von frühster Zeit an auch als Tanz-Weg begangen und gefeiert wurde. Lassen wir uns eine Weile ein auf seine eigenwillige Form und erfahren wir leibhaft, wie es ist, was es ausmacht. Ich gebe Ihnen hier eine Vorlage, und wir nehmen uns etwas Zeit, seiner Form, seinen Windungen, seinem Weg zur Mitte nachzugehen, indem wir es selbst zeichnen oder mit dem Finger nachfahren. Wir beenden dies mit dem bereits bekannten Lied „Wechselnde Pfade“, das ich dann ansummen werde.

Labyrinth-Kopien mit Unterlagen und Stiften verteilen; die Konstruktion 1 x groß am Flipchart demonstrieren – zu leiser Musik können die TN das Labyrinth konstruieren oder mit dem Finger nachzeichnen.

Lied: Wechselnde Pfade

Impuls 2: Das Labyrinth erzählt eine Weg-Geschichte. Sie nähert sich mit Biegungen und Wendungen der Mitte. Von vielen Stellen aus ist die Mitte nicht gleich erkennbar. Immer wieder wird sie umrundet. Mal bin ich ihr nahe, mal weiter entfernt. Auf jeden Fall: der Weg zur Mitte verläuft nicht geradlinig. So, wie wir das aus unserem eigenen Lebensweg kennen. Was willst Du denn einmal werden?, sind wir als Kinder gefragt worden. Da stand das Leben noch offen. Wo fühlten wir uns hingezogen?

Mittlerweile blicken wir zurück auf gelebtes Leben. Wir haben Entscheidungen getroffen, Weichen gestellt – hier und da wurde auch über uns entschieden. Vorstellungen von Eltern, was ihre Tochter am besten lernen oder nicht lernen sollte; Erfahrungen mit Berufswegen, Erfahrungen mit dem Partner, mit Kindern, mit der Pflege von Angehörigen, Erfahrungen mit gesellschaftlichen Veränderungen – Erfahrungen, die den eigenen Lebensweg entscheidend prägten. Manches ist ganz anders gelaufen, als wir dachten. Manches hätten wir uns nicht gewünscht. Manches ist überraschend gut geworden. Windungen und Wendungen in unserem Leben. Wozu bin ich berufen? Im Buch Jesaja heißt es: „Der Herr hat mich schon
im Mutterleib berufen, als ich noch im Schoß meiner Mutter war, hat er meinen Namen genannt.“ (Jes 49,1) Jesaja beschreibt seine Berufung als Ereignis noch bevor er zur Welt gekommen war. Von allererstem Anfang an war da ein Gott, der ihn kannte, nannte und rief.

Folgen wir dieser Erkenntnis, so hieße das: Wir müssen uns nicht ständig selbst entwerfen und Lebenssinn vorweisen, unser Tun rechtfertigen. Wir sind in dieses Leben gerufen. Und alles, was wir sind, ist Antwort auf diesen Ruf Gottes. In den unterschiedlichen Anforderungen und Phasen unseres Lebens ist dabei eines zentral – Rabbi Sussja sagt es so: „In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: Warum bist du nicht Mose geworden? Man wird mich fragen: Warum bist du nicht Sussja gewesen?“ Dazu bin ich berufen: die zu werden, die ich bin. Niemand anders als nur ich selbst. Ein Ebenbild Gottes, durch das Gott in seine Welt kommen will.

Frère Roger, der Gründer der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé, hat es einmal so formuliert: Lebe das, was du vom Evangelium begriffen hast. Es muss nicht viel sein, schon gar nicht alles. Die Frau, die Jesus salbte, tat auf faszinierende Weise das Ihre. Ohne sich davon abbringen zu lassen. Ohne Skrupel. Sie tat, wozu es sie im Inneren gedrängt hatte: sie salbte Jesus unaufgefordert mit kostbarem Öl. Eine Geste verschwenderischer Liebe.

Wie können wir Gottes Liebe ver-schwen-derisch aufleuchten lassen? Das Bild des 7-gängigen Labyrinths lädt uns ein, auf dem Weg zur Mitte, auf dem Weg nach Ostern jede Woche an einer seiner Biegungen innezuhalten, uns zu wenden, die Perspektive zu wechseln, zu horchen, zu bedenken und dabei neu in den Blick zu nehmen, wie wir unserer persönlichen Berufung als Christinnen am Anfang des 21. Jahrhunderts auf die Spur kommen können.

Ich bitte Sie, das (selbst gezeichnete) Labyrinth in die Hand zu nehmen und – wenn Sie mögen – mit dem Finger die jeweiligen Wege des Labyrinths bis zu der nächsten Wendung mitzufahren. Halten Sie hier einen Moment inne.
Ich werde an jeder Biegung biblische Lebensfragen zu Wort kommen lassen, die ein Licht auf die eigene persönliche Berufung werfen können.

Dieser Besinnungsweg ist unterlegt mit leiser Musik, die während der Wortteile immer zurückgedreht wird. – Musik

Wir beginnen mit dem Eingang ins Labyrinth und zeichnen den Weg bis zur ersten Biegung nach.

Die erste Wendung:
Wo bist du?
Alles beginnt mit Gottes Ruf nach uns: Wo bist du …? (vgl. Gen 3,9) – Wo bist du? Da setze ich meinen Namen ein: Wo bist du, XY, in deiner Welt? Wie weit bist du, die du von Anfang an, von Mutterleib an gekannt und berufen bist von mir, in deiner Welt gekommen? Wo steckst du?

Was will ich antworten? Adam antwortete: Hier bin ich! Wie steht es mit meiner Antwort? Wo und wie übernehme ich die Ver-Antwortung für mein Leben? – Musik

Die zweite Wendung:
Wo kommst du her?
Diese Frage stellt der Engel Hagar in der Wüste, wohin sie vor ihrer Herrin Sara geflohen war. (Gen 16,8) –
Ich sehe mit einem freundlichen Blick auf mein vergangenes Leben. Auf Schweres und Schönes, auf Freude und Leid. Ich bin meinen Weg gegangen. Alle Erfahrungen sind ein Teil von mir geworden. Was hat mir im Rückblick geholfen, mich großen Herausforderungen wie Krisen, Kritik, Prüfungen in meinem Leben zu stellen? Aus welchen Kräften konnte ich schöpfen? Erkenne ich einen roten Faden in meinem Leben? – Musik

Die dritte Wendung:
Wo gehst Du hin?
So fragt der Engel weiter nach Hagars Zukunft. (Gen 16,8) – Ich sehe auf den Weg vor mir, soweit ich ihn erkennen kann. Was habe ich mir noch vorgenommen? Wohin treibt mich meine Lebenssehnsucht? Wohin zieht mich meine Liebe zu mir und zu anderen?
– Musik

Die vierte Wendung:
Was trägst du in Dir?
In jeder von uns ist etwas ganz Kostbares, das in keiner anderen ist. Darauf verweist auch das Gleichnis von den Talenten, das Jesus erzählt (Lk 19,11-27). Was sind meine Begabungen? Was macht mich froh, gerade dies ins Leben einzubringen? – Musik

Die fünfte Wendung:
Was willst du, das ich dir tun soll?
Diese schlichte Frage stellt Jesus den Menschen, die sich danach sehnen, an Leib und Seele heil zu werden (z.B. Lk 18,41). Er sieht die Frau, den Mann vor sich an, er berührt sie, er fragt: Was willst du, das ich dir tun soll? Was wäre meine Antwort? – Musik

Die sechste Wendung:
Was soll ich tun, Meister?
Diese Frage stellt der reiche Jüngling an Jesus (z.B. Lk 18,18). – Wo ist mein Platz in meiner Umgebung und in der Gesellschaft? Wo ist der Ort, um in Gottes Schöpfung meine Gaben einzubringen, um Gottes Einwohnung in das Leben der Welt zu fördern? Wo zieht es mein Herz hin? Welche Aufgaben rufen nach mir? Dort, wo deine größte Freude und der größte Mangel zusammentreffen, ist der Ort, wohin
du berufen bist. – Musik

Die siebente Wendung:
Die Mitte
Nach der letzten Biegung werden wir in die Mitte geführt. Am Ende der sieben Wochen feiern wir Ostern. Das Fest des Lebens, der Entmachtung des Todes. Aus Ostern entspringt der große Raum der Gewissheit, dass das Leben siegt. Niemals mehr kann uns der Tod den Tanzschritt des Lebendigen zerstören. Gott kommt zu seiner Welt durch uns hindurch. Lassen wir seinen Glanz durch unsere Begabungen, Eigenwilligkeiten und Schönheit leuchten, damit sein Osterlicht viele Wege in der Welt hell mache.

Lied
Vertraut den neuen Wegen (EG 395)

Gebet
Lebendiger Gott,
immer wieder mache ich mich auf.
Ich suche den roten Faden in meinem Leben, die Mitte, den Sinn.
Oft kann ich den Weg nicht sehen. Viele Umwege verstellen das Ziel, die Mitte.
Da fühle ich mich leer und mutlos.
Mein Gott, wie viele Biegungen liegen noch vor mir?
Aber dennoch: Ich halte fest an dir.
Jede Umkehr bringt mich dir näher,
kein Schritt ist vergeblich vor dir.
Ehe ich es verstehe, liegt eine neue Spur für mein Leben vor mir.
Für deine Wegbegleitung,
nah oder fern,
danke ich dir.

Vater unser

Segen für die Lebensreise
Gottes Segen sei mit dir
auf dem gewundenen Pfad
deines Lebensweges,
bei deinen Aufgaben
in Familie und Beruf,
bei deinen Entscheidungen,
bei jedem Schritt,
den du ins Unbekannte tust.
Gottes Segen sei mit dir. Amen

mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen aus: Brigitte Enzner-Probst, Andrea Felsenstein-Roßberg, Wenn Himmel und Erde sich berühren

Andrea Felsenstein-Roßberg, geb. 1956, hat Theologie und Sozialpädagogik studiert. Sie war 15 Jahre im FrauenWerk Stein tätig und arbeitet jetzt als Referentin für Spiritualität, Kirchenraum und Fortbildung im Gottesdienst-Institut der ELKB.

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