Das Doppeldeutige erschließt sich auf den zweiten Blick: Wunden verbinden. Die Corona-Pandemie zeigt einerseits die Notwendigkeit, Wunden zu verbinden. Andererseits offenbart sie, dass Wunden dazu herausfordern, sich miteinander zu verbinden. Aktionen wie Offenes Ohr und die Einkaufsdienste zeugen davon. Europa droht sich zu spalten. Aber die Europa-Hymne, über Ländergrenzen hinweg online musiziert und präsentiert, schafft Kommunikation.1
Dörfer und Stadtbevölkerungen rücken enger zusammen. Man telefoniert mit Menschen, mit denen man schon lange nichts mehr zu tun hatte. Italien macht uns vor, wie sich zutiefst verletzte Menschen nicht voneinander abschotten, sondern über Balkone hinweg und durch Fenster hindurch ihre humane Verbundenheit aktivieren. Gemeinsam erlittene und verschmerzte Wunden können Menschen zutiefst verbinden, sogar ein Leben lang.
So merkwürdig das klingen mag: Mit dieser Form intimer Kommunikation wird die Wunde zu einem Ort mystischer Erfahrung. „The wound is the place where the light enters you.“ Die Wunde ist der Ort, wo das Licht in dich eintritt. Dieses Diktum wird dem Sufi-Mystiker Jalal ad-Din Muhammad Rumi (1207-1273) zugeschrieben. Er empfiehlt, den Blick nicht von der Wunde abzuwenden, weil man sonst das Licht verpasst. Und wir sollten keinen Moment denken, dass wir uns selbst heilen könnten. Die Wunde ist der schmerzende Ort, wo das Licht hineinströmt, wenn man auf Öffnung und intime Kommunikation setzt.
Auch der Mystiker Thomas Merton (1915-1968) beschreibt eine Erfahrung der Einheit, inniger Verbundenheit mit allen Menschen. „Plötzlich ergriff mich ein Schwindelgefühl, als mir bewusst wurde, dass ich all diese Menschen liebte; dass sie alle mir angehörten und ich ihnen; dass wir einander nicht fremd sein könnten, auch wenn wir uns überhaupt nicht kennen. Es war, als ob ich aus einem Traum der Trennung, der falschen Isolation erwachte.“2 Diese Erfahrung brachte den Mönch und Eremiten dazu, die Grenzen seines Trappistenklosters zu überschreiten und öffentlich gegen den Vietnamkrieg aktiv zu werden. Er knüpfte enge Beziehungen zum Dalai Lama und engagierte sich leidenschaftlich im interreligiösen Dialog. Mystische Erfahrungen ereignen sich mitten in der Krise, mitten in der Bedrohung, aus der Wunde heraus.
Das Christentum hat eine besondere Verbindung zu Wunden, das zeigen seine Feste von Weihnachten über Ostern bis Pfingsten. Es glaubt daran, dass Gott sich in Jesus Christus selbst der menschlichen Verwundbarkeit aussetzt. Gott schafft nicht nur eine verwundbare Welt, sondern geht mitten in sie hinein und kommt als neugeborenes, vulnerables Kind zur Welt. Tatsächlich ereignet sich der worst case der Inkarnation: die Kreuzigung, derer wir in der Karwoche erinnern. Das Kreuz wiederum, schmerzliche Wunde, bewegt die Jünger:innen dazu, sich neu miteinander zu verbinden. An Pfingsten treten sie aus ihrer ängstlichen Verkapselung heraus. Sie gründen eine Kirche, die nicht auf Abschottung, sondern auf einen souveränenUmgang mit der eigenen Verletzlichkeit setzt. Die Jünger:innen riskieren viel, einige bezahlen mit ihrem Leben. Aber gerade in diesem Risiko wird ihr Leben intensiv und lebenswert. Heute noch denken wir an sie.
2) Merton, Thomas: Gewaltlosigkeit – Eine Alternative. Hg. von Gordon C. Zahn. Zürich/Köln: Benziger 1986, 89
3) Bataille, Georges: Die Freundschaft. München: Matthes & Seitz 2002, 44
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