Ausgabe 2 / 2010 Andacht von Elke Seifert

Zur Hölle mit den Gewalttätern!

Andacht mit szenischem Spiel zu Psalm 55

Von Elke Seifert


Vorbereitung: Um die Bedeutung des Raumes in Ps 55 erfahrbar zu machen, sollte der Gruppenraum in die Andacht einbezogen werden und sollten unterschiedliche Stimmen in ihm hörbar sein. Die Stühle sind im Kreis angeordnet. Für die Mitte des Kreises wird ein Plakat mit der Aufschrift „Tätermacht“ angefertigt. Auf der Rückseite des Plakates (die erst am Ende der Andacht durch Umdrehen sichtbar gemacht wird) steht das Wort „Opfermacht“. Das Lesen der Verse von Ps 55 wird auf vier Sprecherinnen verteilt. Sie erhalten eine Kopie des Ps 55, in der die von ihnen zu lesenden Textpassagen markiert sind. Am Rand der Kopie sollte ein Hinweis stehen, von wo aus im Raum der Text zu lesen ist (siehe unten). Außerdem sollten für jede Sprecherin ein Din A 4-Blatt beschriftet sein, auf dem festgehalten ist, welche Stimme sie präsentiert: (Sprecherin 1) Opfer – (Sprecherin 2) Taube – (Sprecherin 3) Stadt – (Sprecherin 4) missbrauchtes Vertrauen. Die Blätter können sich die Sprecherinnen einfach mit einem Band um den Hals hängen, damit sie während des Spiels sichtbar sind.

Begrüßung und Lied:
„Meine engen Grenzen“ (EG 584, Regionalteil des Gesangbuches von Kurhessen-Waldeck)

Hinführung:
Wir möchten Ihnen Ps 55 vortragen. Diesen Psalm haben Frauen, die Opfer geworden sind, für sich als ein hilfreiches Gebet entdeckt. Die klagenden Worte des Psalms ermöglichen es, aus sprachlosem Entsetzen herauszufinden und sich mit Gottes Hilfe wieder als mächtig zu erleben. Die Tätermacht (Plakat in die Mitte legen) in diesem Psalm ist erdrückend. Das Opfer (Spr 1 erhält ihr beschriftetes Rollenschild) klagt. In seiner Fantasie wird es zur Taube (Spr 2 erhält ihr Schild). Es fühlt sich wie eine besetzte Stadt (Spr 3 erhält ihr Schild). Und besonders schmerzlich ist ihr missbrauchtes Vertrauen (Spr 4 erhält ihr Schild).

Lesung mit szenischem Spiel
von Ps 55
Hinweis: Die Sprecherinnen verlassen erst ihre Position im Stuhlkreis der Gruppe, wenn sie ihren Einsatz haben, und bleiben in ihrer zum Sprechen eingenommenen Position so lange, bis ein neuer Einsatz eine andere Position erfordert.

VV 2-6: Spr 1 – „Opfer“ bleibt zum Sprechen an ihrem Platz, steht aber auf
VV 7-9: Spr 2 – „Taube“ geht zum Sprechen aus der Sitzkreis heraus und spricht von außerhalb
VV 10-12: Spr 3 – „Stadt“ steht auf und stellt sich neben das Opfer
VV 13-15: Spr 4 – „missbrauchtes Vertrauen“ bleibt zum Sprechen an ihrem Platz, steht aber auf
V 16: sprechen alle (Spr 1 bis 4) gemeinsam von ihrer jeweiligen Position aus
V 17: Spr 1 – „Opfer“ tritt in den Stuhlkreis zum Plakat „Tätermacht“
und spricht von dort
V 18: Spr 3 – „Stadt“ tritt neben das Opfer und spricht von dort
VV 19-20a: Spr 2 – „Taube“ bleibt außerhalb des Sitzkreises, umrundet ihn, während sie spricht
VV 20b-22: Spr 4 – „missbrauchtes Vertrauen“ tritt in den Stuhlkreis zum Plakat „Tätermacht“ und spricht von dort
V 23: sprechen Spr 2 und 3 gemeinsam, ohne ihre jeweilige Position zu verändern
V 24: sprechen alle (Spr 1 bis 4) gemeinsam und möglichst laut, ohne ihre jeweilige Position noch einmal zu verändern

Danach drehen die Sprecherinnen das Plakat „Tätermacht“ um, so dass nun das Wort „Opfermacht“ erscheint. Sie legen ihre Rollenschilder neben das Plakat und setzen sich alle auf ihren Platz.

Stille

Gedanken zur Meditation:
Gott soll sie hinunterstoßen in die tiefste Grube – die Täter, die Gewalttäter, die Blutgierigen und Falschen, Verlogenen … Zur Hölle mit ihnen! Sie sollen sterben! Sie sollen das durchmachen, was das Opfer durchmachen musste. Sie sollen dieselben Schmerzen erleiden! Sie sollen begreifen, wie es ist, Opfer zu sein, sollen es spüren am eigenen Leibe!

Aus der Klage heraus wird das Opfer stark. Aus der Furcht und dem Zittern, aus dem Grauen heraus hilft nur die Flucht. Die Flucht in eine Welt, in die die Flügel der Taube hineintragen. Das Furchtbare ist, dass die Gewalt ausgerechnet den Ort beherrscht, der bisher so vertraut war, der Geborgenheit schenkte, der Sicherheit bot, der Frieden gewährleisten sollte. Der Taube bleibt nur noch der Weg in die Wüste. Aber wenigstens frei ist sie, kann weg … Vielleicht findet sie in der Wüste einen Ölzweig. Vielleicht gibt es dort doch einen Ort, in dem sie leben kann.

Städte im Alten Testament werden gern metaphorisch als Frauenkörper dargestellt. Der Körper der Frau ist wie eine Stadt. Und jetzt ist er besetzt, dieser Ort. Gewaltsam besetzt von den „falschen Brüdern“, wie es in der Lutherbibel in der Überschrift heißt. Zum Objekt ist der Körper geworden – wie eine Stadt, die man erobert. Überall sind sie: Das Verderben ist im Rathaus, Gewalt auf dem Markplatz, Lügen in allen Straßen. Und zwar rund um die Uhr, Tag und Nacht. Umzingelt, in Besitz genommen – auch in den letzten Winkel sind die Feinde eingedrungen. Sie wird streng bewacht! Wächter sind auf den Mauern, und die falschen Brüder sind in ihr.

Aber noch ist das Opfer nicht tot. Trotz dieser totalen Eroberung ist da noch ein Ich! Es schreit. In der Klage findet der Schmerz einen Ausdruck, wird das Unrecht nicht totgeschwiegen. In den klagenden Worten findet das besetzte Ich noch einen eigenen Raum. Ihn hat die Tätermacht noch nicht zerstören können. Hier war auch keine Gehirnwäsche erfolgreich. Gott möge verhindern, dass auch dieser Raum dem Ich noch verlorengeht!

Hilfesuchend wendet sich das Opfer an Gott. Der Gedanke an ihn, die Hinwendung zum Himmel lässt neue Kräfte zuwachsen. Das Unrecht zu benennen wird möglich. Der Schmerz kann gespürt und ausgedrückt werden. Aus seinem Ich heraus entwickelt das Opfer die Fantasie, wie es sein könnte, wenn sich die Rollen umkehren, wenn die Täter nun selbst Opfer werden – Dank Gottes Hilfe.

„Rache ist süß.“ Die Umkehr der Rollen bringt nicht das Ende von Gewalt. Sie bringt auch nicht den Frieden zurück. Aber der Gedanke an Rache, die Fantasiegebilde, in die sie hinein gemalt werden, sind außerordentlich entlastend. Sie führen aus einer Position der Ohnmacht heraus. Sie lösen keine Konflikte und Probleme. Aber sie bringen in Kontakt mit der eigenen Kraft, mit der eigenen Stärke – und sei es auch nur in der Fantasie.

In seiner Fantasie wird das Opfer dank Gottes Hilfe stark. Gott befreit und schafft Recht. Er pervertiert die Gewalt. Gott bringt erbarmungslos ums Leben. Ein anderes Kraut ist gegen solche Gewalttäter nicht gewachsen! Es sei denn, uns Menschen könnten wirklich Flügel wachsen wie der Taube … Es sei denn, wir könnten den geschundenen, schmerzenden Körper einfach auf der Erde zurücklassen …

Das Opfer weiß nur eines: Wirkliche Sicherheit vor diesem Gewalttäter bringt nur sein Tod. Widersprecht nicht! Wer lässt sich schon auf differenzierte Überlegungen zur Gerechtigkeit ein, wenn er, wenn sie sich von ihren Gewalttätern mit dem Tode bedroht fühlt? Das ist ein Luxus, den muss man sich leisten können. Wem die Gewalt die Kehle zuschnürt, wer dem Tod nahe ist – für die, für den zählt nur, sich noch selbst spüren zu können, zurückzufinden zur eigenen Kraft, sich Hoffnung zu holen – trotz allem. Gott auf seiner, auf ihrer Seite zu wissen – das kann alles ändern. Denn Gott tötet und macht lebendig. Gott befreit und stößt den Gewalttäter hinab in die Hölle.

Wir lesen jetzt noch einmal den
Psalm 55.

Erneute Lesung des Psalms
Der Psalm kann noch einmal in szenischer Darstellung gelesen werden, oder jede Teilnehmerin aus der Gruppe erhält den Text und die Gruppe liest ihn miteinander.

Zeit zur Aussprache, zum Äußern von Gedanken und Eindrücken

Hinweis für die Leiterin:
Texte wie Ps 55 können in Teilnehmerinnen intensive Gefühle wachrufen. Um nicht darin zu verharren, kann es hilfreich sein, tief durchzuatmen und sich zu bewegen. Alles, was dazu führt, die eigene Kraft zu spüren (z.B. mit dem Fuß aufstampfen), tut gut. Das Plakat „Tätermacht/Opfermacht“ sollte am Ende der Gesprächsrunde aus der Mitte genommen werden, eventuell zum Gebet die Mitte sogar mit einer Kerze oder Blume neu gestaltet werden.

Gebet:
Gott,
du bist Grund unserer Hoffnung,
du gibst uns Stärke und Halt.
Furcht, Angst und Entsetzen
haben uns manchmal stumm gemacht.
Wir waren dann wie tot, dem Leben entflohen.
Bei dir aber erfahren wir: Die Todesstarre fällt ab,
wir bekommen neue Kraft.
Denn du, Gott, gibst uns Stärke und Halt
und du bist die Kraft, die Gerechtigkeit schafft.

Lied:
Wir strecken uns nach Dir (EG 626 Regionalteil des Gesangbuches von Kurhessen-Waldeck) oder:
Du, Gott, stützt mich, du, Gott stärkst mich (von Dorle Schönhals-Schlaudt)

Segen:
Lasst uns diese Andacht beenden mit dem Segen unseres Gottes.
Keinen Tag soll es geben, an dem du sagen musst:
Da ist keiner, der mich hört.
Keinen Tag soll es geben, an dem du sagen musst:
Da ist keine, die mich schützt.
Keinen Tag soll es geben, an dem du sagen musst:
Ich halte es nicht mehr aus.

Gott segne uns und behüte uns.
Gott stärke unsere Rücken und gebe uns Luft zum Atmen.
Gott begleite uns heute und alle Tage.
Amen – so soll es sein.(1)

Lied: Bewahre uns Gott, behüte uns Gott (EG 171)(2)

Dr. Elke Seifert, 48 Jahre, ist Gemeindepfarrerin in Hasselroth/Niedermittlau, theologische Studienleiterin im Kirchenkreis Gelnhausen und Gestalttherapeutin. Sie hat im Alten Testament promoviert und sich dabei mit theologischen Wurzeln sexueller Gewalt beschäftigt.


Anmerkungen

1 Zweiter Teil des Segens: Hanne Köhler (©)
2 Sehr passend, vor allem zu Beginn der Andacht, wäre das Lied „Sag es einmal, immer wieder, sprich, wenn dich ein Unrecht quält“ Text: Heidi Rosenstock, Musik: Bernd Schlaudt, in: „Himmel und Erde“, Päd. Materialien zum Thema „Frauen in Gewaltverhältnissen“, hgg. von der Arbeitsstelle Erwachsenenbildung der EKHN, Darmstadt 1995, Seite 11.

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