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Zwecklos, aber sinnvoll

Von Manfred Lütz

Frauenstimme aus der Küche Richtung Wohnzimmer: „Was tust du gerade?“ Antwort: „Ich sitze!“ – „Schaust du gerade Fernsehen?“ – „Nein, ich sitze!“ – „Liest du gerade ein Buch?“ – „Nein, ich sitze!“ – „Willst du nicht mit dem Hund rausgehen?“ – „Nein, ich möchte hier sitzen!“ Dieser unsterbliche Sketch von Loriot erklärt, was Muße ist und warum sie es heute so schwer hat.

Müßiggang ist aller Laster Anfang, sagt der – deutsche – Volksmund.

Für die alten Griechen war das ganz anders. Aristoteles erklärte: Wir arbeiten, um Muße zu haben. Muße hat also nichts zu tun mit dem, was man jetzt „Freizeit“ oder gar „Erholung“ nennt. Denn das sind lediglich die kleinen Geschwister der Arbeit: Da macht man sich fit für die Arbeit, oder man arbeitet einfach weiter – im Hobbyraum oder im „Erlebnisurlaub“. Dagegen war Muße, scholia, im klassischen Griechenland das Eigentliche des Lebens. Die Arbeit dagegen war die a-scholia, die Nicht-Muße.

Muße ist also völlig zwecklos, aber höchst sinnvoll verbrachte Zeit. Es ist die Zeit, in der wir wir selbst sein können, wo wir keine Rolle spielen müssen, nichts herstellen müssen und die unwiederholbare Zeit unseres Lebens intensiv erleben können. Wer sich keine Mußezeiten gönnt und sich nur im täglichen Betrieb aufreibt, der brennt irgendwann aus, der lebt nicht selbst, sondern der wird gelebt – von seinem Terminkalender, seinem Job, seinen „gesellschaftlichen Verpflichtungen“.

Für mehr Lebensqualität: Dieser Test hilft Ihnen, gesund, aktiv, bewusst und glücklich zu leben.

Muße hat nichts mit Langeweile zu tun. Fähigkeit zur Muße heißt auch, einmal eine gewisse Langeweile gelassen aushalten zu können. Muße ist ­keine einfach nur passive Zeit. Vielmehr sind alle Sinne wach und aufnahmebereit für das Schöne der Welt. Die Gedanken schweifen lustvoll ziellos dahin – und werden bisweilen gerade darüber erfinderisch. Philosophische Gespräche erfreuen den Geist, auch gebildete Konversation über Gott und die Welt hat dort ihren Platz – doch beides ohne jeden Zweck des Bildungsbeweises oder der Weltbeglückung.

Solche Mußezeit hat gewiss auch Ergebnisse, aber absichtslose und dadurch vielleicht kreativere. Muße ist die Zeit von Erkenntnis ohne Interesse. In solchen Momenten kann es geschehen, so sagten die Alten, dass das Göttliche den Menschen berührt. Und vor nichts und niemandem muss man sich dafür rechtfertigen, wie man diese Zeit verbracht hat. Mit anderen Worten: Es ist eine Zeit, in der loriotsche Frauenstimmen keine Fragen aus der Küche stellen.

Kleine Übung für Lebenslustige und solche, die es werden wollen: Nehmen Sie sich mal eine halbe Stunde pro 168 Wochenstunden Zeit und tun Sie in dieser Zeit nichts irgendwie Zweckmäßiges. Gehen Sie durch den Wald, nicht mit einem Pflanzen- und Tierbestimmungsbuch, nicht aus Gesundheits- oder Erholungsgründen, auch nicht, um Ihrer Frau zu erzählen, dass Sie durch den Wald gegangen sind, sondern nur, um diesen einmaligen, unwiederholbaren Moment Ihres Lebens zu schmecken, zu riechen, zu genießen. Oder lauschen Sie einer schönen Melodie im Radio, ohne sich gleich zu fragen: „Wie kann ich die noch einmal hören, wo bekomme ich sie auf CD?“ Was Sie in diesem Moment wirklich berührt, können Sie niemals wiederholen! Oder spielen Sie irgendein Spiel, nicht um zu gewinnen, sondern ganz zweckfrei, nur um zu spielen. Sollten Sie das verlernt haben, dann nehmen Sie sich ein Beispiel an Kleinkindern, die stundenlang selbstvergessen im Spiel versinken.

Kurz: Bemühen Sie sich nicht nur darum, gute finanzielle, häusliche und sonstige Rahmenbedingungen fürs Leben herzustellen, sondern versuchen Sie einfach mal selbst höchstpersönlich mit Leib und Seele, mit allen Sinnen wirklich zu leben!

aus:
Wirtschaftswoche 25/2006

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