Ausgabe 2 / 2013 Material von Margot Papenheim

Zweites Leben

Lese-Tipp

Von Margot Papenheim

Frau Weiland wird auf die Intensivstation zu ihrer hirntoten Tochter (28 Jahre) gerufen. Sie begreift nicht, dass ihre Tochter tot ist. Psychisch befindet sie sich im Schock. Auf die Information des Arztes hin, dass die Tochter einen ausgefüllten Organspendeausweis mit sich führte, lehnt die Mutter spontan eine Organspende ab. Auch wenn die beiden anderen Töchter nichts von der Spendenbereitschaft ihrer Schwester wussten, überreden sie die Mutter. Es sei doch der Wunsch der Tochter gewesen, sagen sie: „Wenn einer deiner Enkel was bräuchte, würdest du dann nicht auch …?“

Die Mutter willigt ein. Am Bett der Tochter gestalte ich eine kleine Abschiedsfeier mit Aussegnung. Die Mutter will ihre Tochter unbedingt nach der Organentnahme sehen. Das ist in Absprache mit der Pathologie am nächsten Tag möglich. Wir nehmen uns viel Zeit. Die Mutter wirkt gefasst. Sie schaut sich den Körper ihrer Tochter genau an, streicht über die Narben, sagt kein Wort. Die Bestattung findet vier Wochen später statt. Auch hier wirkt die Mutter gefasst, fast versteinert.
Sechs Wochen danach besuche ich Frau Weiland. Auch jetzt versucht sie die Fassung zu bewahren. Sie erzählt von schrecklichen Träumen und deutet sie als Botschaften ihrer Tochter. Immer wieder die gleichen Bilder, die gleichen Bitten der Tochter, und die Mutter versagt – im Traum – jedes Mal. Ihre Familie versucht das Thema zu vermeiden. Eine Selbsthilfegruppe verstärkt ihre schuldbeladenen Fantasien. … Im Nachhinein durchkämpft Frau Weiland schwere Konflikte. Was sie zuerst tröstete – ihre Tochter wollte es so und wenigstens ein anderer, schwer leidender Mensch kann durch die gespendeten Organe weiterleben – trägt nicht.

Organspende Ja oder Nein – zunächst irritiert mich, dass das Fragezeichen im Untertitel fehlt. Je länger ich in den von Sibylle Sterzik herausgegebenen „Erfahrungen, Meinungen & Fakten“ lese, desto mehr leuchtet es mir ein. Denn das Fragezeichen würde unweigerlich meine Erwartung einer klaren Antwort wecken. Genau die verweigert das Buch. Manche der 21 AutorInnen haben selbst mehr Fragen als Antworten, die meisten haben für sich eine Antwort gefunden – sei es aus persönlicher Betroffenheit, etwa weil sie selbst eine Organtransplantation erhalten oder über die Freigabe von Organen eines nahen Angehörigen entschieden haben, sei es aufgrund beruflicher Erfahrungen, etwa als Krankenhausseelsorgerin oder als Transplantationsmediziner. Fast alle widerstehen der Versuchung, andere Meinungen als unbegründet oder inakzeptabel herunterzumachen. Ein Buch also, das Menschen, die sich auf die Suche nach der für sie selbst richtigen Antwort machen wollen, wirklich helfen kann. Helfen, diffuses Unbehagen zu bewussten Fragen zu klären. Helfen, sich eigenen Antworten zu nähern. Helfen, nicht zuletzt, weil dieses Buch nicht so tut, als stünde die „eigentlich richtige“ Antwort bereits fest, bevor auch nur die Frage formuliert ist.

Es wäre gut gewesen, hätte die Herausgeberin im Vorwort auch darauf hingewiesen, dass die nächsten Angehörigen in großzügiger Auslegung des Transplantationsgesetzes gebeten werden, „nach eigenen Wertvorstellungen“ über die Freigabe der Organe und Gewebe zu entscheiden, wenn es keinen geäußerten oder mutmaßlichen Willen der oder des Hirntoten gibt. (Vgl. „Erläuterung der Leitlinie zur Dokumentation von Ablauf, Inhalt und Ergebnis der Angehörigen oder Gleichgestellter zur Frage der Organspende bei fehlender schriftlicher Einwilligung des Verstorbenen“ – http://www.dso.de/uploads/tx-dsodl/Dokumentation/Angehoerigengespraech.pdf; Seite besucht am 25. Feb. 2013). Fragwürdig ist zudem die Aufteilung in die Kapitel Erfahrungen, Meinungen, Fakten. Persönliche Erfahrungen, das zeigen die Beiträge der beiden ersten Kapitel überaus deutlich, und individuelle Meinungsbildung sind kaum voneinander zu trennen. Und schon gar nicht gibt es bei diesem Thema erfahrungs- und meinungsunabhängige „Fakten“, auch das an allen vier Beiträgen des letzten Kapitels abzulesen. Gleichwohl schmälern die kritischen Hinweise nicht die Empfehlungswürdigkeit des Buchs. Es reizt von der ersten bis zur letzten Seite zu Zustimmung oder Widerspruch. Und fördert so fast unweigerlich die eigene Meinungsbildung – ohne sie moralingeschwängert zu fordern. Eine wohltuende Insel der Nachdenklichkeit im ansonsten oft festgefahrenen gesellschaftlichen Diskurs. pa

Sibylle Sterzik (Hg.)
Zweites Leben
Organspende Ja oder Nein – Erfahrungen, Meinungen & Fakten
© Wichern, Berlin 2013, ISBN 978-3-88981-353-4

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