Ausgabe 1 / 2013 Artikel von Gabriele Mayer

Zwiespältige Vergangenheit – vielfältige Gegenwart

Frauenblicke auf Missionsgeschichte

Von Gabriele Mayer

In unserer heutigen Beirats-Sitzung sind wir zwölf Frauen, Delegierte der Frauenarbeiten von fünf Landeskirchen und Missionsgesellschaften. Wir überlegen, wo die nächste internationale Frauenkonsultation stattfinden kann.

Zur letzten, im Libanon, waren Frauen aus fast allen der 28 EMS Kirchen – und zwar aus kulturell und religiös sehr unterschiedlichen Kontexten – zusammengekommen, um am Thema „Gewalt überwinden“ zu arbeiten. Soll nun die nächste in Ghana oder besser in Indien sein? „Oder nicht doch in Deutschland?“, fragt die Kollegin aus Freiburg. Haben wir nicht inzwischen auch Mission nötig? Ja, schon, aber unsere Programme sind doch schon fertig, und so etwas können wir nicht mehr einschieben. Außerdem: Welche Frauengruppen interessieren sich denn hier in Deutschland noch für Mission?

Ja, hier in Deutschland trägt „Mission“ den Klang einer zwiespältigen Missionsgeschichte, in der das Evangelium, im Bewusstsein kultureller Überlegenheit, verbunden mit Gewalt und Kolonialismus transportiert worden ist. Wenn sich heute junge „Weltwärts“-Freiwillige oder ökumenische Mitarbeitende auf ihren Auslandseinsatz vorbereiten, dann spiegeln Trainingseinheiten zu interkulturellem Lernen eine deutliche Änderung in der Haltung Ausreisewilliger wider. Das ist auch Ergebnis eines veränderten Missionsverständnisses.

Das Evangelische Missionswerk in Südwestdeutschland wird zu der Evangelischen Mission in Solidarität
Seit seiner Gründung vor 40 Jahren stand EMS für „Evangelisches Missionswerk in Südwestdeutschland“. Fünf Landeskirchen und fünf Missionsgesellschaften hatten sich zusammengeschlossen, um ihre historisch gewachsenen Beziehungen zu Missions- und Partnerkirchen in Afrika, Asien und Naher Osten auf eine gemeinsame partnerschaftliche Grundlage zu stellen. Eine Entwicklung zu mehr internationaler Gemeinsamkeit war eingeleitet; 2012 wurde das Werk zur „Evangelischen Mission in Solidarität“. Mit dem neuen Namen tritt eine neue Satzung in Kraft. Aus den bisherigen Partnerkirchen in Ghana, Südafrika, Indien, Japan, Südkorea, Indonesien, Libanon, Jordanien, Israel/Palästina werden gleichberechtigte Vereinsmitglieder. Im neuen Namen soll das gewachsene Selbstverständnis einer auch rechtlich internationalen Gemeinschaft von Kirchen und Missionsgesellschaften zum Ausdruck kommen:
– evangelisch – gegründet auf das Evangelium und sich im weltweiten ökumenischen Horizont verstehend;
– missionarisch – mitwirken an Gottes Mission, die uns immer schon voraus ist; in Achtung und Respekt voneinander lernen;
– solidarisch – füreinander einstehen und sich wechselseitig unterstützen durch sharing (Teilgeben) von Lebensfragen, von Macht und von Ressourcen finanzieller und personeller Art.

OUR VOICES –
20 Jahre Frauensolidarität
Und die Frauen? 1991, beim ersten internationalen Forum in Jerusalem, wurden die Grundlagen für eine größere Internationalisierung gelegt. Im Schlussdokument war auch eine stärkere Beteiligung von Frauen gefordert worden. Die Idee eines internationalen Women Newsletter wurde ein Jahr später verwirklicht: erst englisch-, dann auch deutsch- und seit 2006 auch indonesisch-sprachig. Jetzt blicken wir auf zwanzig Jahre OUR VOICES (Unsere Stimmen) zurück. Zwanzig Jahre, in denen Frauen aus drei Kontinenten, unterschiedlichen Bildungsstandes, Ordinierte und Laiinnen, Ehrenamtliche in Frauenarbeitsstrukturen oder Aktivistinnen in Projekten diese Publikation nutzen. Sie erheben ihre Stimme, um die Situation ihrer Gemeinschaft mit-zuteilen und sich mit Schwestern in anderen Ländern zu vernetzen.

Das Jubiläumsheft 2012/2013 ist entlang des Liedes Sister carry on konzipiert. Im Kapitel Sisters sharing the way äußern sich Weggefährtinnen. Im Kapitel Sisters carrying on erinnern sich Beiratsfrauen an die Anfänge von OUR VOICES und auch an manche Kämpfe während ihrer aktiven Zeit. Unter Sisters living their dreams haben wir Frauen in Palästina, Indonesien, Tansania und Surinam getroffen, die ihre Träume für Heilung und Gerechtigkeit in unserer Welt umsetzen – und das oft gegen viele Widerstände. Das Jubiläum von OUR VOICES ist Teil der 40-jährigen EMS Geschichte und Spiegel des neuen Namens: Im Kapitel Sisters standing in solidarity wird beispielhaft sichtbar, wie Solidarität im weltweiten Frauennetzwerk aufleuchten kann.

Erfahrungen auf dem gemeinsamen Weg der Frauen
Bei der Frauenkonsultation im Libanon gehörten die direkten Begegnungen zwischen den Frauen zum Eindrücklichsten: einander wahrnehmen, die Unterschiedlichkeit von Gewalt-Kontexten respektieren lernen und gemeinsam nach Strategien zur Überwindung suchen. Natürlich wurden Empfehlungen formuliert und eigene Vorsätze gefasst. Für die Missionsratssitzung in Chennai/Indien ein Jahr später meldeten zahlreiche Frauenarbeiten zurück, was sie davon umsetzen konnten. Ein beeindruckendes Dokument kam zusammen. Eine stolze Erfahrung. Doch in der Fülle der Tagesordnungspunkte ging dieses Dokument unter und wurde nicht verhandelt. Eine bittere Erfahrung: Ohne personelle Präsenz gehen Frauenanliegen und sichten sehr leicht unter, selbst wenn sie schriftlich vorliegen. Die indonesischen Delegierten hatten sich ein Beratungsangebot für Menschen auf Bali vorgenommen, die von der Terrorgewalt traumatisiert sind. Bei ihrer Kirchenleitung stießen sie damit zunächst auf taube Ohren. Erst, nachdem der zuständige Bischof auf einer internationalen EMS-Tagung dem Thema „Gewalt überwinden“ begegnete war, konnten die Frauen an die Umsetzung gehen. Manchmal sind Umwege und internationale Koalitionen nötig, damit Lobbyarbeit im lokalen Kontext erfolgreich greifen kann.

Das internationale Frauennetzwerk ist sehr heterogen und kann nur in seltenen Fällen (strategisch) gemeinsam agieren – vor allem, seitdem finanzielle und personelle Einschränkungen große Konsultationen mit Delegierten aus allen Kontexten und Kirchen unmöglich machen. Umso mehr will OUR VOICES eine Vernetzungsplattform bleiben, die den eigenen Horizont weitet und für das lokale Engagement stärkt.

Für Dr. OH Hyun Sun aus Gwangju (Südkorea) „ist OUR VOICES einerseits wie ein weit geöffnetes Fenster, durch das ich das Leben von Frauen an verschiedenen Orten und Plätzen der Welt sehen kann. Und andererseits wie ein Spiegel, in dem ich meine eigene Arbeit in der koreanischen Kirche und an der Universität reflektieren kann … Manchmal stellen mich meine Aufgaben vor große Herausforderungen und drohen mich zu lähmen. Aber die vielen Geschichten von Frauen in ihren Arbeitsbereichen, in den lokalen Kirchen und Projekten der EMS, machen mir Mut, und ich höre den Zuspruch heraus: ‚Hyun Sun! Du bist nicht allein!'“

Eine gemeinsame theologische Orientierung der EMS-Gemeinschaft
Die Theologische Orientierung wurde gemeinsam entwickelt und in Chennai/Indien 2003 verabschiedet. In kurzen Abschnitten werden theologische Markierungszeichen für das gemeinsame Unterwegssein der EMS Gemeinschaft beschrieben: Wer sind diejenigen, die hier unterwegs sind? Was verbindet
sie über Sprach-, Kultur-, Konfessionsgrenzen hinweg? Wie verstehen sie sich heute, nach Jahrzehnten, bei einigen gar Jahrhunderten gemeinsamer Missions- und zum Teil Kolonialgeschichte?

§1 sagt, dass „wir … auf dem Weg (sind)“. Dr. Habib Badr, Stellvertretender Missionsratsvorsitzender aus -Beirut, sieht als neue Herausforderung, dass nun frühere Partner zu Mitgliedern werden – mit größerer Verantwortung und Beteiligung – und frühere Mitglieder lernen Partner zu werden, das heißt: ihre eigene Bedürftigkeit erkennen und verstehen, wie zu ihrem glaubwürdigen Zeugnis in Deutschland das Zeugnis ihrer Geschwister aus Asien, Afrika und Naher Osten genuin dazugehört. § 2 spricht davon, dass „Mission … zuerst Gottes Zuwendung zur Welt [ist] … Unser Zeugnis ist Antwort und Beteiligung an Gottes leidenschaftlich-mitleidender und verwandelnder Liebe.“ Hier finden eine missionsgeschichtliche Entwicklung und deren heutiger Diskurs ihren Niederschlag. Schauen wir kurz zurück.

Kleine missionsgeschichtliche Reise
Die Anfänge protestantischer Missionsarbeit im 18./19. Jahrhundert prägten Motive wie „Seelen retten“ und „wohltätige Zivilisation“. Noch 1910 dominierten die nordamerikanischen und europäischen Missionsgesellschaften mit ihren männlichen und weißen Vertretern die Weltmissionskonferenz in Edinburgh/Schottland. Auf dem Foto (siehe S. 38) ist nur eine verschwindende Minderheit von Frauen und von Menschen aus den sogenannten Missionsfeldern erkennbar. Für das Jubiläumsjahr Edinburgh 2010 wurden 100 Jahre Missionsgeschichte recherchiert und reflektiert und neue Herausforderungen benannt. Starker Antrieb war damals, festgemacht an Mt 28,16-20, in einer Generation der ganzen Welt das Evangelium zu verkündigen. Nun werden selbstkritisch die Entwicklungen nach zwei Weltkriegen und dem Trauma der chinesischen Revolution aufgenommen. Das ursprüngliche Sendungsbewusstsein erfährt eine Transformation und äußert sich in einer entscheidenden Relativierung: Gottes Präsenz und Liebe ist schon längst unterwegs und vor aller Missionstätigkeit bei den Menschen. Als christliche Kirchen sollen wir „bloß“ teilhaben an der sogenannten missio dei.

Eine weitere Station war die sogenannte Shalomisierung in den 1960-Jahren, wo mit Lk 4,16-20 als Schlüsseltext das zu erwartende und zu befördernde Reich Gottes als „Evangelium den Armen“ entdeckt wurde. Die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts erlebten zeitweise heftige Abgrenzungen zwischen Mission im Sinne von primärer Evangelisationsarbeit und Entwicklungshilfe im Sinne von primärer Lebenshilfe, oft – um zwei grob vereinfachende Schlagworte zu gebrauchen – evangelikalen und liberalen Strömungen zugeordnet. Dennoch gelang es den Mitgliedskirchen im Ökumenischen Rat der Kirchen 1982, eine ökumenische Erklärung als Grundlage für ein gemeinsames Missionsverständnis zu verabschieden, die auch von orthodoxen und evangelikal orientierten Kirchen akzeptiert wurde. In Vorbereitung der nächsten Vollversammlung des ÖRK 2013 in Korea hat das Zentralkomitee eine neue Missionserklärung angenommen. Die „setzt sich ein für Gerechtigkeit, Solidarität und Inklusion als zentrale Ausdrucksformen der Mission, die von den Rändern der Gesellschaft ausgeht“ – so Bischof Geevarghese Mor Coorilos, Vorsitzender der ÖRK-Kommission für Weltmission und Evangelisation.

Zurück zur EMS. Die 28 Kirchen und Missionsgesellschaften haben das Verbindende ihrer Gemeinschaft so beschrieben: Das Evangelium gilt allen Dimensionen des Lebens. Unser Zeugnis ist deshalb ganzheitlich. Verkündigung des Evangeliums, Gottesdienst und Gebet, Seelsorge, Religionspädagogik, Diakonie sowie der Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden, Versöhnung und die Bewahrung der Schöpfung gehören unlösbar zusammen. Und wie gehen sie mit Differenzen um? Als ein „Forum für gelebte Ökumene“ dient unsere Gemeinschaft dazu, dass wir in unserem Zeugnis über Grenzen hinweg voneinander lernen, dass wir einander ermutigen, und dass wir uns wechselseitig herausfordern.

Für die Arbeit in der Gruppe

Kopiervorlagen für AbonnentInnen unter www.ahzw-online.de / Service zum Herunterladen vorbereitet

– Austausch: Was verbinden wir mit „Mission“? Welche Geschichten, Bilder … assoziieren wir? – Rundgespräch; evtl. stichwortartig auf einem großen Plakat in der Mitte notieren

– zwei Fotos (siehe S. 38/39) im -Vergleich: Edinburgh 1910 – 2010. Welche Unterschiede nehmen Sie wahr? Was mag in diesen 100 Jahren an Entwicklung geschehen sein?

– kurze Information (vgl. Kapitel Missionsgeschichtliche Reise)

– Die von der EMS und vielen anderen Kirchen, Missionswerken und Verbänden in Deutschland initiierte Kampagne mission.de steht unter dem Leitwort „um Gottes willen – der Welt zuliebe“. Auf vier Plakate sind Motive heutigen Missionsverständnisses gedruckt:
engagieren: Für Gerechtigkeit weltweit eintreten – kritisch und engagiert
stärken: Als Partner auf dem Weg – gemeinsam und solidarisch
begeistern: Weltweite Gemeinschaft der Christen – begeistert und vielstimmig
begegnen: Anderen Menschen begegnen – achtsam und verbindlich

möglichst die Poster unter www.mission.de bestellen und aufhängen – alternativ: Texte groß auf je ein Plakat schreiben und/oder Kopien für alle

Austausch: Welches der Poster nimmt Ihr Verständnis von Mission auf? Oder fehlt „Ihr“ Poster?

Videoclip (6 Minuten, direkt abspielbar von www.mission.de): Welche Person hat mich angesprochen? Was hat mich daran angesprochen? Wo möchte ich widersprechen?

Abschluss: „Sister, carry on“ gemeinsam singen – oder ein den TN bekanntes Lied z.B. aus dem WGT

Dr. Gabriele Mayer ist Diakonin der Württembergischen Landeskirche.
Theologischen Studien in USA zu Post-Holocaust Religious Education folgten Lehraufträge u.a. in Legon/Ghana. Seit 2001 ist sie Leiterin der Stabsstelle Frauen & Gender bei der EMS, seit 2011 zudem Referentin für interkulturelle Theologie.

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang