Ausgabe 1 / 2020 Bibelarbeit von Christine Rudershausen

Verlern‘ das Staunen nicht

Vom Pfingstwunder der Ökumene

Von Christine Rudershausen

Verlern‘ das Staunen nicht! Viele Jahre lang klebte der Satz, ausgeschnitten aus einer Zeitschrift, an meinem Schreibtischregal und begrüßte mich jeden Morgen. Mich haben diese aufmunternden Worte immer wieder an die wunderbare Gabe von Kindern erinnert, die so unbekümmert und echt staunen können – über den kleinen Marienkäfer auf dem Grashalm, über den Mond, der hinter den Häusern emporsteigt, über den passenden Platz für das Puzzleteil in der Hand.

Und ich? Ich will auch staunen können, immer wieder aufs Neue, wenngleich der kleine Papierstreifen inzwischen vergilbt und zerfleddert ist. Denn beim Staunen nehme ich etwas ganz bewusst wahr – voller Bewunderung oder mit Respekt, manchmal auch überrascht oder gar befremdet. Da bleibt mir der Mund offenstehen, und meine Augen leuchten vor Begeisterung. Am liebsten staune ich über das Leben und all seine Vielfalt, über Menschen und ihre Geschichten, über Begegnungen und Gespräche. Und auch das Staunen über Gottes Geschichte mit uns Menschen möchte ich nicht verlernen. In gewisser Weise erzählt genau davon auch ein Bibeltext im Neuen Testament aus dem 2. Kapitel der Apostelgeschichte:

1Als der 50. Tag, der Tag des Wochenfestes, gekommen war, waren sie alle beisammen. 2Da kam plötzlich vom Himmel her ein Tosen wie von einem Wind, der heftig daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie sich aufhielten. 3Es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich zerteilten, und auf jede und jeden von ihnen ließ sich eine nieder. 4Da wurden sie alle von heiliger Geistkraft erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden; wie die Geistkraft es ihnen eingab, redeten sie frei heraus.


Da ist also die Rede vom jüdischen Wochenfest. 50 Tage sind vergangen seit dem Pessachfest. Kreuz und Auferstehung sind noch präsent. Es ist wie eine Zwischenzeit. Die Vergangenheit hat die Menschen geprägt, die Gegenwart ist voller Umbruch. Was die Zukunft bringt, ist vage. Doch sie sagen Dank für die ersten Früchte der Ernte und für den Bund, den Gott mit uns Menschen hält. Bei diesem Fest hier sind alle beisammen. Jünger und Jüngerinnen und eine ganze Menge mehr, um die 120 Menschen, so lesen wir kurz zuvor. Und dann geschieht etwas Überraschendes.

Knapp und klar wird von diesem „Tosen wie von einem Wind“ erzählt. Es ist wie ein Brausen, ein Sturm, so kennen wir es aus anderen Übersetzungen. Da pfeift ihnen im wahrsten Sinne des Wortes etwas um die Ohren. Rüttelt auf. Wir kennen das auch aus dem Ersten Testament von den Erzählungen der Nähe und Gegenwart Gottes. Und auch hier ist Gott da. Mittendrin. Im Tosen, im Wehen, in und mit der Geistkraft ruach. Sie ist Gottes Geschenk, Gottes Gabe. Die „Zungen von Feuer“ legen sich auf die Menschen. Etwas entflammt in ihnen. Für was brennen sie? Das ganze Haus wird von dieser Geistkraft erfüllt, und jede und jeder wird berührt, ja angerührt. Mitten ins Herz geht das.

5Unter den Jüdinnen und Juden, die in Jerusalem wohnten, gab es fromme Menschen aus jedem Volk unter dem Himmel. 6Als nun dieses Geräusch aufkam, lief die Bevölkerung zusammen und geriet in Verwirrung, denn sie alle hörten sie in der je eigenen Landessprache reden. 7Sie konnten es nicht fassen und wunderten sich: „Seht euch das an! Sind nicht alle, die da reden, aus Galiläa? 8Wieso hören wir sie dann in unserer je eigenen Landessprache, die wir von Kindheit an sprechen? 9Die aus Persien, Medien und Elam kommen, die in Mesopotamien wohnen, in Judäa und Kappadozien, in Pontus und in der Provinz Asien, 10in Phrygien und Pamphylien, in Ägypten und in den zyrenischen Gebieten Libyens, auch die aus Rom Zurückgekehrten, 11von Haus aus jüdisch oder konvertiert, die aus Kreta und Arabien kommen: Wir hören sie in unseren Sprachen von den großen Taten Gottes reden.“

Das ist zweifellos ein irritierendes und befremdendes Erlebnis. Kein Wunder, dass sie fassungslos sind angesichts dessen, was da gerade passiert. Das lässt sich nicht so einfach einordnen und erklären. Weil es so unglaublich ist, buchstäblich nicht zu fassen. Denn es passiert etwas, wonach wir Menschen uns zutiefst immer wieder sehnen: dass wir uns untereinander über alle Grenzen hinweg verstehen. Erleben, dass Kommunikation gelingt, dass Gemeinschaft entsteht, ein wirkliches und echtes Miteinander. Da lassen sich die Menschen anstecken und begeistern. Jüdinnen und Juden, die aus den verschiedenen Regionen nach Jerusalem gepilgert sind, und andere. Aus allen Himmelsrichtungen.

Erinnern wir uns noch an diese Sehnsucht, wenn wir das Pfingstfest feiern? Sozusagen den Geburtstag der Kirche – oder, so können wir es ja auch lesen, die Geburtsstunde der Kirchen und damit auch der christlichen Ökumene.

Wie wäre es denn, wenn wir die Pfingstgeschichte einmal in diese
„Richtung“, als Geburtsfest der christlichen Ökumene denken?

Die Menschen damals hören, was geredet wird, in ihren jeweiligen Muttersprachen. Menschen mit unterschiedlichen Sprachen können einander verstehen. Die Geistkraft eröffnet diese Möglichkeit des Sprachenwunders wie einen neuen Raum. Da entsteht Raum und Platz für Beziehung, für ein Mehr. Da bricht etwas auf. Und Gottes Geistkraft kann strömen für alle.

Ganz Ähnliches kennen wir aus vielen ökumenischen Bezügen wie dem Ökumenischen Rat der Kirchen oder der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (ACK). In der Weltgebetstagsbewegung oder im Ökumenischen Forum christlicher Frauen in Europa (OEFCFE) erleben gerade wir Frauen immer wieder etwas von diesem Pfingstwunder, diesem gegenseitigen Verstehen und Verbunden-Sein in aller Vielfalt der je eigenen Traditionen, Liturgien und Theologien der Kirchen und Konfessionen. Mit großem Respekt, mit mutigen Schritten und weiten Herzen gehen wir aufeinander zu, hören einander zu, nehmen neue Perspektiven ein.

Aufrichtig, vertrauensvoll und wertschätzend. So lassen sich im Vertrauen auf das Wirken von Gottes Geistkraft auch Wege und Räume für Neues öffnen – für Leben in Fülle. Dann können wir mutig Erfahrungsräume schaffen, die von Gottes befreiender Botschaft erzählen. Räume, die dem Leben dienen, Grenzen überwinden und Hoffnung machen auf ein lebendiges und buntes Miteinander, ohne die Angst, an Strukturen und Machtgesetzen zu scheitern.

12Sie alle konnten es nicht fassen und waren unsicher; sie sprachen zueinander: „Was mag das sein?“

Vielleicht ahnen sie, dass Gottes Verheißung aus dem Buch Joel gilt?


17Sein wird’s in den letzten Tagen, spricht Gott, da will ich von meiner Geistkraft ausgießen auf alle Welt, dass eure Söhne und eure Töchter prophetisch reden, eure jungen Leute Visionen schauen und eure Alten Träume träumen.


Manchmal können wir es tatsächlich nicht fassen – vielleicht, weil sich Gottes Geistkraft einfach nicht fassen lässt. Weil Gottes Geistkraft kraftvoll ist und zugleich unberechenbar bleibt. Direkt und unermüdlich weht. Und weil wir uns davon umwehen, durch-hauchen lassen können, um immer neu beseelt zu werden von einer Begeisterung, die uns in Bewegung setzt, mutig und befreit von Angst.


Der ökumenische Gedanke schließt das Gebet für die Einheit der Kirchen mit ein. Doch damit wir auf dem Weg dahin weiterkommen, braucht es neben dem Beten unsere Phantasie und unser Engagement. Könnte dieser Gedanke nicht auch als ein biblischer Auftrag aus dem Pfingstereignis von damals erwachsen? Wir können die Stimme erheben und eine Sprache sprechen, die niemanden mehr ausgrenzt und die Gemeinschaft und gegenseitiges Verstehen fördert.

Wie gut, dass Gottes Geistkraft immer wieder für Überraschungen gut ist. In diesem Sinne: Verlern‘ das Staunen nicht!


Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit / circa 45/90 min


Lied
Komm, Heil’ger Geist,
mit deiner Kraft
in allen gängigen Kirchenliederbüchern

Apg 2,1-12.17 lesen


„Komm, Heil’ger Geist, mit deiner Kraft, die uns verbindet und Leben schafft.“ So haben wir eben gesungen. Ja, wir bitten um diese Heilige Geistkraft, die uns in ökumenischer Vielfalt und Verbundenheit immer wieder ins Leben ruft und Lebendigkeit verheißt.

Von diesem lebendigen Miteinander erzählt auch der Bibeltext aus der Apostelgeschichte im 2. Kapitel. Wir kennen die Verse als „Pfingstwunder“. Gemeinsam wollen wir diesen Text jetzt lebendig werden lassen. Jede und jeder von Ihnen bekommt jetzt eine Kopie des Textes. Damit gehen wir im Raum umher und lesen – jede in ihrem, jeder in seinem Tempo – alle gleichzeitig laut die Geschichte, um etwas von der Atmosphäre damals aufscheinen zu lassen. [ circa 20 Minuten ]


Das ist die Ausgangsituation damals.


Was berührt mich? – Wer mag, erzähle in einem Satz, was sie, was ihn an dem Text oder an der Erfahrung berührt. Niemand wird das, was Sie sagen, kommentieren.


Geburtsfest der Ökumene
„Sie alle hörten sie in der je eigenen Landessprache reden“, haben wir gelesen. Und: „Wir hören sie in unseren Sprachen sprechen.“ Sie hören einander und sie verstehen sich – das war und ist bis heute in der Geschichte der Kirchen nicht immer so. Wie wäre es denn, wenn wir die Pfingstgeschichte einmal in diese „Richtung“, als Geburtsfest der christlichen Ökumene denken? Kommen Ihnen dazu eigene Erfahrungen aus der ökumenischen Zusammenarbeit mit Christinnen und Christen anderer Konfessionen in den Sinn? [ca. 15 Minuten ]


Hinweis für Leiter*innen: Der folgende Schritt ermöglicht eine vertiefte Auseinandersetzung mit ein konkreten Arbeitsfeld der ökumenischen Zusammenarbeit christlicher Frauen in Deutschland. Je nach verfügbarer Zeit und Interesse der Gruppe können Sie die Bibelarbeit aber auch jetzt mit dem abschließenden Gebet beenden.


Beispiel Christinnenrat
In Deutschland arbeiten die christlichen Frauenorganisationen seit 20 Jahren im Christinnenrat zusammen. Ihre ökumenischen Erfahrungen, Ziele und Handlungsvorschläge haben sie in zehn Ökumenischen Leitsätzen gebündelt. Damit wollen sie „die ökumenische Gemeinschaft unter Frauen stärken und zur Erneuerung der Kirchen im Geist ökumenischer Offenheit beitragen“.


Ich habe Ihnen einige Auszüge aus diesen Leitsätzen mitgebracht, die Impulse für unser Nachdenken über Ökumene sein können. [Sätze einzeln auf A4-Blätter kopiert ausgelegen.]


– Ökumenische Praxis bedroht nicht das je eigene konfessionelle Profil, sondern ist im Gegenteil dessen notwendiger Bestandteil.
– Christliche Kirchen können diesen ökumenischen Auftrag nur erfüllen, wenn dabei die Sichtweisen, Erfahrungen und Kenntnisse von Frauen gleichberechtigt zum Tragen kommen.
– Ökumenisches Handeln muss sich immer auch daran orientieren, inwieweit es ungerechte Strukturen zwischen den Geschlechtern verfestigt oder Geschlechtergerechtigkeit befördert.
–  Ökumenisches Handeln wird zum Prinzip kirchlichen Handelns.
– Christliche Ökumene bezieht alle Konfessionen mit ein und will die multilaterale Zusammenarbeit der Kirchen.
– Ökumenisches Handeln fordert über die Stärkung der innerchristlichen Verbindungen hinaus zur Überschreitung kirchlicher Grenzen heraus.
–  Ökumenisch zu handeln ist für die christlichen Kirchen die wirksamste Weise, ihren Auftrag zur Gestaltung des „bewohnten WeltHauses“ in Gerechtigkeit und Frieden und unter Bewahrung der Schöpfung zu erfüllen.
– Ökumene braucht Leidenschaft für die Einheit der Kirche und Mut zu neuen Schritten.
–  Ökumenisches Denken und Handeln wird getragen durch den Willen zur intellektuellen Auseinandersetzung mit den theologischen Differenzen und Fortschritten zwischen den Kirchen und Konfessionen und ihren jeweiligen historischen Ursachen.
– Ökumenisches Denken und Handeln wird getragen von einer bewusst gepflegten ökumenischen Spiritualität, die sich äußert in einer Haltung der Gastfreundschaft gegenüber den jeweils anderen und im Festhalten am Ziel, dass diese Haltung auch in Eucharistie- und Abendmahlsgemeinschaft verwirklicht wird.
–  Ökumenisches Denken und Handeln wird getragen von einer bewusst gepflegten ökumenischen Spiritualität, die sich in der Bereitschaft äußert, den Reichtum der Vielfalt christlicher Konfessionen zu erkennen und die Begrenztheit der je eigenen Konfession wahrzunehmen


Gehen Sie umher, nehmen Sie sich Zeit zum Lesen, und stellen Sie sich dann zu der Aussage, die Sie im Moment am meisten anspricht. Tauschen Sie sich kurz mit denen aus, die sich ebenfalls zu diesem Satz gestellt haben. [ circa 20 Minuten ]


Hinweis für Leiter*innen: Alternativ können Sie Blätter/Kärtchen mit Aussagen der Leitsätze mehrfach auslegen. Die TN suchen sich einen Satz aus, der sie am meisten anspricht, und stellen ihn in der Gruppe vor.


Impulse zum Austausch: Warum habe ich diesen Satz gewählt? Wo bringe ich eigene Erfahrungen damit in Verbindung? Wie lässt sich die Aussage dieses Satzes für die Zukunft (noch) besser umsetzen?

Für ein abschließendes Blitzlicht empfiehlt es sich, die genannten „Zukunftsperspektiven“ auf einem Plakat schriftlich festzuhalten.


Gebet und Segen:


//  Gott, du Quelle des Lebens, //  Du hast uns deinen Sohn Jesus Christus //  als Bruder an unsere Seite gestellt. //  Du hast uns deine Geistkraft geschenkt //  und uns mit vielfältigen Gaben gesegnet. //  Du stärkst uns und begleitest unsere Wege, //  wenn wir Einheit in Vielfalt leben. //  Du eröffnest neue Räume, //  wo wir gemeinsam diese Welt gestalten. //  Du durchströmst uns mit deiner Geistkraft, //  dass wir kreativ und mutig neue Schritte wagen. //  So lass uns voller Staunen von deinen Wundern erzählen, //  und sei bei uns mit deinem Segen. //  Segne unser Denken ?und Tun, unser Verstehen und Reden. //  Segne unser Leben. //

Amen.


Inspirierendes zum Weiterlesen:

Grundkurs Bibel Neues Testament 2 KBW, Stuttgart 2002
Ina Praetorius: Gott dazwischen Grünewald Verlag, Ostfildern 2008
Heiliger Geist erfülle mich. Ideen und Informationen. Arbeitsheft zum Weltgebetstag 2003
www.christinnenrat.de

Christine Rudershausen ist ausgebildete Buchhänd- lerin und feministische Theologin. Sie ist in Pastoral und Lebensbegleitung tätig. Als Bibliodramaleiterin (GfB), Bibliologin und als Referentin für Frauenspi- ritualität ist sie oft ökumenisch unterwegs – unter anderem als Delegierte für baf (bund alt-katholischer frauen) im Deutschen Weltgebetstagskomitee und Mitglied im Team der Ökumenischen Bundeswerkstätten.

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