Ausgabe 2 / 2021 Bibelarbeit von Rainer Kessler

Ein Bethaus für alle Völker (Jesaja 56,7)

Über Zugehörigkeit und Abgrenzung

Von Rainer Kessler

In dem Wort aus dem Johannesevangelium, das die Jahreslosung für 2022 bildet, sagt Jesus, er werde keinen, der zu ihm kommt, hinauswerfen. Man wird fragen: Ist das denn keine Selbstverständlichkeit? Nein, denn es hängt ganz von den Umständen ab. Wenn jemand Hilfe braucht und zu mir kommt, sollte ich niemanden hinauswerfen. Wie die Staaten der Europäischen Union mit Flüchtenden umgehen, ist deshalb ein Skandal. Aber gilt das immer, überall und bedingungslos? Wenn Mädchen einer Schulklasse sich zu einer Lerngruppe zusammenschließen, haben sie das Recht, keine Jungen zuzulassen. Das halte ich für eindeutig. Aber es gibt Streitfälle. Vor jedem Kirchentag wird seit Jahren diskutiert, ob man Politiker*innen der AfD ein Podium geben soll, weil doch alle Parteien des Bundestags dort reichlich vertreten sind, oder nicht. Nichts ist selbstverständlich und eindeutig.

Silke Petersen geht in ihrem Beitrag auf die näheren Umstände des Jesusworts im Johannesevangelium ein. Ich konzentriere mich in meinem ersttestamentlichen Beitrag auf ein Wort aus dem Buch des Propheten Jesaja. An ihm lassen sich drei Aspekte des Problems aufzeigen:

1    Wenn es um Zugehörigkeit oder Abgrenzung geht, gehören immer zwei Größen dazu, ob Einzelpersonen oder Gruppen: Eine, die aufnehmen oder zurückweisen kann und eine, die aufgenommen werden möchte.

2    Auf beiden Seiten geht es wesentlich um Identität: Was bedeutet es für die Identität einer Gruppe, jemand aufzunehmen, der ursprünglich nicht dazugehörte? Welche Folgen hat das für diese Gruppe? Und was bedeutet es für die Identität derjenigen, die aufgenommen werden wollen, wenn sie in eine Umgebung aufgenommen werden, die anders ist als ihre bisherige?

3    Der Jesajatext zeigt schließlich, dass in der Beziehung der beiden Seiten keine ohne Veränderung der eigenen Identität auskommt.

Im Text Jesaja 56,1-8 treten drei Gruppen auf. Die erste ist das Volk Jhwhs, Israel. An dieses geht der Wunsch, dazugehören zu dürfen. Diejenigen, die dazugehören wollen, bilden selbst zwei klar unterschiedene Gruppen. Die erste sind Fremde, also Menschen, die nicht zum Volk Israel gehören. Die zweite Gruppe bilden Männer, die am Geschlecht verstümmelt wurden; die Übersetzungen sprechen von Verschnittenen, Eunuchen oder Kastraten. Ich beschränke mich im Folgenden auf die Fremden. Es sind nicht beliebige Fremde, sondern solche, „die sich Jhwh“ – also dem Gott Israels, dessen Name nicht ausgesprochen wird – „angeschlossen haben“, wie es zweimal heißt. Sie beklagen sich: „Jhwh sondert mich von seinem Volk ab.“ Der Prophet aber sagt ihnen, Gott werde sie zu seinem heiligen Berg bringen, werde sie in seinem Bethaus fröhlich machen und ihre Opfer wohlwollend annehmen. Zur Begründung wird der Satz angefügt: „Denn mein Haus soll ein Bethaus genannt werden für alle Völker.“ So lauten die entsprechenden Verse im Zusammenhang (Jes 56,3-8):

3Der Fremde, der sich Jhwh angeschlossen hat, sage nicht: „Gewiss schließt mich Jhwh von seinem Volk aus!“ […] 4So spricht Jhwh: […] 6„Die Fremden, die sich Jhwh angeschlossen haben, ihm zu dienen, den Namen Jhwhs zu lieben, um seine Getreuen zu sein, jeden, der den Sabbat hält, ihn nicht zu entweihen, und die an meinem Bund festhalten, 7die bringe ich zu meinem heiligen Berg und erfreue sie in meinem Bethaus. Ihre Brandopfer und Schlachtopfer werden ein Wohlgefallen sein auf meinem Altar. Denn mein Haus soll ein Bethaus genannt werden für alle Völker.“ 8Spruch des Herrn Jhwh, der die Versprengten Israels sammelt: „Ich will noch mehr zu den Gesammelten sammeln.“
Wie kann Israel Israel bleiben?
Die zwei Größen der Konstellation sind leicht zu fassen. Die eine heißt „sein Volk“, also Jhwhs Volk, das Gottesvolk; im letzten Vers ‚Israel‘ genannt. Inwiefern geht es im Text um Israels Identität?

Die Identität eines Volkes hing im Altertum ähnlich wie heute an vielen Faktoren: Territorium, Sprache, Kultur, Religion, Regierungsform. Als der Jesajatext geschrieben wurde, wahrscheinlich im 5. oder 4. Jh. v. Chr., war Jerusalem Hauptstadt der kleinen Provinz Juda, die zum persischen Weltreich gehörte. Ein eigenes Königtum hatte Juda nicht mehr; die Provinz wurde von einem Statthalter im Auftrag der persischen Krone verwaltet. Auch lebte die Mehrzahl der Jüdinnen* nicht in Juda, sondern in Nachbarprovinzen oder entfernt in Babylonien und Ägypten. Selbst die alte hebräische Sprache, die vor dem babylonischen Exil alle sprachen, wurde allmählich vom Aramäischen als Alltagssprache verdrängt. Kam es zu Heiraten zwischen Jüdinnen* auf der einen und Angehörigen anderer Völker auf der anderen Seite, kam es vor, dass die Kinder nicht mehr Hebräisch sprachen. Starb der jüdische Partner, konnte das Familienerbe für immer in fremde Hände gelangen. Was für jüdische Identität blieb, war im Wesentlichen die Religion. An ihr galt es unbedingt festzuhalten.

Es gab gewichtige Stimmen, die zum Erhalt der religiösen Identität strikt dagegen waren, Fremde ins jüdische Volk aufzunehmen. Das betraf zwei Felder des Ausschlusses: Das eine war die direkte Aufnahme in die „Versammlung Jhwhs“, wie man das „Volk Jhwhs“ auch nannte, besonders in Bezug auf die Religion. Für Moabiter und Ammoniter, die östlich von Juda siedelten, wurde sie strikt und für immer ausgeschlossen, für Edomiter und Ägypter in der dritten Generation erlaubt (Dtn 23,4-9). Das zweite Feld war die Eheschließung. Israelitische Männer und Frauen sollten sich nicht mit nicht-israelitischen Frauen und Männern vermählen. Als Begründung wird ausdrücklich die Befürchtung genannt, dass diese ihre Partner vom Gott Israels abwenden und zum Dienst anderer Gottheiten überreden könnten (Dtn 7,3-4). Etwa zeitgleich mit unserem Jesajatext wird im Esrabuch sogar die Auflösung solcher Ehen zwischen israelitischen und nicht-israelitischen Parteien verlangt – wieder ist die Sorge um die religiöse Integrität das Hauptmotiv (Esr 9–10).

Wenn in unserem Jesajatext die Fremden mit den Worten zitiert werden: „Jhwh schließt mich von seinem Volk aus“, dann haben sie solche Stimmen im Ohr. Deren Anliegen ist gewiss nicht aus der Luft gegriffen. Hätte das jüdische Volk zweieinhalb Jahrtausende in seiner Identität überlebt, wenn es sich nicht abgegrenzt hätte? Hätten die Deutschen, die nach Siebenbürgen oder in andere Regionen Mittel- und Osteuropas ausgewandert waren, ihre Identität über Jahrhunderte wahren können, wenn sie nicht an ihrem Eigenen festgehalten hätten? Meist war das damit verbunden, untereinander zu heiraten. Die christliche Minderheit in Ägypten, die Kopten, die etwa ein Zehntel der ansonsten muslimischen Bevölkerung ausmachen, achten darauf, dass ihre Kinder untereinander heiraten, begründet mit der Sorge um die eigene Gruppe und ihre christlich-religiöse Identität.

Und doch plädiert unser Jesajatext für Offenheit. Das hängt mit der anderen Seite der Konstellation zusammen.
„Der Fremde, der sich Jhwh angeschlossen hat“
(Jes 56,3)
Auch das Prophetenwort in Jes 56,1-8 stellt Israels religiöse Identität nicht in Frage. Der Text handelt nämlich nicht davon, ob man in Not geratene Fremde in Juda aufnehmen soll. Das war selbstverständlich. Wir hören zum Beispiel von Kriegsflüchtlingen aus dem benachbarten Moab (Jes 16,4). Auch jüdische Menschen haben immer wieder in Anspruch genommen, bei Hungersnöten ins Ausland zu fliehen und sich dort vorübergehend aufzuhalten, von Abraham und Sara angefangen (Gen 12,10-20). Solche Fremden mussten sich in Juda nicht einmal an die dort geltenden Speisegesetze halten; sie durften ein verendetes Tier verzehren (Dtn 14,21).

Von solcher Notmigration, bei der die Frage der religiösen Identität keine große Rolle spielt, handelt Jes 56 nicht. Es geht hier nicht um beliebige Fremde, sondern um solche, „die sich Jhwh angeschlossen haben, ihm zu dienen, den Namen Jhwhs zu lieben, um seine Getreuen zu sein, jeden, der den Sabbat hält, ihn nicht zu entweihen, und die an seinem Bund festhalten“ (V. 6). Wie die Moabiterin Rut, die sich nach dem Tod ihres Mannes ihrer jüdischen Schwiegermutter anschließt, sagen sie: „Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott“ (Rut 1,16). Und anders als das sogenannte Gemeindegesetz in Dtn 23 oder die Mischehenerzählung in Esr 9–10 geht der prophetische Jesajatext nicht davon aus, dass fremde Personen, weil sie fremd sind, eine religiöse Gefahr darstellen. Es ist nicht gesagt, dass die Männer sich beschneiden lassen. Aber sie nehmen den Gott Israels als ihren Gott an. Das, so der Jesajatext, soll man ihnen nicht verwehren. Sie sollen, wie jüdische Menschen auch, am Tempelkult teilnehmen dürfen. Ihre Opfer wird Gott genauso annehmen wie die seiner jüdischen Anhängerschaft.

Welches Haus wollen wir bauen?
Nach dem Spitzensatz: „Denn mein Haus soll ein Bethaus genannt werden für alle Völker“ folgt die Ankündigung: „Spruch des Herrn Jhwh, der die Versprengten Israels sammelt: Ich will noch mehr zu den Gesammelten sammeln“ (V. 8). Dass Gott Israel nach den Zerstreuungen, deren größte die sogenannte babylonische Gefangenschaft war, und nach dem Leben in der Diaspora eines Tages in seinem Land sammeln würde, war damals die Hoffnung Israels und ist es teilweise bis heute. Der Zionismus versucht, dies politisch umzusetzen, andere erwarten es vom Ende der Tage und dem Kommen des Messias. Auch unser Text teilt diese Hoffnung. Dann spricht er davon, dass Gott noch mehr zu den Israelit*innen sammeln will. Das sind diese Fremden, die sich Jhwh angeschlossen haben.

Israel verändert sich. Es wird mehr, Fremde kommen dazu. Und die Fremden verändern sich, sie sagen ihren alten Gottheiten ab und wenden sich dem Gott Israels zu. Keiner kommt aus dem Prozess unverändert heraus. Die Frage ist gar nicht: Wen können wir aufnehmen, wen wollen wir aufnehmen? Die Frage ist: Welches Haus wollen wir bauen? Wollen wir eine Festung bauen, in der wir unsere Identität wahren, weil niemand sie berührt? Oder soll unser Haus ein „Bethaus für alle Völker“ sein? Das ist kein Tempel, in dem jeder zu einer beliebigen Gottheit betet, sondern der Tempel in Jerusalem, in dem alle zu dem einen und einzigen Gott beten – keine abgeschlossene Festung, sondern ein offenes Haus, verbunden mit der Zusage, dass wir mehr werden.

Kein Fall wie der andere
Unser Jesajatext ist in einer bestimmten Situation entstanden und nimmt sehr deutlich auf diese Bezug. Ich habe eingangs andere Fälle genannt: Menschen, die Hilfe suchen; Mädchen, die sich zu einer Gruppe nur für Mädchen zusammenschließen; eine Gemeinde oder Kirche, die sich fragt, ob sie jedwede politische Position, und sei sie noch so extrem und menschenverachtend, zu Wort kommen lassen muss. Jeder Fall ist anders gelagert. Auch das Wort der Jahreslosung lässt sich nicht unabhängig von der Situation der johanneischen Gemeinde verstehen, in der es entstanden ist.

Biblische Texte geben in den seltensten Fällen konkrete Handlungsanweisungen, die man einfach übernehmen könnte. Sie bieten vielmehr wichtige Orientierungshilfen an, indem sie den Blick schärfen und die richtigen Fragen stellen helfen. Für uns sind es insbesondere diese Fragen: Was macht es mit der Identität der Aufnehmenden oder Abweisenden, wenn sie aufnehmen oder abweisen? Was macht es mit der Identität derer, die aufgenommen oder abgewiesen werden? Und wie verändert sich das Ganze – zur vielleicht notwendigen Bewahrung durch Abgrenzung oder zur Mehrung durch eine Offenheit, die nie ohne Risiko ist?

Zum Weiterlesen:
Ulrich Berges, Trito-Isaiah and the Reforms of Ezra/Nehemiah: Consent or Conflict?, in: Biblica 98 (2017) 173-190.

Erhard Blum, Volk oder Kultgemeinde? Zum Bild des nachexilischen Judentums in der alttestamentlichen Wissenschaft, in: ders., Grundfragen der historischen Exegese. Methodologische, philologische und hermeneutische Beiträge zum Alten Testament (FAT 95), Tübingen 2015, 195-214.

Claus Westermann, Das Buch Jesaja. Kapitel 40–66 (ATD 19), Göttingen 1966.

Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit / circa 60 Minuten

Einstieg
Wenn ein Instrument (Gitarre, sichere Stimme) vorhanden ist, singen die TN gemeinsam Lied 426 (Es wird sein in den letzten Tagen), ansonsten 395 (Vertraut den neuen Wegen).

Einstieg in den Text
Die Gruppe liest die Jahreslosung aus Joh 6,37 und anschließend Jes 56 in der obigen Kurzfassung. Anhand der Bibelarbeit führt die Leitung in den historischen Kontext des Jesajatexts ein – gerne als Fragerunde.

Gruppengespräch
Die TN gehen der Frage nach: Kann es für uns Grenzen geben, Menschen aufzunehmen? Dazu führen sie eine fiktive Besprechung anhand folgender Situation durch:

Ein Ausschuss unserer Gemeinde bereitet ein großes Gemeindefest vor und eine von uns wird in diesen delegiert. Vor allem zwei Punkte sind zu entscheiden:

Eine Gruppe muslimischer Frauen möchte aktiv an dem Fest teilnehmen. Die Frauen wollen nicht nur orientalische Suppe anbieten, sondern auch über Religion ins Gespräch kommen.

2  Es ist ein Podiumsgespräch zur aktuellen Flüchtlingspolitik geplant. Teilnehmen der Pfarrer der Gemeinde, der Bürgermeister (CDU, katholisch) und die Beauftragte der Stadt für Integrationsfragen (Grüne, konfessionslos). Der örtliche Landtagsabgeordnete der AfD (evangelisch) möchte ebenfalls an dem Podium teilnehmen. Er hat sich bisher als engagiertes Gemeindemitglied hervorgetan. Er ist Befürworter einer strikten Abschiebungspraxis und hat sich in der Vergangenheit menschenverachtend und antimuslimisch geäußert. Warum keine Vertreter*innen nicht-christlicher Stadtgemeinden teilnehmen können oder möchten, wurde bisher noch gar nicht diskutiert.

Diskutieren Sie, welche Argumente Sie Ihren Delegierten mitgeben. Gemeinsames Singen des gewählten Liedes vom Anfang beendet die Gruppendiskussion.

Prof. Dr. Rainer Kessler hat nach dem Studium der Ev. Theologie und Promotion als Pfarrer sowie als Assistent an der Kirchlichen Hochschule Bethel in Bielefeld gearbeitet. Von 1993 bis 2010 war er Professor für Altes Testament in Marburg. Seitdem befindet er sich im Ruhestand.

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