Ausgabe 2 / 2021 Artikel von Sami Omar

Keinen Anspruch auf den Blick

Menschenbegegnungen in einer rassistischen Gesellschaft

Von Sami Omar

Wenn Rassismus erst Einzug in einen Schwarzen Menschen gehalten hat, ist es vorbei. Es gibt kein Entkommen vor dem Hass, den er verursacht. Er breitet sich aus, wie ein Infekt und schwächt alles, was systematisch zur Selbstliebe angelegt ist. Den Glauben. Die Freiheit. Das Zutrauen in die Welt und sich selbst. Rassismus macht uns zu Kollaborateur*innen, zu Kompliz*innen unserer Mörder, sagte James Baldwin. „Denken sie, Weiß zu sein, sei das Ideal, denkst du es irgendwann auch. Denken sie, Schwarz zu sein, sei schändlich, denkst du es irgendwann auch.“

Das ist so leicht, weil es in einer Gesellschaft wie unserer kaum Schwarze Menschen gibt, die anderen Schwarzen Menschen vom Gegenteil erzählen können. Weil alle Narrative über das Schwarzsein weiße Narrative sind. Immer ist der Wert Schwarzen Lebens von der Gunst weißer Deutung abhängig. Auch heute noch.

Das macht auch die freundlichste Wertung Schwarzen Lebens letztlich zu einer rassistischen. Denn sie wird von einem Standpunkt aus vorgenommen, der sich zur Bewertung befähigt sieht. Das Bewerten Schwarzen Lebens durch weiße Mitteleuropäer hat eine lange Geschichte. Eine von ihnen ist diese, von Samuel Thomas Sömmering.

In Kassel des frühen 19. Jahrhunderts steht Sömmering inmitten seines Anathomischen Theaters. Er ist Arzt und Professor für Anatomie. Gerade hat er einen „Mohrenkörper1 zergliedert“, so seine Aufzeichnungen. Nun drängt die Zeit. Das Auditorium im Kasseler Ottoneum wartet gespannt auf ihn, während er eine Entscheidung zu treffen hat. Er möchte an dem „Mohrenkörper“ die anatomische Nähe des „Mohrengeschlechtes“ zu den Affen darstellen. Diese glaubt er in vielen Stunden der Zergliederung von „Cadavern“ nachgewiesen zu haben. Die Leichname kommen von der Kasseler Wilhelmshöhe, wo eine „Mohrenkolonie“ gehalten wird. Sie besteht aus fünfzig versklavten Menschen verschiedener afrikanischer Länder, die hessische Truppen aus Amerika mitbrachten. Sömmering steht vor diesem großen männlichen Körper und fragt sich, wie er ihn nur ganz alleine in das Ottoneum zu seinen Studierenden schaffen kann. Er ist einfach zu schwer. Da stellt er fest, dass er zum Nachweis der engen kreatürlichen Verwandtschaft des „N**“ zum Affen, nur den Schädel braucht. Deshalb nimmt er eine Säge zur Hand, trennt den Kopf ab und nimmt ihn mit in die Vorlesung.

„Bey meinem Aufenthalt zu Hessen-Cassel zergliederte ich mit Muße mehrere Mohrenkörper“. Soemmerring formuliert die Zielsetzung seiner Arbeit aufs Neue: „Wie wärs, wenn sich anatomisch darthun ließe, daß die Mohren weit näher als wir Europäer ans Affen-Geschlecht gränzen?“

Schwarz und weiß: Schwarz, Schwarze Menschen oder Schwarze Deutsche sind politische Selbstbezeichnungen von Betroffenen rassistischer Diskriminierung. Sie sind Widerstand gegen rassistische Fremdzuschreibungen. Menschen, die keine rassistische Diskriminierung erfahren, werden als weiße Menschen bezeichnet. Die Wörter weiß und Schwarz beschreiben also Marker einer rassistisch strukturierten Gesellschaft.
www.kubinaut.de/de/themen/9-kontext-asyl/bezeichnungen-und-schreibweisen/

Die Entmenschlichung Schwarzen Lebens folgt den Bestrebungen, die der Kolonialismus mit sich brachte. Nach christlichen und humanistischen Gesichtspunkten war es unmöglich, in die Welt zu fahren und sich dort Menschen untertan zu machen. Einer zivilisierten Gesellschaft war das unwürdig. Statt jedoch von dem Vorhaben zu lassen, wurden Schwarze Menschen systematisch aus dem Menschenbild ausgeschlossen, das für europäische Menschen angelegt wurde. Sie wurden zu Tieren erklärt. Und wer Tiere beherrscht, verstößt weder gegen die Maßgaben der Menschlichkeit, noch gegen das christliche Gebot der Nächstenliebe.

Hier hat die christliche Mission das Kunststück vollbracht, von der Entmenschlichung Schwarzer Menschen zu profitieren. Um in einem christlichen Sinne von Gottes Menschwerdung gemeint zu sein, muss man selbst Mensch sein. Weiße Christ*innen begannen, Afrika zu missionieren und machten sich selbst so zum einzigen Zugang zur Gemeinschaft derer, die in ihren Augen Menschen waren. Schwarzes Leben konnte nur durch weiße Gunst menschlich werden. Die Mission hat sich, durch ihre gnädige Zuwendung zu den Menschen Afrikas, auf Kosten derer aufgewertet, denen sie zu helfen behauptete. Noch heute ringt Kirche mit der Frage, wie sie in Afrika helfen kann, ohne diese weiß-christliche Hybris zu reproduzieren. Sie tut sich schrecklich schwer damit.

Sömmering ist nur einer von vielen Menschen, die über Schwarze Menschen urteilten. Immanuel Kant war der Ansicht, „Die N** von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege“, während G.W.F. Hegel meinte: „Der N** stellt den natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar. […] Es ist nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden.“ Und Hanna Arendt schrieb, dass Menschen in Afrika und Australien „weder das, was wir menschliche Vernunft, noch was wir menschliche Empfindungen nennen“ besäßen, und auch „[…] keinerlei Kultur, auch nicht eine primitive Kultur, hervorgebracht hatten. […]“2.

Wo heute Schwarze Menschen rassistisch beleidigt oder bewertet werden, finden sich Elemente dieses Blickes. Es ist kein Zufall, dass es Affenlaute sind, die Schwarzen Spielern in Fußballstadien in Europa entgegenhallen. Es ist auch keiner, dass weiße Menschen Bananen nach ihnen werfen. Schwarze Menschen in Deutschland sorgen sich um die Beurteilungen ihrer Kinder im Bildungssystem, weil sie um die Behauptung wissen, Menschen aus Afrika seien weniger vernunftbegabt und intelligent. Im Gesundheitssystem sorgen sie sich, ernst genommen zu werden, weil sie von der Annahme vieler Ärzt*innen wissen, Menschen, die nicht weiß sind, jammerten viel und grundlos. Sie haben ein Wort dafür: „Mittelmeersyndrom“. Im öffentlichen Raum wissen Frauen of Color sich besonderer Sexualisierung ausgesetzt, weil Wildheit und Triebgesteuertheit mit ihren Körpern verknüpft werden. Von der Gewalt, denen Schwarze trans* Frauen ausgesetzt sind, ganz zu schweigen. All das ist so sehr in Schwarze Deutsche Identität eingeflochten, dass es sich dem Bewusstsein im Alltag oftmals entzieht.

Das Wissen um alltägliche Gefahren liegt in einem Blick, den sich zwei Menschen in der Straßenbahn einer deutschen Großstadt zuwerfen. Beide sind PoC. Ihre Blicke verhaken sich für eine Sekunde ineinander und erzählen sich etwas.

PoC bzw. People of Color  Begriff aus dem angloamerikanischen Raum, ohne Entsprechung im Deutschen. Bezeichnet keine Hautfarbe im biologischen Sinn, sondern einen Sammelbegriff in politischer Selbstorganisationen und im wissenschaftlichen Kontext von und für Menschen mit Rassismuserfahrung, die durch eine weiß gesetzte Norm entsteht.
www.kubinaut.de/de/themen/9-kontext-asyl/bezeichnungen-und-schreibweisen/

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Schwarze Menschen in mehrheitlich weißen Gesellschaften einander grüßen, auch wenn sie sich nicht kennen. So passiert es auch hier. Noch einmal sehen sie sich kurz an. Diesmal nicken sie einander zu. In diesem Blick liegt alles Wissen um die Existenz des Gegenübers. Diese Menschen wissen, was dem jeweils anderen widerfahren ist. Dieser Blick allein kann deshalb Einsamkeit überbrücken. Es ist eine Form der Einsamkeit, die Menschen vertraut ist, die rassistische Diskriminierung erfahren.

Für weiße Deutsche Menschen führt der Weg in den Antirassismus über diesen Blick. Weiße Menschen müssen sich dafür interessieren, was dieser Blick sagt, ohne Anspruch auf ihn zu erheben. Antirassismus funktioniert anders nicht.

Das Interesse an dem Erleben Schwarzer Menschen in Deutschland darf nicht zum Konsum verkommen. Es muss sich in dem Bewusstsein entwickeln, in dieser Hinsicht privilegiert zu sein. Der Verzicht auf dieses Privileg ist es, der den Antirassismus weißer Menschen glaubwürdig und ihre Solidarität hilfreich macht. Wie das geht, lernt man in Versuch und Begegnung.

Anmerkungen
1 Um sich von rassistischen Fremdbezeichnungen zu distanzieren, werden Lösungen wie z-B. M-Wort gewählt. Über die Distanzierung hinaus bringt die Durchstreichung strikte Ablehnung der Bezeichnung zum Ausdruck und berücksichtigt, dass sie weiterhin im Raum steht und ein realer Ausdruck der Quellen ist.

2 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus. Imperialismus. Totale Herrschaft, 2. Auflage, München 1991, S. 272 ff.

Sami Omar ist Logopäde und arbeitet als Kampa- gnenreferent und Mitarbeiter eines Fachdienstes
für Integration und Migration (caritas). Er ist Autor, Moderator und Spokesperson. Migration, Integration, Rassismus und Diskriminierung sind u.A. Themen seiner Schulungen und Veranstaltungen.

Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit / ca. 150 Minuten

von Anna Hofmann

Benötigtes Material:
Power Flower-Arbeitsblatt
Buntstifte, Gegenstände und/oder Bilder.

Diese Einheit dient der Sensibilisierung von Multiplikator*innen dafür, Rassismus als Thema ihrer Arbeit und als feministisches Anliegen zu verstehen. Sie kann in einer Gruppe sowohl präsent wie digital ausgeführt werden.

Arbeitsblatt der Anti-Bias-Werkstatt sowie methodische Anleitung sind hier zu finden:
www.mangoes-and-bullets.org/wp-content/uploads/2015/02/8i-Power-Flower.pdf


Grundlage ist Sami Omars „Kein Anspruch auf den Blick“, konzipiert wurde die Einheit allerdings aus einer weißen Perspektive nicht ohne blinde Flecken. Sie dient als Vorschlag und Handreichung für Ihren Bildungsprozess mit der expliziten Aufforderung, selbst zu reflektieren, was für Ihren Kontext passend bzw. nötig ist; entsprechend Veränderungen vorzunehmen, sie zu erweitern oder zu kür-

zen. Daher ist die Leitung nicht aus dem Prozess ausgenommen, sondern ist gemeinsam mit allen TN in der kritischen Selbstreflexion. Das ist eine oft anstrengende Arbeit, aber sie ist unabdingbare Basis für solidarisches Handeln und strukturelle Gerechtigkeit.

Power Flower in Kleingruppen [20 Minuten]
Zum Einstieg bearbeiten die TN die ersten zwei Schritte des Arbeitsblatts „Power Flower“, um sich gesellschaftliche Differenzkategorien zu vergegenwärtigen und ihre eigenen Positionierungen innerhalb dieses Systems herauszuarbeiten.
Leitfragen für die Kleingruppen:
– Welche Zuordnung ist Ihnen schwergefallen, welche nicht?
– Stimmt Ihr Gefühl mit der Einteilung der Power Flower überein? Fühlen Sie sich so (nicht) privilegiert wie die Power Flower aufzeigt?

Textarbeit [45 Minuten]


In der Gruppe oder still wird Sami Omars Text gelesen. Danach sucht sich jede*r ein bis drei Bilder oder Alltagsgegenstände, die die Gefühle beim Lesen und Bearbeiten der Power Flower ausdrücken. Diese werden im Plenum vorgestellt. Die Gefühle der Teilnehmenden als solche werden nicht hinterfragt. Wichtig: Fragen werden gehört, aber erstmal stehengelassen. Gefühle werden gehört, ergeben aber keine Diskussion über den Text.

Nach der Vorstellung folgt eine inhaltliche Diskussion. Dabei dient die erarbeitete Power Flower dazu, die eigene Positionierung in rassistischen Strukturen zu reflektieren. Anhand folgender Leitfragen wird der Bezug zwischen der Power Flower und dem Text von Sami Omar diskutiert:
– Welche Kategorien der Power Flower spricht Sami Omar an?
– Welche Blütenblätter haben Sie als Gruppe ausgemalt? Welche Unterschiede und/oder Gemeinsamkeiten gibt es? Kennen Sie Situationen, in denen Sie externen Bewertungen oder Beleidigungen ausgeliefert waren, ähnlich wie Sami Omar es beschreibt?
Wichtig: Erfahrungen ernst nehmen!
Die Moderation muss hier eventuell intervenieren.

Sami Omar formuliert eine Forderung, wie weiße Menschen mit den Erfahrungen Schwarzer Menschen umgehen sollten. Wie verstehen Sie es, keinen Anspruch auf den Blick, den Schwarze Menschen einander zuwerfen, zu erheben? Überlegen Sie:
– Was können weiße Menschen tun oder nicht tun, um Rassismus abzubauen?
– Haben Sie Macht? Wie können Sie sie nutzen, um die Machtungleichheitsverhältnisse zu verändern?
– Haben Sie sich mal die Frage gestellt oder haben Sie schon mal eine von rassistischer Diskriminierung betroffene Person gefragt, was Sie sich wünschen würde?

Handlungsoptionen entwickeln für die feministische Arbeit [45-60 Minuten]

Mithilfe der folgenden Fragen können Handlungsoptionen für den eigenen Raum entwickelt werden.
– Macht es einen Unterschied, Sami Omars Text in einer weißen, Schwarzen bzw. heterogenen Gruppe zu lesen und zu besprechen?
– Wie können Sie als heterogene Gruppe über Rassismus ins Gespräch kommen, ohne dass das Interesse der weißen Teilnehmenden zu Konsum verkommt? Haben Sie rassistische Diskriminierung erfahren: Was heißt diese Formulierung für Sie? Was brauchen Sie ggf. von Ihren weißen Kolleg*innen?

– Denken Sie an eine Situation, in der Sie jemanden aufgrund von Hautfarbe oder anderer Merkmale bewertet haben, bewusst oder unbewusst. Sie müssen diese nicht teilen, wie aber reflektieren Sie diese jetzt?
Abschluss:

Überlegen Sie für sich selbst eine konkrete Handlung, die Sie in Zukunft in Bezug auf Rassismus anders oder neu machen werden. Wählen Sie hierfür einen Gegenstand/ein Bild als Symbol aus und stellen Sie Ihre Auswahl in der Runde vor: An welchem Ort kann das Symbol Sie am besten an Ihr Vorhaben erinnern?

Überlegen Sie als Gruppe: Wurden die unterschiedlichen Blütenblätter in ihrer politischen Arbeit bisher berücksichtigt? Wie können Sie das in Zukunft stärker tun? Sammeln Sie Ideen und suchen Sie sich als Gruppe im Anschluss drei aus, die Sie tatsächlich in die Tat umsetzen können.
Was wird Ihr erster Schritt sein, und wann können Sie ihn tun?

Anna Hofmann ist Koordinatorin der Partnerschaft für Demo- kratie in der Stadt Göttingen. Sie hat als weiße Frau mit einer intersektionalen Perspektive zu den Themen Interkulturalität und Rassismus geforscht und war lange in der interkulturellen und rassismuskritischen Bildungsarbeit tätig.

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