Ausgabe 1 / 2019 Bibelarbeit von Kirstin Müller

Auf die Kleinen achten.

Irdische und himmlische Perspektiven auf Mt 18,1-10

Von Kirstin Müller

Lied zum Einstimmen
Come to the circle, children
WGT 2017-Philippinen

oder:  Du bist da, wo Menschen leben
Durch Hohes und Tiefes 343
oder:  Vom Aufgang der Sonne
EG 456

Die Geschichte beginnt damit, dass die Jüngerinnen und Jünger Jesu die Vollmacht bekommen haben, „unreine Geister“ auszutreiben und zu heilen. Aber nicht immer gelingt ihnen das auch. Bei einem an Epilepsie leidenden Kind erleben sie, dass es einen Unterschied zwischen Lernenden und Meister gibt. Warum konnten wir den Dämon nicht vertreiben? Wegen eures schwachen Vertrauens. (Mt 17,19f) Das ist harte Kost. Sie sind Jesu nächste Vertraute, haben ihre Familien für ihn verlassen, ihr ganzes Leben umgekrempelt. Sie tun ihr Bestes und stoßen doch immer wieder schmerzhaft an Grenzen. Zum zweiten Mal spricht er davon, ausgeliefert und getötet zu werden – auch die gemeinsame Zeit ist schmerzlich begrenzt.

Ob sie noch hören können, dass er auch davon spricht, am dritten Tag aufzustehen? Dorthin zu kommen, wohin sie – heilend, verkündigend, vertrauend – unterwegs sind, ins Königreich der Himmel, in Gottes gerechte Welt, von der sie erwarten, dass sie kommt? Matthäus erzählt, wie sie reagieren: Sie werden sehr traurig. Der Schmerz dringt tief in ihre Körper und Sinne. Da ist es gut, einkehren zu können. In Kafarnaum. Bei Petrus? Bei seiner Familie, die er einst verlassen hatte, um Jesus zu folgen? Wir erfahren es nicht genau. Aber hier, am See Genezareth, kommen sie mit der normalen Welt und ihrer Ordnung in Kontakt. Eine Kopfsteuer ist zu entrichten. Landeskinder müssen sie nicht zahlen, nur Fremde. Sind sie also Fremde in der vertrauten Welt? „Ja“, meint Jesus. Und schickt Petrus zum Fischen an den See. Und nun bekommt die Geschichte märchenhafte Züge: Petrus fängt einen Fisch und findet in dessen Maul ein Geldstück. Genau den Betrag, den die Steuer ausmacht. Es ist das letzte Mal, dass Petrus einen „echten“ Fisch fängt, bevor er ganz und gar Menschenfischer wird. In Jesu Namen. So märchenhaft leicht lassen sich Schulden in der Welt begleichen. Kann der Ordnung entsprochen werden. Aber es geht ihnen ja um mehr. Um die Ordnung des Lebens im Königreich der Himmel, des Lebens ganz nah bei Gott. Wie wird es dort sein?

Und so fängt das Kapitel 18 im Matthäusevangelium an: Sag, Meister, wer ist am größten in Gottes Welt? Klingt nicht so, als ob sie noch besonders traurig wären. Eher, als würden die Jüngerinnen und Jünger die Pause in Kafarnaum dazu nutzen, um sich miteinander zu messen und voneinander abzugrenzen. Groß, größer, am größten! Jesus antwortet, indem er ein kleines Kind zu sich ruft. Ich stelle mir ein fünfjähriges Mädchen vor, das nun in den Mittelpunkt des Interesses gerückt wird. Wahrhaftig, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in Gottes gerechte Welt hineingelangen. Wer so gering1 wird wie dieses Kind, wird in Gottes Welt am größten sein.

Am größten ist, wer gering wird. Radikal wechselt Jesus den Blickwinkel: Schaut nicht nach oben, in einen fernen Himmel. Schaut euch um. Bleibt auf dem Boden der Tatsachen. Hier gibt es konkrete Menschen. Kinder. Und Erfahrungen mit Kindsein. Denn jeder erwachsene Mensch war einmal Kind. Aber was bedeutet es, Kind zu sein? Wir alle haben – durchaus widersprüchliche – Erinnerungen daran.

Zur Arbeit in der Gruppe

Zu Kindsein fällt mir ein …

Sammeln Sie   Sie spontane Gedanken dazu in der Gruppe. Damit jede*r zu Wort kommen kann, ist es hilfreich, dazu ein Symbol, etwa einen Kinderschuh, herumgehen zu lassen. Die Gedanken können auf Zettel geschrieben und in die Mitte gelegt werden. Dann bleiben sie sichtbar.

Wer ein solches Kind meinetwegen aufnimmt, nimmt mich auf. Ein Kind aufzunehmen, was bedeutet das? Auf den Arm nehmen? Liebhaben? Trösten? Betreuen? Schützen? Adoptieren? Ob für einen kurzen Moment oder für lange Zeit – aufnehmen bedeutet in jedem Fall, sorgende Verantwortung für ein anderes Menschenwesen zu übernehmen. Acht zu geben. Gut aufzupassen.

Tauschen Sie sich aus:   Was heißt es, könnte es heißen, für ein Kind Verantwortung zu tragen? Es ist auf jeden Fall eine große Aufgabe. Bestimmt gibt es unter uns dazu einen bunten Strauß an Erfahrungen – mit allem, was von Erfüllung bis Überforderung dazugehört.

Im Blick auf ein konkretes Kind erinnert Jesus die Jüngerinnen und Jünger an die Eigenschaften eines Kindes und ermutigt sie, diese für sich selbst anzunehmen. Denn: Im Kindsein erschließt sich Gottes gerechte Welt. In dieser Welt geht es nicht darum, wer am größten ist. In Gottes Welt geht es vielmehr um das Wagnis, sich klein zu fühlen, bedürftig und verletzlich zu sein, zu vertrauen. Keine leichte Aufgabe. Aber Jesus ist da ganz eindeutig. Immer wieder verweist er seine erwachsenen Anhänger*innen auf „Kindsein“. Und darauf, dass Kinder besonders geachtet und gesegnet sind. Lasst die Kinder in Frieden und hindert sie nicht daran zu mir kommen, denn solchen gehört die gerechte Welt Gottes. Mt 19,14

Kindsein bedeutet: Ich bin in besonderer Weise darauf angewiesen, dass jemand gut auf mich achtet. Mich nicht zu etwas „verführt“, was ich nicht will und was mir nicht gut tut. Mein Vertrauen nicht missbraucht. Denn als Kind muss ich erst lernen, mich in der Welt der Erwachsenen zurecht zu finden. Muss lernen zu unterscheiden, was gut für mich und andere ist – und was nicht gut für mich und andere ist. Insofern sind Kinder angewiesen auf Anleitung und damit auch verführbar. Das ist eine ernste Angelegenheit.

Dieses folgende Kapitel der Bibelarbeit ist nicht für jede Gruppe geeignet. Wenn Sie denken, dass die Gruppe damit überfordert ist, können Sie es einfach überspringen und mit dem anschließenden Kapitel „Eingeladen zum Blick in den Himmel“ fortfahren.

Wenn Sie sich und Ihrer Gruppe den „Blick in den Abgrund“ zutrauen, zünden Sie eine Kerze in der Mitte an. Im Licht einer Kerze – die wir oft bei Andachten und Gottesdiensten anzünden, um uns festlich auf die Gottesnähe einzustimmen – ist es denkbar, auch einen Blick ins Bodenlose zu wagen, sich dem Abgründigen zu stellen. Aber es ist wichtig, nicht zu lange zu verweilen. Hinsehen tritt etwas los, und hier kommen starke Gefühle ins Spiel: Verurteilungen, Wut, Hass, Abscheu. Auch Angst, Sorge um das eigene Seelenheil, Unverständnis und Verzweiflung über den Zustand der Welt. Wenn etwas ausgesprochen werden will, ist es gut, nicht zu diskutieren. Die Kerze ist ein Symbol für Feuer, das da ist, aber nicht verzehrt. Für alles, was der Erhellung, Klärung und Läuterung bedarf. Feuer läutert, aber erläutert nicht. Manches können wir nicht erklären. Manches, was Jesus sagt, bleibt anstößig.

Herausgefordert zum Blick in den Abgrund

Die Ansprache Jesu, von der Matthäus hier erzählt, geht jetzt mit einer irritierenden, ja verstörenden Wendung weiter. Jesus sagt: Alle, die eines dieser Kleinen, die mir vertrauen, zur Untreue verführen, die sollten sich lieber einen Mühlstein um den Hals hängen und in der Tiefe des Sees ertrinken. Wehe der Welt wegen des Anstoßes zur Untreue. Es ist zwar zwangsläufig, dass die Anstöße geschehen, doch wehe den Menschen, die sie verursachen. V. 6

Dann wechselt Jesus zum Du. Er spricht seine Jüngerinnen und Jünger – diejenigen also, die wie Kinder werden sollen – direkt und einzeln an: Wenn deine Hand oder dein Fuß dir Anstoß gibt, schlag sie ab und wirf sie weg. Es ist besser für dich, verstümmelt oder hinkend ins Leben hineinzugelangen, als mit zwei Füßen und zwei Händen ins ewige Feuer geworfen zu werden. Und wenn dein Auge Dir Anstoß gibt, reiß es aus und wirf es weg. Es ist besser für dich, einäugig ins Leben hineinzugelangen, als mit beiden Augen in den Feuerabgrund geworfen zu werden. VV. 8f

Sechsmal wird hier das griechische Wort skandalon gewählt, das heute noch in unserem Sprachgebrauch lebendig ist: Skandal. Skandal bedeutet: ein aufsehenerregendes Vorkommnis, unerhört, Ärgernis erregend. Ursprünglich ist das Skandalon ein aufgehängtes oder frei herabhängendes Holz, die Auslösevorrichtung in einer Tierfalle.2

Jesus findet deutliche Worte, lässt aber Fragen offen. Zur Untreue verführen, zum Abfall (Luther 1984), zum Bösen (Luther 2017) – was genau ist gemeint? Zur Verzweiflung treiben, Vertrauen zerstören, vom Glauben abfallen (lassen)? „Anstoß geben“ übersetzt die Bibel in gerechter Sprache. Woran wird hier Anstoß genommen? Moral, Sitte, Anstand, gesellschaftliche Regelüberschreitungen? Welche Grenzen geraten in den Blick, über die zu gehen gefährlich ist?

Und dann diese Drohung: Ewiges Feuer, Feuerabgrund – der dunkle Abgrund wird erschreckend hell. Verzweiflung, Bedrohung, Gefahr. Höllenangst. Und das „Wehe!“ Die Klage über alles, was in der Welt möglich ist. Kinder werden misshandelt und missbraucht, werden zu Kindersoldaten ausgebildet und gezwungen, Gewalt auszuüben, zu töten. Kirchliche Amtsträger fügen Kindern körperliche und seelische Schäden zu. Ihr zum Leben nötiges Grundvertrauen wird nachhaltig verletzt. Wie soll ein Kind da noch glauben können, dass es Gottes gerechte Welt gibt? Wehe! der Welt, in der so etwas geschieht. Wehe! den Menschen, die Kinder verführen. Sie „sollten sich lieber einen Mühlstein um den Hals hängen und in der Tiefe des Sees ertrinken“. Jesus, bitte, es reicht! Wie schnell heißt es: Kopf ab!, wenn jemand einer schrecklichen Tat überführt oder auch nur verdächtigt wird. Hab doch Erbarmen! Auch ein Täter ist ein Mensch. Hier geht Jesus wirklich bis an die Grenze des Denkbaren, Sagbaren, Erträglichen. Vielleicht geht es ihm darum, einmal in den Blick zu nehmen, dass es hier wirklich um etwas Lebenswichtiges beziehungsweise Leben Zerstörendes geht, wenn das Grundvertrauen eines Kindes auf dem Spiel steht? Und dass es in der Welt möglich ist, sehr große Schuld auf sich zu laden? Schuld am Grundvertrauen, am Grund des Glaubens, Grund des Lebens? So groß, dass es eigentlich kaum vorstellbar ist, wie jemand mit so einer Schuld leben, weiterleben kann?

Wenn Tiere in eine Falle geraten, kann es vorkommen, dass sie sich eine Pfote abbeißen, um mit dem Leben davonzukommen. So legt es der ursprüngliche Sinn des Wortes Skandal nahe. Für die, die Jesus nachfolgen, heißt das: Trenne dich rigoros von dem, was dich zur Untreue gegenüber Gottes Welt verführen kann. Sei selbstkritisch. Prüfe genau, was du denkst und tust. Mit den Augen, die für deine Wahrnehmung verantwortlich sind. Mit den Händen, die für dein Handeln verantwortlich sind. Mit den Füßen, die für deine Haltung verantwortlich sind. Wer sich hier von Jesus angesprochen fühlt, kommt nicht darum herum sich klarzumachen, dass es jederzeit möglich ist untreu zu werden. Hände können Schmerzen bereiten oder nicht zupacken, wenn Hilfe nötig ist. Haltungen können andere ausgrenzen und kleinmachen. Blicke können verurteilen und verächtlich sein. Menschen können sich gegenseitig tief verletzen, einander das Leben zur Hölle machen. Davon sind die Jüngerinnen und Jünger nicht ausgenommen.

Kommen wir vom Blick in den Abgrund zurück auf den Boden der Tatsachen. „Wehe!“ Wenn Jesus – wie bei dem Kind, das an Epilepsie leidet (Mt 17,18) – unreine Geister, Dämonen so bedroht, wird Heilung möglich. Gibt es sichtbare Anzeichen von Leben wie in Gottes gerechter Welt im Hier und Jetzt.

Eingeladen zum Blick in den Himmel

Zum Schluss seiner Ansprache sagt Jesus: Seht zu, dass ihr keines dieser Kleinen verachtet. Ich sage euch, ihre Engel im Himmel schauen allezeit das Angesicht Gottes, Vater und Mutter für mich im Himmel. V. 10 Seht zu. Ganz milde klingt Jesus auf einmal. Seht zu: Versucht euer Bestes. Verachtet die Kleinen nicht. Und dann wird es noch einmal märchenhaft: Da sind die Engel im Himmel, die Gottes Angesicht schauen – also ganz nah bei Gott sind. Die Kleinen liegen Gott ganz besonders am Herzen. Und wenn wir klein werden, liegen wir Gott auch besonders am Herzen. Die Geringen werden von Gott besonders angesehen und geschätzt. Eine himmlische Perspektive. Die es sich auszumalen lohnt.

Tauschen Sie Ihre Assoziationen und Gedanken miteinander aus: Was können die Engel im Himmel Gott davon erzählen, wie Menschen „die Kleinen achten“? Wie sieht das konkret aus? Wie fühlt es sich an? Berichten wir dem Engel ein bisschen vom Himmel auf Erden, den es ja auch gibt: wenn Menschen einander achten.

Beschädigtes Vertrauen nährt die Angst in der Welt. Das Geringe und vor allem die Geringen zu achten, hilft gegen solche Angst. Und macht Gottes gerechte Welt in der Gegenwart erkennbar.

Lied zum guten Schluss
Bewahre uns Gott  EG 171

Anmerkungen
1) Im griechischen Wort tapeinos / gering, klein klingt auch erniedrigt, unterdrückt, kleingemacht an. Oft wird es auch mit demütig übersetzt. Es ist dasselbe Wort wie in Marias Lobgesang: GOTT hat die Niedrigkeit seiner Magd (Luther 2017) /
die Erniedrigung ihrer Sklavin (BigS) angesehen. (Lukas 1,48)
2) Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, dtv 1997

Kirstin Müller war bis 2018 Pfarrerin für Frauenarbeit in der Ev.-lutherischen Landeskirche Braunschweig. Die Pfarrerin und Lebenskünstlerin lebt in Goslar.

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