Ausgabe 2 / 2019 Artikel von Cornelia Radeke-Engst

Bleibet hier und wachet mit mir

Über friedliche Revolution und Gebet

Von Cornelia Radeke-Engst

„Bleibet hier und wachet mit mir, wachet und betet.“ Mit diesem Liedruf aus Taizé haben wir im Herbst 1989 jeden Mittwochabend die Fürbitten in unseren „Gebeten für unser Land“ gestaltet. Das gemeinsame Gebet hat uns getragen. Wachen und beten – das war und ist unser Auftrag als Christ*innen, mit Jesus zu wachen an den Krisenorten unserer Welt, zu beten und aus dem Gebet heraus zu handeln.

Und ja, wir hatten immer wieder Angst. „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ Das Wort der Jahreslosung haben wir in unseren Gebeten immer neu nachbuchstabiert. Aber das fortlaufende Gebet hat uns die Kraft zum Widerstehen gegeben, die Kraft, uns „nicht dieser Welt gleichzustellen“ [Röm 12,2] und uns nicht anzupassen. Im Gebet haben wir uns immer neu gefragt, was zu tun und was Gottes Wille ist. So wurde die Friedliche Revolution vorbereitet.

Über Jahre haben wir für Benachteiligte und Menschen, die im Regime der DDR unter Repressionen litten, gebetet. Wir hatten nichts anderes als unsere Gebete, das Zusammenstehen in der Gemeinschaft und das Hören auf Gottes Wort. Ein Meilenstein für den Aufbruch vor dreißig Jahren war der Konziliare Prozess „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“. Aus der DDR gab es zu den Arbeitspapieren der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Kanada 10.000 Stellungnahmen, aus der BRD 200. Die Reformen unter Gorbatschow haben uns ermutigt. Aber ich denke, die meisten von uns haben das getan, was dran war. Uns war nicht klar, dass wir an einer friedlichen Revolution beteiligt waren. Wir haben einfach aus unserem Auftrag heraus einen Schritt vor den anderen gesetzt.

Im Oktober 1989 formierte sich auch in Brandenburg an der Havel Widerstand gegen das DDR-Regime.

Die Kirchengemeinden ermöglichten offene Gesprächsräume für Menschen, die die DDR verlassen wollten, aber auch für Diskussionsgruppen, die die kommunistische Diktatur verändern wollten.

Ich war Pfarrerin am Brandenburger Dom, der Wiege der Mark Brandenburg. Dort traf sich ein Elternkreis, hauptsächlich aus Eltern unseres evangelischen Kindergartens. Ein christlicher Kindergarten war für viele Eltern eine wichtige Alternative zur staatlich verordneten Erziehung nach dem sozialistischen Menschenbild in den staatlichen Kindergärten.

In unserem Elternkreis wurde über pädagogische Fragen und Lebensfragen diskutiert. Im September beschloss der kleine Kreis, Jan Hermann – Krankenpfleger und einer der Erstunterzeichner des Gründungsaufrufs „Aufbruch 89″ des Neuen Forums – zu einem Informationsgespräch einzuladen. Das Neue Forum war quasi als neue Partei eine Alternative zu den Einheitsparteien in der DDR.

Dieser Plan wurde sehr schnell den staatlichen Stellen zugetragen. Der Rat der Stadt bestellte die Dompfarrerin und den Superintendenten ein und forderte uns auf, diese Veranstaltung abzusagen. Trotzdem beschloss der Gemeindekirchenrat der Domgemeinde, an der Veranstaltung festzuhalten und sie in den Dom zu verlegen, weil der Gemeinderaum nur 20 Personen fasste. So unter Druck gesetzt, boten die staatlichen Stellen ihrerseits zwei Veranstaltungen an, um der Forderung nach öffentlichem Dialog nachzukommen. Aus Sorge vor einer Eskalation versuchte der Superintendent den Gemeindekirchenrat davon zu überzeugen, die Veranstaltung abzusagen; mir hielt er vor, ich sei dafür verantwortlich, wenn es an dem geplanten Abend zu Blutvergießen käme. Gemeinsam mit Theologen aus dem benachbarten Predigerseminar wurde der umstrittene Abend als Friedensgebet mit einem Informationsteil über das „Neue Forum“ vorbereitet.

Am Morgen des 21. Oktober waren auf dem gesamten Burghof, der den Dom und die Klausurgebäude umgibt, erkennbar Beamte der Staatssicherheit postiert.


Dom und Burghof liegen auf einer Insel, die nur über zwei Brücken mit der Stadt verbunden ist. Daher befürchteten wir, dass die Insel abgeriegelt werden könnte, und überlegten, Jan Herrmann mit dem Boot abzuholen. Am Nachmittag erfuhren wir, dass in zwei Häusern der Insel bewaffnete Kräfte der Kampfgruppen und der Gesellschaft für Sport und Technik, einer paramilitärischen Organisation des DDR-Regimes, zusammengezogen wurden.

„Die geplante Veranstaltung des Elternkreises findet um 20 Uhr im Dom statt.“ Diesen Zettel – der einzige öffentliche Hinweis auf die Veranstaltung – brachte ich mittags an der Tür des Gemeinderaums an. Gegen 18 Uhr füllte sich der Burghof mit Menschen. Bereits um 19.30 Uhr musste der Dom wegen Überfüllung geschlossen werden. In den Haupt- und Seitenschiffen, der Krypta und dem Hohen Chor drängten sich die Menschen aneinander. Sie saßen auf den Lettner-Treppen und im Altarraum, nur ein kleiner Kreis um den Hauptaltar blieb frei. Wir hatten an diesem Abend andere Sorgen als den Brandschutz.

Schätzungen sprechen von 4.500-6.000 Menschen an diesem Abend auf dem Burghof. Angehende Pfarrer*innen aus dem Predigerseminar und die Dozenten bildeten Gesprächsgruppen und versuchten, die angesichts von Stasi-Präsenz aufgeheizte Stimmung zu deeskalieren. Wir versicherten den Wartenden, dass die Veranstaltung wiederholt würde. Noch zwei weitere Male füllte sich an diesem Abend der Dom.

Das Kyrie-Gebet begann mit dem Bekenntnis: „Wir haben allzu lange ein korruptes Regime über uns geduldet.“

Für diese und die weiteren Kyrie-Bitten in den nachfolgenden „Gebeten für unser Land“ war der Satz aus dem Stuttgarter Schuldbekenntnis der Bekennenden Kirche prägend: „Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft …; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Die Schriftlesung wurde mit nur wenigen Sätzen ausgelegt. Im Mittelpunkt stand der Informationsteil über das Neue Forum. Lieder wie „Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht bringe ich vor dich. Herr, erbarme dich“ und der Liedruf „Bleibet hier und wachet mit mir, wachet und betet“ zum Fürbittgebet begleiteten dieses und die folgenden Gebete im Prozess der gesellschaftlichen Umgestaltung.

„Herr, gib uns deinen Frieden!“ Dieser Kanon gehörte zum Segen. Nie zuvor und danach habe ich so um den Frieden gebetet, wie beim Segen dieser drei Veranstaltungen an diesem Abend. „Bitte tragen Sie den Frieden aus diesem Gotteshaus in die Stadt hinein – und der Friede Gottes sei mit Euch allen.“

Die Angst vor Eskalation und dem Aufflammen von Gewalt war groß. Eine weitere Brandenburger Unterzeichnerin des Gründungsaufrufs des Neuen Forums, die ebenfalls das Wort ergriffen hatte, berichtete anschließend der Staatssicherheit. Aber das haben wir erst später erfahren. Am nächsten Morgen, einem Sonntag, feierten wir einen Dankgottesdienst. Der Abend war friedlich geblieben.

Vier Tage später begannen im Dom die „Gebete für unser Land“.

Von besonderer Bedeutung war das Kyrie-Gebet, in dem konkrete Missstände, aber auch die Mitschuld der Christ*innen an den bestehenden Verhältnissen vor Gott ausgesprochen wurden. Neben einer biblischen Lesung – zum Beispiel aus dem Buch Jeremia: „Suchet der Stadt Bestes, wo Gott euch hingeführt hat, und betet für sie zu Gott“ [Jer 29,7] – gab es einen ausführlichen Informationsteil.

Anfangs hatten wir innerhalb der Fürbitten und des Informationsteils ein offenes Mikrofon, über das Informationen weitergegeben und Missstände angesprochen werden konnten. Später ließen wir die Fürbitten von den Teilnehmenden aufschreiben, weil das Mikrofon immer wieder von Einzelnen okkupiert wurde; diese Entscheidung gegen den Freiraum haben wir uns nicht leichtgemacht. Nach dem zweiten „Gebet für unser Land“ haben wir begonnen, Demonstrationen zu bestimmten Themen und Orten in der Stadt zu organisieren. Aber es blieb wichtig für uns, dass all unser Handeln aus dem Gebet kommt. Das hat uns getragen.

Zwei Friedensgebete sind mir in besonderer Erinnerung geblieben – eins davon mit Beamt*innen aus der berüchtigten Brandenburger Justizvollzugsanstalt, in der viele politische Gefangene waren. Die Beamt*innen wünschten ein Friedensgebet und ein Gespräch, weil sie in dem Wohngebiet, in dem die meisten von ihnen damals privilegiert lebten, Lynchjustiz befürchteten. Das andere gestalteten angesichts der Demonstrationen und blutigen Kämpfe in Rumänien Schüler*innen der örtlichen EOS (Erweiterte Oberschule) mit uns gemeinsam einen Tag vor Weihnachten. Die Gebete der Jugendlichen haben mich sehr berührt. Bleibet hier und wachet mit mir, wachet und betet: Der Liedruf schloss auch hier die einzelnen Fürbitten ab. Der Dom war ein Kerzenmeer.Und hinterher voller Wachs.

„Wir waren auf alles vorbereitet, aber nicht auf Kerzen und Gebete.“

Das konstatierte später Volkskammerpräsident Horst Sindermann. Aber wir hatten gar nichts anderes als unsere Gebete, unsere Kerzen und unseren Willen, betend zu handeln. Aus den Gebeten und Demonstrationen ergab es sich, dass wir zum Runden Tisch einluden. Gemeinsam mit dem katholischen Kaplan habe ich den Runden Tisch geleitet, bis sich nach der ersten freien Wahl in der DDR eine neue, frei gewählte Stadtverordnetenversammlung konstituieren konnte.

Auch heute beginnen wir an jedem Mittwoch unser Friedensgebet in Potsdam mit dem Gebetsruf: Bleibet hier und wachet mit mir, wachet und betet.

Für die Arbeit in der Gruppe

Singen Sie gemeinsam: Bleibet hier und wachet mit mir
Download unter www.taize.fr/spip.php?page=chant&song=254&lang=de

Lesen Sie mit zwei Stimmen oder abschnittweise reihum den Artikel

Teilen Sie einander kurz mit, welcher Gedanke Sie gerade beschäftigt.

Fragen Sie sich in einer kurzen Stille: Glaube ich, dass es möglich ist, „nur mit Gebeten und Kerzen“ etwas auszurichten in den Krisenherden unserer Zeit?

Tauschen Sie sich aus über Ihre Gedanken dazu. Sie müssen zu keinem gemeinsamen „Ergebnis“ kommen – hören Sie den unterschiedlichen Meinungen, vielleicht auch Erfahrungen einfach interessiert und respektvoll zu und lassen Sie sie nebeneinander im Raum stehen.

Beten Sie gemeinsam für etwas, das Ihnen gerade besonders am Herzen liegt. Dazu kann zunächst in einer kurzen Stille jede für sich eine Fürbitte formulieren und notieren.
Nach einer kurzen Gebetseinleitung – zum Beispiel: Gott unserer Mütter und Väter, voll Vertrauen bitten wir dich… – können diejenigen, die das möchten, ihre Fürbitte aussprechen. Wenn der Raum es zulässt, kann dazu jeweils ein Teelicht entzündet werden.

Die Gruppe nimmt jede der Fürbitten mit einem schlichten „Wir bitten dich, erhöre uns“ oder mit einem vertrauten Liedruf ins gemeinsame Gebet.
Die Leiterin beendet das Fürbittgebet: Guter Gott, nimm unsere ausgesprochenen und unausgesprochenen Bitten an. Du bist ein Gott, der hört. Darum beten wir voll Vertrauen:

Vater unser

Singen Sie gemeinsam

Meine engen Grenzen oder

Gib uns Frieden jeden Tag EG 425

Der Artikel bietet auch die Möglichkeit, sich an die bewegte Zeit vor 30 Jahren zu erinnern. Das kann für Menschen in den ostdeutschen Bundesländern ebenso spannend sein wie für Menschen mit „Westbiografie“, für diesbezüglich gemischte Gruppen oder Nachgeborene.

Vorbereitung:
Kärtchen oder DIN-A5-Blätter, Stifte

Schreiben Sie einige (Ihnen) wichtige Daten groß genug auf jeweils ein DIN-A4-Blatt, zum Beispiel: 1987 – Gorbatschow: Perestrojka, Glasnost // 1988 – Konziliarer Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung // Mai 1989 – Aufdeckung der Fälschung der Kommunalwahlen in der DDR // 30. September 1989 – Prager Botschaft: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“ // September/Oktober 1989 – Montagsdemonstrationen // 9. Oktober 1989 – in Leipzig beteiligen sich 70.000 Menschen an der ersten Großdemonstration // 4. November 1989 – 500.000 Menschen demonstrieren auf dem Alexanderplatz in Berlin // 9. November 1989, 18:57: „Das trifft nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich…“ //

Eine ausführlichere Tabelle mit Ereignissen und einer kleinen Erklärung dazu steht für Abonnent*innen auf www.leicht-und-sinn.de / Service zum Download bereit.

Legen Sie die Blätter in chronologischer Reihenfolge in der Mitte auf die Tische oder auf den Boden zu einem Zeitstrahl.

Singen Sie gemeinsam: Bleibet hier und wachet mit mir.

Lesen Sie mit zwei Stimmen oder abschnittweise reihum den Artikel.

Schauen Sie  den Zeitstrahl an und erinnern Sie sich. Teilen Sie einander mit, welcher Gedanke Sie gerade beschäftigt.

Erinnern Sie sich: Was war für mich persönlich das wichtigste, bewegendste Ereignis im Herbst 1989? Schreiben Sie ein Datum und/oder ein Ereignis (als Stichwort) auf ein Kärtchen.

Erzählen Sie reihum kurz von Ihrem Ereignis und legen Ihr Kärtchen an der passenden Stelle zum Zeitstrahl. – Die Leiterin achtet auf die Zeit: je nach Gruppengröße 3-5 Minuten pro Teilnehmer*in.

Überlegen Sie gemeinsam: Nehmen Sie für Ihr Christin- oder Christsein heute etwas mit aus der Erfahrung in der DDR, dass Friedensgebete etwas in Bewegung bringen?
Fürbittgebet
und Abschluss wie oben

Cornelia Radeke-Engst war Dompfarrerin am Brandenburger Dom, später Landespfarrerin für Frauen- und Familienarbeit der EKBO. Seit 2014 ist sie beauftragt, in der Nagelkeuzkapelle Potsdam am Ort der Garnisonkirche Friedens- und Versöhnungsarbeit aufzubauen.

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