Ausgabe 2 / 2019 Artikel von Simone Kluge

Blüten von purpurnen Traubenhyazinthen

Von der heilenden Kraft des Zuhörens

Von Simone Kluge

In ihrem Buch „Aus Liebe zum Leben“1  erzählt Rachel Naomi Remen, wie sie als junge Ärztin, noch in der Ausbildung, von ihrer ersten Patientin eine unvergessliche Lektion zur Kunst des Heilens erhielt. Voller Stolz hatte sie ihre erste Diagnose und einen Behandlungsplan erstellt. Sie hatte die ältere Frau mit der Herzerkrankung erfolgreich behandelt, so dass diese nach wenigen Wochen die Klinik verlassen konnte – ausgestattet mit einem Rezept und der Aufforderung, in einem halben Jahr wieder zu kommen …

Als die Patientin schon drei Monate später wieder im Sprechzimmer sitzt, fragt die junge Ärztin sich besorgt, was sie falsch gemacht hat. Aber die Frau kommt nicht, um sich erneut untersuchen zu lassen. Sie hat ihr etwas mitgebracht: ein kleines Päckchen aus Wachspapier, darin einige Blüten von purpurnen Traubenhyazinthen. Die hätten sie und ihr Mann vor über 40 Jahren in ihren Garten gepflanzt. Jedes Frühjahr würden sie zuverlässig zurückkehren – das erste Zeichen dafür, dass das Leben stärker sei als der Winter.

Als sie im letzten Herbst gespürt habe, wie ihr eigenes Leben sich zurückzog und zu versagen begann, habe sie nicht an den Winter, sondern an den Tod gedacht. Sie habe an die Hyazinthen in ihrem Garten denken müssen, die in jedem Frühjahr wiederkehrten, und gefürchtet, sie werde sie nie wiedersehen. Sie habe sich die Beschreibung des Medikaments, das Rachel Naomi Remen ihr geben wollte, und seiner Wirkungen sehr genau angehört, aber sie habe ihr nicht wirklich geglaubt. Die Ärztin sei ja doch so jung – wie sollte sie das wirklich wissen können? Dann lächelt sie die Ärztin über jenen Abgrund von fast sechzig Jahren hinweg an: „Vielen Dank, Frau Doktor“, sagt sie. „Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

Rückblickend resümiert Rachel Naomi Remen: „Ich hatte zwar etwas gewusst, doch hatte ich nicht wirklich verstanden. Mein medizinisches Lehrbuch hatte mir Auskunft über die Wirkung von Digoxin gegeben, über seine Kontraindikationen und die Dosierung. Ich wusste, dass das seinen Dienst versagende Herz selbst im Alter darauf reagieren würde. Das Lehrbuch hatte mir alles gesagt, was ich wissen musste – außer, dass die Liebe zum Leben keine Funktion der Stärke des Herzmuskels ist.“1


Was Rachel Naomi Remen im Laufe ihrer Praxis gelernt hat, fasst sie so zusammen: „Wenn ich jemandem aufmerksam zuhöre, seinem innersten Selbst oder dem, was man seine Seele nennt, dann finde ich oft, dass dieser Mensch auf der tiefsten und unbewusstesten Ebene bereits spürt, in welcher Richtung seine Heilung und seine Ganzheit zu finden sind. […] Meine Erfahrung hat gezeigt, dass Präsenz ein mächtigerer Katalysator für Wandel ist als Analyse und dass wir Dinge ohne den Schatten eines Zweifels wissen können, die wir niemals zu verstehen vermögen.“1
Quellenangabe

1) Rachel Naomi Remen: Aus Liebe zum Leben.

Geschichten, die der Seele gut tun, © der deutschen Ausgabe: 2002 Arbor Verlag, 8. Auflage 2018; Zitate ebd. S. 77f, S. 78, S. 98f.

Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit 45-60 min
Lesen Sie gemeinsam den Erfahrungsbericht von Rachel Naomi Remen und tauschen kurz erste Gedanken dazu aus.

Kommen Sie über einzelne Sätze daraus ins Gespräch.

Ich hatte zwar etwas gewusst, doch hatte ich nicht wirklich verstanden.

Wie verstehen Sie diesen Satz?
Was meint die Autorin? Kennen Sie das auch?

Wenn ich jemandem aufmerksam zuhöre, dann finde ich oft, dass dieser Mensch auf der tiefsten und unbewusstesten Ebene bereits spürt, in welcher Richtung seine Heilung und seine Ganzheit zu finden sind.

Haben Sie das auch schon erlebt, dass Ihnen so zugehört wurde? Erzählen Sie davon.

Welche Erfahrungen haben Sie im Kontakt mit Ärzt*innen und Pfleger*innen? Was wünschen Sie sich?

Meine Erfahrung hat gezeigt, dass wir Dinge ohne den Schatten eines Zweifels wissen können, die wir niemals zu verstehen vermögen.

Die Ärztin staunt darüber, welches tiefe Wissen und Heilungspotential in ihren Patient*innen selbst liegt, und sie hat gelernt, darauf zu vertrauen. Haben Sie das auch schon erlebt, bei sich selbst oder bei Menschen, die Sie begleitet haben, dass Dinge plötzlich klar vor Augen stehen? Dass da ein tiefes inneres Wissen ist?

Lasst uns beten:

Gott, wir wandern oft blind umher
unter Wundern.
Erfülle unsere Augen mit Sehen
und unseren Geist mit Verstehen.
Lass uns vertrauen auf das Göttliche
und Unversehrte in jeder von uns
und schenke uns achtsames Erkennen.

Unser Wissen und unsere Möglichkeiten
sind oft begrenzt.
lehre uns, unsere Grenzen anzunehmen und zu akzeptieren.
Schenke uns Begegnungen, in denen
wir einander an unsere wahre Natur
und unsere wahren Werte erinnern,
der jenseits von Leistungen
und körperlicher Unversehrtheit liegt.

Stärke, was in jeder von uns
ganz und gesund ist.
Hilf uns gegenwärtig zu sein
– von Mensch zu Mensch.

Amen

Simone Kluge ist evangelische Theologin, Mediatorin und Krisenberaterin auf der Grundlage der klientenzentrierten Gesprächsführung nach C. Rogers. Die Referentin für Frauenarbeit bei den Evangelischen Frauen in Mitteldeutschland ist Mitglied im Redaktionsbeirat leicht & SINN.

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