Für Johann Baptist Metz war Compassion, Mitleidenschaft, ein Schlüsselwort des Christentums. Jesu Blick, sagt Metz, galt nicht primär der Sünde, sondern dem Leid der Menschen. Die Sünde war ihm vor allem Verweigerung, am Leid der anderen teilzunehmen. Weigerung, über den Horizont der eigenen Leidensgeschichte hinauszudenken, Auslieferung an den heimlichen Narzissmus der Kreatur. Sünde sah er, mit Augustinus, als „Selbstverkrümmung des Herzens“.
Die Mystik des Christentums ist dagegen eine Mystik der „Mitleidenschaft“, in der ich mich vom Leid der anderen anrühren lasse und mich daraufhin engagiere. Das Christentum lehrt nicht eine Mystik der geschlossenen, sondern eine Mystik der offenen Augen. Im Entdecken, im Sehen von Menschen, die im alltäglichen Gesichtskreis unsichtbar bleiben, beginnt deren Sichtbarkeit.
Der biblische Gott ist ein Gott der Compassion, Mitleidenschaft die Mitgift, die das Christentum in die Weltgemeinschaft einbringen kann. Im Zentrum des Christentums steht die Gestalt eines Leidenden; christliche Gottesrede ist darum von ihrem Zentrum her eine „leidempfindliche Gottesrede“. Mitleidenschaft schickt uns, so Metz, an die Front der politischen, der sozialen und kulturellen Konflikte in der heutigen Welt. Fremdes Leid wahrzunehmen und zur Sprache zu bringen, ist die unbedingte Voraussetzung aller zukünftigen Friedenspolitik, aller neuen Formen sozialer Solidarität.1
Helfendes Handeln und soziales Engagement ist quasi vorreligiös und hat unter Zuhilfenahme von Begriffen wie Erbarmen, Güte, Mitgefühl oder tätige Liebe quer durch alle Weltreligionen eine besondere spirituelle Würdigung erfahren. In der Menschheitsgeschichte ist dieses komplexe Verhältnis immer wieder einseitig religiös überhöht oder aber radikal säkularisiert gedeutet worden. Daher stellt sich die Frage:
Wie können Menschen, die sich sozial engagieren wollen, die jeweiligen Lebenslagen, kulturellen Kontexte und religiösen Bedürfnisse von hilfesuchenden Menschen wahrnehmen? Und wie können sie dabei spirituelle Erfahrungen in ihr Handeln einbeziehen?
Soziale Arbeit geschieht in einem spirituellen Kontext; darauf verweist das Handbuch der Vereinten Nationen: „Die Soziale Arbeit findet stets in fünf Kontexten statt, die ein Ganzes bilden, auch wenn sie sich getrennt analysieren lassen. Diese Kontexte sind der geographische, der politische, der sozioökonomische, der kulturelle und spirituelle Kontext. Keine Gesellschaft, in welcher Soziale Arbeit praktiziert wird, ist wertfrei. Für die Soziale Arbeit und eine humanere Praxis ist entscheidend, dass man dem Geist, den Werten, Einstellungen, Moralvorstellungen, wie auch den Hoffnungen und Idealen der Klient*innen Beachtung schenkt und dass sich die Sozialarbeiter*innen zugleich ihrer Wertvorstellungen bewusst sind.“2
Im Helfen überkreuzen sich Spiritualitätund freiheitliches Handeln.
Joachim Weber sagt: Helfen, das sich auf die Welt und die Liebe zu ihr einlässt, wird zum besonderen Schnittpunkt von Spiritualität und freiheitlichem Handeln.3 Und da Spiritualität den Umgang mit der Transzendenz meint, sind alle Menschen spirituell. Der Bedarf an Sozialarbeit, so Weber, ist durch drei Phänomene gekennzeichnet: Not, Gewalt und aus beidem folgende Verlassenheit. „Not jeglicher Art droht Freiheit ständig zu verschlingen“, indem sie Handlungsspielräume einengt oder zerstört. Unter der Unfreiheit leiden die Klient*innen am meisten. Selbst wenn die unmittelbaren Ursachen der Not beseitigt sind, ist es schwer, das Leben wieder selbstbestimmt zu gestalten. Der Weg aus der Unfreiheit heraus ist lang. Klient*innen auf diesem Weg zu unterstützen, ihnen freie, selbstbestimmte Schritte zu ermöglichen, ist Aufgabe von sozialem Handeln. Spiritualität kann helfen, dieses Ziel zu erreichen.
Tobias Graupner4 weist darauf hin, dass die Kompetenzen, die Sozialarbeiter*innen in ihrer Ausbildung im Bereich der Krisenintervention, Krisenkommunikation und Gesprächsführung erworben haben, auch für den Bereich von Glaubens-, Sinn- und spirituellen Krisen relevant sein können. Wer andere spirituell begleiten oder Mitarbeitende in spiritueller Begleitung befähigen will, muss die eigene Spiritualität, Traditionen, in denen Mitarbeitende stehen, sowie Bilder und Rituale, von denen sie geprägt sind, gründlich reflektiert haben.
Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf haben ein Recht auf religions- und kultursensible Unterstützung und Begleitung.
Dies stellt die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Personen5 heraus. Im Artikel 7, Religion, Kultur und Weltanschauung, heißt es: Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht, seiner Kultur und Weltanschauung entsprechend zu leben und seine Religion auszuüben.
Es ist also nicht in das Belieben von Mitarbeitenden in helfenden Berufen gestellt, ob sie spirituelle Bedürfnisse von hilfe- und pflegebedürftigen Personen wahrnehmen, sie bei der Ausübung religiöser Rituale unterstützen und kulturgeprägte Werte berücksichtigen. Es sind Rechte, die beachtet und in das helfende, begleitende und unterstützende Handeln einbezogen werden müssen. Umgekehrt sind die kulturgeprägten Werte, religiösen Überzeugungen und spirituellen Bedürfnisse der Helfenden von gleichrangiger Bedeutung. Helfendes Handeln „auf Augenhöhe“ schließt wechselseitigen Respekt, Wertschätzung der beteiligten Persönlichkeiten und Achtung ihrer Würde ein.
Dass es ein Recht auf religions- und kultursensible Unterstützung und Begleitung gibt, hat Konsequenzen für die berufliche Praxis in der Sozialen Arbeit: Es fordert bestmögliche Erfüllung und Qualität ein. Spirituelle Begleitung kann so nicht mehr dem Zufall, persönlichen Begabungen, intrinsischen Motivationen oder jeweiligen Interessen von Mitarbeitenden überlassen werden. Sie ist eine verpflichtende Aufgabe, deren professionelle Umsetzung fachlich gesichert sein muss. Das Recht auf kultursensible Hilfe und spirituelle Begleitung wird durch die beteiligten Mitarbeitenden gewährleistet – und wird dementsprechend auch zur praktischen Aufgabe der Sozialen Arbeit. Konkret erfordert dies von Mitarbeitenden, dass sie sich ihrer eigenen spirituellen Vorstellungen und ihrer jeweiligen religiösen und kulturellen Prägungen bewusst werden. Denn nur so können sie spirituelle Bedürfnisse und religiöse Interessen von Klient*innen wahrnehmen.
Spirituell sein heißt, sich existenziellen Fragen stellen.
Sterben müssen, leiden müssen, kämpfen müssen, dem Zufall ausgeliefert sein und unausweichlich schuldig werden – das sind existenzielle Situationen. Meist bleiben sie jedoch überlagert von den Anforderungen des Alltags. Erst durch bestimmte Ereignisse werden Grundsituationen bewusst – und dann als unvermeidliche oder unüberwindliche Grenzsituationen erlebt: Sterblichkeit als Grenze autonomer Lebensgestaltung, Kampf als Grenze von Solidarität, Schuld als Grenze des Handelns, Zufall als Grenze von eigenen Plänen und Absichten. Sich aus christlicher Perspektive existenziellen Fragen zu stellen meint nicht, sich spirituelle Wellness zu gönnen, Zuwachs an übernatürlichen Kräften zu erwarten, außergewöhnliche Heilung anzustreben. Es bedeutet vielmehr die Auseinandersetzung – auch durch Klagen, Glauben, Hadern, Vertrauen, Zweifeln, Danken – mit Gott als Schöpfer, Erlöser und Trösterin, die zu einer persönlichen Beziehung einlädt.
Mit der Entwicklung hin zu Multikulturalität und Pluralität geht auch eine Diversifizierung im Bereich von Religion und Spiritualität einher.
Lange waren Religion und Spiritualität hierzulande tendenziell deckungsgleich und befanden sich gemeinsam im Spannungsfeld von Tradition und Moderne. Heute hat sich Spiritualität oftmals von klassischen religiösen Kontexten gelöst – oder aber sich innerhalb des religiösen Kontextes, unter Umständen fundamentalistisch, vertieft. Dabei scheint das menschliche Bedürfnis nach Transzendenz nicht abgenommen, sondern in Zeiten anhaltender wahrgenommener Krisenhaftigkeit womöglich noch zugenommen zu haben.
Die Begriffswurzel, das lateinische spiritualis, ist die Übersetzung des neutestamentlichen Begriffs pneumatikos und meint die christliche Lebensgestaltung aus der Geistkraft Gottes. Spiritualität als ursprünglich zentrales Konzept des christlichen Glaubensvollzugs erfährt heute einen Bedeutungswandel. Religionswissenschaftler*innen sprechen von einem „Markt der Sinnanbieter“ und „spirituellen Wanderern“, die ihre individuelle Spiritualität aus verschiedenen Traditionen patchworkartig kombinieren. Dabei ist zu beachten: Geschulte Aufmerksamkeit für das Geheimnis Gottes ist etwas anderes als die Wahrnehmung der Verbundenheit mit einem großen Ganzen. Zwischen einer anthropologisch gedeuteten, transpersonalen Spiritualität als „Bezogenheit auf ein größeres Ganzes“ und einer theologisch verstandenen, personalen Spiritualität als persönlicher Gottesbeziehung bestehen Spannungen – und bisweilen sind sie auch nicht miteinander vereinbar.
Woran bewähren sich die geistigen Kräfte von Mitarbeitenden in sozialen Handlungsfeldern? Welche geistigen Kräfte werden tagtäglich abverlangt? Und: Welche Kriterien geben den Ausschlag, im sozialen Handlungsfeld zu bleiben?
Johannes Degen6 trägt in diesem Zusammenhang den Begriff Spiritualität ein, weil es hier um mehr als Werte geht, nach denen zu handeln ist. Seelische Kräfte und leiblich-physische Energie, tragende Überzeugungen und ein Glauben – all dies muss im beruflichen Handeln stimmig zusammenkommen.
Hör- und nachvollziehbar wird eine solche innere Stimmigkeit zunächst in der Gemeinsamkeit des Teams. Hier wird Spiritualität erfahrbar, wenn im Zusammenwirken der verschiedenen Persönlichkeiten abgestimmte Verlässlichkeit und wechselseitig vermittelte Sicherheit das gemeinsame Handeln bestimmen. Und sie wird erfahrbar, wenn Menschen mit Hilfe-, Unterstützungs- und Beratungsbedarf so etwas wie der „Stil des Hauses“, besser noch: der „Geist des Hauses“ begegnet. Zudem ist Spiritualität im sozialen Handeln geprägt von einem Umgang mit Würde: wenn alle Beteiligten einander respektvoll begegnen, oder, wie der israelische Philosoph und Friedensaktivist Avishai Margalit es formuliert, in einem möglichst wenig demütigenden Stil im Miteinander.
Spiritualität in der Sozialen Arbeit meint aber auch, dass die Selbstsorge nicht zu kurz kommen darf. Selbstsorge üben beinhaltet: Verantwortung für sich übernehmen, Initiative zum Erhalt der eigenen Gesundheit entwickeln, die eigenen Grenzen wahrnehmen und einhalten und die Quellen für eine sinnstiftende Grundhaltung nicht verstopfen.
Es lohnt sich, und es ist sinnvoll, den helfenden Beruf auszuüben, sich selbst und den Menschen mit Beratungs- und Unterstützungsbedarfen in den vielfältigen Aufgaben, Widersprüchen und Unzumutbarkeiten treu zu bleiben. Das so zu sehen heißt nicht, Vorwürfe an diejenigen zu richten, die aus verschiedenen Gründen nicht dabei bleiben wollen oder nicht mehr können, deren „Abhauen“ aus dem Beruf oder dem freiwilligen Engagement aber auch traurig stimmen kann.
Was bedeuten Räume und Momente von Spiritualität innerhalb eines sozialen Veränderungsprozesses für den individuellen Aufbruch wie auch für gemeinschaftliches, befreiendes Handeln?
Dirk Oesselmann7 hat verantwortlich in einem Straßenkinderprojekt an der Peripherie von Sao Paulo / Brasilien mitgearbeitet. Er verweist darauf, dass ein Hilfehandeln zusammen mit sozial Ausgeschlossenen in Grenzsituationen des Lebens stattfindet. Körperliches und physisches Leid bestimmen die gesamte Existenz der Betroffenen. Im Horizont der christlichen Verheißung muss es Kirche und Diakonie unter diesen Umständen um eine tiefgehende und weitreichende Veränderung gesellschaftlicher, lebensweltlicher Bedingungen menschlichen Daseins gehen, um ein „integres“ Leben in seiner ganz(heitlich)en Fülle zu eröffnen. Die soziale Aktion muss kurzfristig Not lindern, konkrete Bedürfnisse befriedigen. Zugleich aber ist sie herausgefordert, im Horizont einer Erneuerung zu wirken, die die gesamte Schöpfungsdimension umfasst.
Schlüssel hierfür ist für Oesselmann die offene, lebendige Liturgie, die den sozialen Kontext im Horizont des Reiches Gottes reflektiert und prophetisch-kritische und prophetisch-erneuernde Kraft in sich birgt. Liturgien als gottesdienstliche Feiern auch und gerade im Kontext sozialer Arbeit können neue Wege eröffnen, auf denen die erfahrene Lebenswirklichkeit von der christlichen Verheißung her beleuchtet wird. Eindrucksvoll entfaltet Oesselmann, wie ein solcher Hoffnungshorizont innerhalb einer sozialen Aktion erfahrbar und lebendig werden kann.
Solche Räume und Momente sind notwendig, damit Veränderungsprozesse einsetzen und eine gesunde Berufsmotivation sich erneuern kann. Sie sind notwendig für den Geist eines sozialen Dienstes oder einer diakonischen Einrichtung. Dann leuchten – in allen Bemühungen zu lösen, lindern und verhindern – Erbarmen, Güte, Mitgefühl, die Liebe Gottes des Schöpfers, Erlösers und der Trösterin auf, die im christlichen Glauben, aber auch in anderen Weltreligionen eine besondere spirituelle Würdigung erfahren.
5) Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend / Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Hrsg.) (2005): Die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen. https://www.pflege-charta.de/de/startseite.html (09.06.2020).
6) Johannes Degen: Diakonie, Religion und Soziales. Ansichten der kirchennahen Sozialwirtschaft, Berlin 2014
7) Vgl. Dirk Oesselmann: Spiritualität und soziale Veränderung. Die Bedeutung einer Liturgie des Lebens in der Arbeit mit Randgruppen, Gütersloh 1999
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