Ausgabe 2 / 2019 Andacht von Antje Hinze

Darum wartet Gott darauf, euch gnädig zu sein.

Eine Andacht zum Advent

Von Antje Hinze

Adventsfragen // Worauf / warten wir wirklich / und was  / brauchen wir mehr / denn je / und wie / soll da ein Anfang sein / wovon / und wer / hofft überhaupt noch / worauf / und wann / bricht er denn an / dieser Tag / des Lichts / und wer / glaubt noch daran? //

Carola Moosbach

Ich stehe auf, schaue mich um, setze mich wieder hin, zupfe an meinen Haaren, drehe Däumchen, seufze, gehe zum Fenster oder zur Tür, setze mich wieder. Und warte…
Die Zeit, die gewöhnlich rast, will einfach nicht vergehen. Fünf Minuten kommen mir vor wie eine Stunde…
Worauf warten Sie, wenn Sie zu Hause sitzen und grübeln? 
Murmelgruppen oder kurze Stille

Da ist eine, die wartet auf ihren Mann. Er sagte, dass sie nicht warten soll. Aber sie wartet doch. Sie liegt im Bett und lauscht auf jedes Geräusch. Die Uhr tickt, die Nacht schreitet voran. Es wird immer leiser draußen. Die Nacht ist vorgedrungen und der Tag ist noch fern. Sie wartet und wartet, ein Stern leuchtet besonders hell ins Zimmer. Ob das der Morgenstern ist?

Lied

Die Nacht ist vorgedrungen
EG 16,1

Den Morgenstern sieht nur, wer wach ist, wer wach ist und wartet…

Eine Pfarrerin erzählt: Ich habe in diesem Jahr oft eine 99jährige Frau besucht. Immer wieder hat sie gesagt: „Der Herrgott hat mich vergessen, wie lange muss ich noch warten?“ Die Pfarrerin kann sich nicht vorstellen, dass er sie vergessen hat, und sagt: „Ich warte mit Ihnen. Sie haben genug erlebt, ich verstehe das, und ich komme Sie wieder besuchen. Es kann ja nicht mehr lange dauern.“

Sie erzählt ihren Sportfreundinnen von dieser Frau. Die fragen nun Woche für Woche, ob sie endlich sterben konnte. Doch sie haben das falsch verstanden, denn diese Frau wartet nicht auf den Tod. Sie wartet auf Gott, dass er sie holt und sie endlich ankommt bei ihm und ihren Lieben. Für sie ist der Tod kein Ende, sondern der Beginn einer neuen Zeit. Letztes Jahr im Advent bat sie die Pfarrerin, ihr ein Lied vorzusingen, an das sie sich nicht richtig erinnern konnte: O Heiland, reiß die Himmel auf.

Lied

O Heiland, reiß die Himmel auf
           EG 7,1-5

Dieses Lied entstand in der großen Not des 30-jährigen Krieges. Es ist eine Fürbitte im Vertrauen auf Gott. Es klingt nach Gottvertrauen in gottlosen Zeiten. Und es ist hoch aktuell. Denn wir sind umgeben von trostlosen Nachrichten, von schlechten Aussichten und Endzeitstimmung.

In früheren Generationen haben Christinnen und Christen sehnsüchtig auf Gottes Reich gewartet. Sie haben gehofft, dass der Herr wiederkommt und endlich Gerechtigkeit und Frieden einziehen. Sie haben dafür gebetet, dass Not und Leid ein Ende haben. Mit dieser Hoffnung konnten sie ihre Augen aufheben aus ihren Nöten und Sorgen. Sie konnten den Blick weiten und Kraft schöpfen. In dieser Hoffnung waren sie miteinander verbunden.

Wer sieht den Hoffnungsschimmer?
Wo ist der Stern am Himmel?
Worauf warten wir?

Murmelgruppen oder kurze Stille

Manche erwarten, dass eine oder einer kommt und alles anders wird. Andere erwarten, dass es wieder so sein wird, wie es früher einmal war, oder wenigstens so bleibt, wie es ist.

Worauf warten wir?

Wir warten nicht auf den Tod und auch nicht auf das Ende. Wir warten auf eine Lösung. Die 99-Jährige war neugierig auf das, was sein wird. Sie wartete auf das Ende dessen, was hinter ihr liegt. Sie hatte keine Angst vor der großen Veränderung. Sie wurde 99 und ein halbes Jahr alt.
Lied
           Wir warten dein, o Gottes Sohn

EG 152,1+4

Oft warten wir mit kindlichem Verlangen – und stellen immer wieder fest, dass das Warten meist schöner ist als das Erwartete selbst. Wie haben wir als Kinder Weihnachten entgegengefiebert. Wie schön waren die Vorbereitungen in der Adventszeit, der Plätzchenduft, die Vorfreude auf die Geschenke. Tagelang stand das Paket im Schlafzimmer der Eltern. Wir rüttelten dran, hoben es hoch und versuchten am Geräusch und am Geruch zu erkennen, was es sein könnte. Wir wussten, die Geschenke gibt es erst am Heiligabend. Bis dahin mussten wir warten…

Im Advent auf die Bescherung warten – ein Zeichen für das, was Gott Maria beschert: Gottes Sohn kommt in die Welt. Eine „schöne Bescherung“ ist das, unerwartet schwanger zu sein. Maria erwartet, was Gott ihr zugesagt hat. Sie hat es sich nicht ausgesucht. Sie ist überrascht und unsicher. Sie sucht Rat bei einer älteren Verwandten und wirbt um Josefs Vertrauen. Sie hat sich im Vertrauen auf Gott mit dieser Schwangerschaft arrangiert. Notgedrungen? Vielleicht. Aber auch zuversichtlich, weil sie ahnt, dass mit diesem Kind alles anders werden wird. Ihr schlichtes Ja zu dem, was Gott ihr zumutet, stellt die Welt bis heute auf den Kopf. Für ihre Überraschung hat sie Worte gefunden, die uns bis heute aus dem Lukasevangelium vertraut sind: „Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes; denn er hat meine Niedrigkeit angesehen … Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer. Er hilft, wie er seinen Vorfahren Sara und Abraham zugesagt hat.“

Darum wartet Gott darauf, euch gnädig zu sein, und deshalb wird sich Gott zu eurem Erbarmen erheben, denn eine Gottheit des Rechts ist Gott, glücklich sind alle, die auf sie warten. Jesaja 30,18


Gott ist es, der wartet. Gott wartet darauf gnädig zu sein. Früher hieß es oft: „Wenn du nicht…, dann gnade dir Gott!“ Das Wort ist aus der Alltagssprache verschwunden. Gnade, das klingt so herablassend, nach dem Motto: ausnahmsweise „Gnade vor Recht“ gehen lassen.

Jesajas Worte sind Gerichtsworte. Der Prophet droht, weil das Volk und die Priester tun, was Gott nicht recht ist, und weil sie ihr Vertrauen auf Menschen und andere Götter setzen. Er wirbt aber auch um Umkehr und versichert, dass Gott sie gnädig erwartet. Es ist eine Zusage: In allerhöchster Not, wenn alle Stricke reißen, dann hilft Gott. Wenn ich total versagt habe, dann ist Gott mir gnädig. Gott wartet nicht voller Schadenfreude auf mich. Gott lässt nicht Gnade vor Recht gehen, sondern schafft Recht! Wenn wir umkehren. Wenn wir uns von unseren falschen Wegen abkehren, dann können wir uns glücklich schätzen.

Jesaja will die Menschen, die verzweifelt und führungslos sind und nach Orientierung suchen, wieder aufrichten. Er ruft sie auf, einen anderen Weg einzuschlagen. Egal, ob es der rechte oder der linke Weg ist: Hauptsache, sie kommen zu Gott zurück.

So dürfen wir uns Gott vorstellen: Gott wartet auf uns. Gottes Warten ist ein Akt der wohlwollenden Begleitung. Gott leidet mit uns. Gott greift nicht von oben ein. Aber Gott wartet ab, bis wir so weit sind, mit ihm neu anzufangen.

Ach, ich würde auch gerne nochmal neu anfangen. Ich warte auf so einen Moment, wo ich alles, was mir im Wege liegt, liegen lasse und losstürme auf ein neues, ein lohnenswertes Ziel. Ich warte auf den Moment, der mein Leben verändert und wo die Verletzungen, die mir das Leben zugefügt hat, heilen.

Ich möchte aufstehen und leben.
Aufstehen und nicht mehr warten.

Aufstehen und mich Gott entgegenwerfen.
Lied
           Seht auf und erhebt eure Häupter

EG 21

„Darum wartet Gott darauf, euch gnädig zu sein.“
Wann wird das sein?
Kann das überhaupt sein?

Aber seht doch: Die Kirchen sind Weihnachten immer noch voll – weil viele doch noch auf etwas warten und etwas erwarten. Auch wenn sie dafür manchmal keine Worte haben und leben, als hätten sie alles im Griff. Aber sie warten.

 Auch wir warten. Als christliche Menschen haben wir eine Hoffnung, die stärker ist als alle Gewalten dieser Welt. Wir können uns orientieren an den biblischen Überlieferungen und den Erfahrungen der Generationen vor uns. Wir haben das gemeinsame Gebet – das Gebet darum, dass Gottes Reich komme. Lasst uns gemeinsam beten:
Vater unser
Darum wartet Gott darauf, euch gnädig zu sein. „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ Mit dieser Jahreslosung wollen wir ins neue Jahr gehen, getrost und zuversichtlich. Gott erwartet uns.

Lied

O Heiland, reiß die Himmel auf
EG 7,6+7

Antje Hinze ist Gemeindepfarrerin in Dresden-Lockwitz. 2006-2012 war sie Landespfarrerin der Kirchlichen Frauenarbeit in Sachsen. Im Ehrenamt ist sie Stellvertretende Vorsitzende des Konvents Evangelischer Theologinnen in der BRD e.V.

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