Ausgabe 1 / 2018 Artikel von Christiane Maag

Das macht man einfach nicht!

Von Christiane Maag

Als Kind lebte ich mit Mama und Papa in einem dieser typischen 70er-Jahre-Plattenbauten am Stadtrand von München. Meine Eltern: beide berufstätig, Mutter bei einem größeren Verlag für Wörterbücher und Reiseführer, Vater (natürlich) bei Siemens. Man ging morgens zum Arbeiten, kam abends wieder. Solange passte die Oma auf mich auf, später taten das Kindergarten und Hort und irgendwann, so mit zehn Jahren, bekam ich meinen eigenen Wohnungsschlüssel und durfte oder musste auf mich selbst aufpassen. Kinder, die einfach so auf sich selbst aufpassen müssen – heute fast undenkbar. Damals aber, zumindest in der Großstadt, durchaus üblich.

Eine „behütete“ Kindheit sieht anders aus. Aber ich habe meine Freiheit genossen. Nach der Schule konnte ich machen, was ich wollte, herumstromern, mit Klassenkameraden um die Blöcke ziehen und die Hausaufgaben sträflich vernachlässigen. Im Vergleich zu „wohlbehüteten“ Kindern führten wir ein freies Leben. Selten sagte mir damals jemand, was „man“ tut oder nicht tut. Vielleicht sind mir deshalb die wenigen Situation ganz besonders im Gedächtnis haften geblieben, in denen Vater oder Mutter dann doch einmal sagten: „Das tut man nicht!“

Was tat man nicht? Man klingelte, wenn man sich ausgesperrt hatte, nicht einfach bei irgendwelchen Nachbarn, weil man Fremde nicht belästigt. Und vielleicht auch, weil man sonst als Familie ins Gerede kommt. „Kennen Sie die Müllers vom fünften Stock? Das arme Kind ist ja den ganzen Nachmittag alleine…“

„Man“ sagte brav bitte und danke, wenn man etwas geschenkt bekam – um meinen Vater zu zitieren: „Und wenn´s ein Stück Scheiße ist!“

Wenn „man“ ein Problem hat, löst man es alleine oder familienintern. Fremde geht das nichts an.

Wenn es Streit gibt, dann soll das niemand mitbekommen. „Was sollen denn die Leute denken?!“

Mit diesem inneren Wertekanon bin ich aufgewachsen: Die Freiheit ist ein sehr hohes Gut. Wir wollen unsere Ruhe. Mach dich bloß nicht von anderen abhängig. Regle deine Angelegenheiten selber. Übernimm Verantwortung für dein Leben. Immer wieder wird mir bewusst, wie stark mich diese frühen Jahre geprägt haben. Ich überlege lange selber, bevor ich andere um Hilfe bitte. Es nervt mich, wenn Menschen nicht ihre Verantwortung für das eigene Leben wahrnehmen und von mir erwarten, für sie zu entscheiden. Vor allem spüre ich diese Reibungspunkte, wenn ich es mit Menschen zu tun habe, die völlig anders aufgewachsen sind, irgendwie geborgener und behüteter. Tauschen möchte ich trotzdem nicht. Ich habe Widerstandskraft gelernt, ich habe gelernt, wichtige Dinge selbst zu entscheiden und die Verantwortung für diese Entscheidungen zu übernehmen.

Mit 20 Jahren habe ich beschlossen, mich taufen zu lassen, nachdem ich – wiederum mehr oder weniger eigenständig – verschiedene Weltanschauungen und Religionen durchprobiert hatte. Warum ich ausgerechnete Christin werden wollte? Weil Jesus mich beeindruckt hat, der so konsequent seinen Weg gegangen ist. Es war nicht in erster Linie eine Entscheidung für die Kirche, sondern für ein Leben mit diesem und für diesen Jesus von Nazareth.

Trotzdem habe ich Theologie studiert und bin Pfarrerin geworden. Aber in der real existierenden „Kirche als Institution“ mit ihren Kirchengemeinden als Hort gesitteter Geselligkeit bin ich nie wirklich heimisch geworden. Mich zog es immer mehr zu den Menschen am Rande der Kirche, die kritische Fragen stellen und ihren eigenen Weg gehen.


Im Pfarramt kollidierte mein eigenes Wertesystem – Freiheit, verantwortete Individualität, politisches Bewusstsein, Glaube in freier Entscheidung – mit mir völlig fremden Werten und Ansichten darüber, was „man“, zumal als Pfarrerin, angeblich tut und nicht tut. Kirche habe ich eher als „Garantin für bestehende Ordnungen und sozialen Kitt“ erlebt, denn als Möglichkeit, Menschen mit offenen Lebensfragen und Begeisterung für Jesus zusammenzubringen.

Irgendwann merkte ich: Es passt einfach nicht mehr. Es ist mir zu eng. Also beantragte ich zunächst Beurlaubung vom Pfarrdienst und habe dann ganz gekündigt. Die Bedenken derer, die wissen, was man tut, waren schnell auf dem Plan. „Man gibt kein sicheres Arbeitsverhältnis auf.“ „Aber man folgt doch als Pfarrer treu seiner Berufung!“ „Als Christin opfert man sich auf!“ „Dein Tun verunsichert Menschen!“ „Du wirst schon sehen, wohin das noch führt!“

Und wohin hat es mich geführt? Einerseits in die finanzielle Pleite. Die Rücklagen sind aufgebraucht, ich drehe jeden Cent zweimal um, bevor ich ihn ausgebe, und arbeite momentan in einer völlig anderen Branche im Niedriglohnsektor. Wenn ich heute gefragt werde, ob ich mein Pfarrerin-Sein denn nicht vermisse, antworte ich in der Regel: Ich vermisse zwei Dinge. Erstens, dass ich das Wort Gottes regelmäßig verkünden kann. Denn dazu bin ich einst Pfarrerin geworden. Und zweitens mein komfortables Gehalt als kirchliche Beamte. Andererseits habe ich, dank des Verzichts auf Rolle, Talar und sozialen Status, mit über 40 Jahren meinen Mann fürs Leben kennengelernt. Der ist römisch-katholisch, und unsere Wege hätten sich sonst vermutlich nie gekreuzt. Und wenn doch, so hätte er sich mit Ende 40 mit Sicherheit nicht auf all die Erwartungen eingelassen, die auf ihn zugekommen wären, wenn er eine evangelische Pfarrerin samt Pfarrhaus, Dienstwohnungspflicht und 60-Stunden-Woche geheiratet hätte.

Im März habe ich, fast 45jährig, mein erstes Kind bekommen und freue mich, dass ich das Leben noch einmal von einer ganz anderen Seite kennenlernen kann. Eine begeisterte Jesus-Anhängerin bin ich immer noch, nur ohne Talar. Ich wäre nicht dort, wo ich jetzt bin, hätte ich getan, was „man“ von mir erwartete. Aber es hat auch einiges gekostet.

Der Weg vom „man“ zum „ich“  Manchmal ist es gut zu wissen, was „man“ tut. Da hat man eine Orientierung, muss das Rad nicht jedes Mal neu erfinden. Man weiß, wie man sich auf einer Party, auf einer Beerdigung oder im Gottesdienst zu verhalten hat. Meistens tut das auch nicht weh. Wenn aber das, was „man“ zu tun oder zu lassen hat, dazu führt, dass die Luft zum Atmen weg bleibt und man sich verbiegen muss, um noch akzeptiert oder gar gemocht zu werden, dann ist es Zeit für eine Entscheidung:

Will ich tun, was „man“ tut? Oder wage ich den Schritt vom „man“ zum „ich“?

Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit 45 min

Die Leiterin oder der Leiter führt mit eigenen Worten kurz in das Thema ein oder liest Auszüge aus dem Beitrag vor.

Material: etwa 5 farbige Karten pro Teilnehmer*in, dünne oder mittlere Filzstifte, Notizzettel, Stifte, Pinnwand und Nadeln.

lauschen Sie in sich hinein
Das tut man eben! Das macht man nicht! Welche Sätze hallen mir da in den Ohren? Wo kommen die her? Wer hat mir in welcher Situation gesagt, dass man dies oder das tut oder eben nicht tut?

Notieren Sie Ihre „Man …. (nicht)“-Sätze auf je einer farbigen Karte.

überlegen Sie
Waren diese Sätze für mich eher hilfreich oder weniger hilfreich? Sind es innere Leitlinien, denen ich gerne folge? Oder erlebe ich solche Forderungen eher als einengend? Wobei handelt es sich um echte innere Werte, die ich gerne etwa an Kinder oder Enkelkinder weitergeben würde? Und was würde ich gern „über Bord werfen“?

Machen Sie sich hierzu und zu den nächsten drei Schritten Notizen auf einem Notizblatt.

fantasieren Sie
Was könnte wohl passieren, wenn ich mich nach und nach oder gar von heute auf morgen von einem meiner „Man-tut-(nicht)-Sätze“ trennen würde? Wenn ich etwas, das „man“ tut, das ich aber nicht mehr tun will, eben wirklich nicht mehr tue?
Gibt es innere Stimmen, die gegen eine solche Entscheidung aufbegehren, beispielsweise die eigene Unsicherheit, Angst vor sozialer Ächtung? Wenn ja, welche? Gäbe es auch andere Menschen, die meine Entscheidung (wahrscheinlich) nicht gutheißen? Was könnte ich sagen?

Vielleicht gäbe es aber auch unterstützende Stimmen, gute Freundinnen etwa, die meine Entscheidung nicht nur verstehen, sondern sogar begrüßen, und die mich unterstützen würden. Wer und was könnte mich bestärken?

denken Sie nach
Was könnte meine Entscheidung mich kosten? Was wäre der „worst case“, der schlimmste Fall, der eintreten könnte, wenn ich mir selbst in dieser Sache treu bleibe? Würde die Oma mich enterben? Würde das ganze Dorf sich abwenden? Oder würde ich nur die Ablehnung von Menschen spüren, die ich eigentlich sowieso nicht mag? Und wäre das wirklich so schlimm? Umgekehrt: Was würde ich vermutlich gewinnen?

wägen Sie ab
Ist die Sache den Einsatz wert? Und wenn nicht: Wie kann ich mich, wenn auch vielleicht zähneknirschend, mit dem Status quo so arrangieren, dass ich mich trotzdem einigermaßen wohl fühle – zum Beispiel: als Ausgleich für die Anpassung in bestimmten Bereichen in meiner Freizeit etwas tun, das mir gut tut; mich mit Menschen umgeben, bei denen ich wohl fühlen; Orte und Zeiträume schaffen, in denen ich frei bin.

tauschen  Sie sich aus
Legen Sie dazu Ihre Kärtchen aus Schritt 1 offen vor sich aus oder heften sie an eine Pinnwand.
Vermutlich werden Sie feststellen, dass andere ganz ähnliche Dinge geschrieben haben. Und vielleicht über manche überzogene Forderung, die Sie von klein auf in sich tragen, auch herzlich lachen.
Entdecken Sie erstaunliche Parallelen zwischen Ihren Gedanken und denen anderer?

Christiane Maag hat Evangelische Theologie studiert und war dann Pfarrerin. Sie hat diesen Beruf später aufgegeben und ist zur alt-katholischen Kirche konvertiert. Heute arbeitet sie als freie Theologin und als Betreuungskraft für Demenzkranke im Altenheim.

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