Die Volkskirche wird sterben. Selbst in kirchenleitenden Kreisen wird nicht mehr geleugnet, dass die verfasste Kirche, so wie wir sie kennen, keine Zukunft hat. Vorbei sind die Zeiten, als es selbstverständlich war, Kirchenmitglied zu sein, freitags Fisch zu essen, sonntags in den Gottesdienst zu gehen und die Kinder taufen zu lassen. Oftmals war diese Selbstverständlichkeit nicht dem Glauben an Jesus Christus geschuldet, sondern der Konvention. Von dieser verabschieden sich immer mehr Menschen. Schon lange war ein Teil der evangelischen Kirchenmitglieder alles andere als fromm: 2005 glaubte ein Viertel der Mitglieder nicht an Gott, heute sind es 32 Prozent. Ist es nicht nachvollziehbar, dass diejenigen, die mit der Kernbotschaft der Kirche gar nichts anfangen können, gehen?
Die evangelische Kirche schrumpft – na und? Die feministische Theologin und Journalistin Antje Schrupp schreibt: „Es geht dem Volk Gottes nichts Wesentliches verloren, wenn diese Institution [Kirche] Mitglieder verliert.“1 Und die Pfarrerin Hanna Jacobs setzt hinzu: „Wer den Niedergang als solchen benennt, dem wird schnell Resignation, christlich gesprochen ‚Kleinglaube‘, vorgeworfen. Von meiner Generation, die weder die Aufbruchsstimmung der Nachkriegszeit noch die politischen Nachtgebete der 68er miterlebt hat, heißt es nicht selten, sie sei fantasielos, hätte sich zu sehr mit dem Status quo abgefunden, statt Visionen zu entwickeln. Dabei ist sie bloß realistisch, weil sie inmitten einer pluralistischeren, mobileren und säkulareren Gesellschaft aufgewachsen ist als noch die Boomer-Generation.“2 Demzufolge wäre es die spezifische Gruppe der älteren Hochverbundenen, die das Sterben der Volkskirche schmerzt.
Das Hauptproblem der Volkskirche ist nicht der Mitgliederschwund, sondern, so Prof. Gerhard Wegener (ehem. Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD), ihre anstaltliche Verfasstheit.3 Wegener bezieht sich auf Max Weber, demzufolge eine Anstalt dadurch gekennzeichnet ist, dass ihre Ordnungen den Anspruch erheben, für alle zu gelten, einerlei ob die Betreffenden persönlich – wie beim Verein – beitraten und bei den Satzungen mitgewirkten. „Sie sind also in ganz spezifischem Sinn oktroyierte Ordnungen.“4 Oktroyierte Ordnungen, also aufgezwungene Ordnungen, werden in der Kirche zwar meist nicht als solche erlebt, sondern eher als ‚das ist eben so‘. Kirchenmitgliedschaft ist somit ein Sich-Einordnen in vorgegebene Strukturen, die nicht zur Disposition stehen.
Nach Gundlachs Prognose wird die Kirche der Zukunft ihr anstaltliches Gepräge nicht ablegen, da die kircheninterne Machtstruktur unangetastet bleibt. Anders sieht dies die Evangelische Kirche im Rheinland. Ein Impulspapier des theologischen Ausschusses entwickelt eine Vision einer Mitgliederkirche, in deren Mittelpunkt der Begriff der Partizipation steht. Basierend auf dem biblischen Verständnis der christlichen Gemeinschaft und den Menschen als Mitarbeiter*innen Gottes betont das Papier sowohl das Bedürfnis der Menschen, ihre persönlichen Gaben zu entdecken und einzubringen, als auch die Aufgabe der Kirche, diese Gaben willkommen zu heißen. Damit verbunden ist Partizipation: „Partizipativ Kirche leben meint die Übertragung von Verantwortung und den damit einhergehenden Verzicht auf Macht.“10 Das Papier unterscheidet Vorstufen der Partizipation von echter Partizipation. Erstere bezieht sich beispielsweise auf das Erfragen von Meinungen, letztere (auch) auf das Abgeben von Entscheidungskompetenzen. Die EKiR kritisiert, dass echte Partizipation im Sinne von Machtverzicht und Kompetenzübertragung in der Kirche selten der Normalfall ist.
Organisationen gewinnen in dem Maß an Attraktivität, in dem es ihnen gelingt, echte Partizipation zu praktizieren. Dies geschieht unter anderem in den Räumen, die landeskirchliche Frauenarbeiten und evangelische Frauenverbände schaffen. Einer Studie zufolge erfahren Frauen hier Wertschätzung für ihre Gaben und erleben sich als geistlich selbstwirksam, indem sie beispielsweise durch ihre „aktive Mitgestaltung von Gottesdiensten am Verkündigungsauftrag der Kirche partizipieren.“11 Solche Räume sind kirchliche Kontaktflächen zu demokratiegewöhnten Menschen, die Partizipation erwarten.
Partizipation antwortet auf das Wie, die Vision auf das Was der Kirche. Visionen sind das Herzblut jeder Organisation, auch für die Kirche als verfasste Einheit. Ihre Herausforderung besteht darin, die alte Vision vom Kommen des Reiches Gottes auf partizipative Weise zu reartikulieren, d.h. gemeinsam mit allen Mitgliedern Übersetzungen anzufertigen, die tragen. Ein zentraler Bestandteil der Arbeit an einer Neuformulierung der Vision ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Postkoloniale Stimmen kritisieren, dass dem Zusammenhang von Kolonialismus und Protestantismus bisher kaum Aufmerksamkeit zuteil wurde. Die dominante Kirchengeschichtsschreibung berichtet nichts von der Unterstützung der Sklaverei durch evangelische Christ*innen, nichts von den Schwarzen Kindern, die Friedrich Wilhelm I. 1717 kaufte und in einem großen gesellschaftlichen Spektakel in der Garnisonkirche zu Potsdam zwangstaufen ließ. Lange Zeit wurde auch nicht danach gefragt, ob deutsche Pfarrer in den überseeischen Kolonien an der Unterdrückung und Ermordung der indigenen Bevölkerungen beteiligt waren. In Bezug auf Namibia haben Forschungen ergeben, dass die entsandten Pfarrer dem von Deutschen verübten Völkermord an OvaHerero, Nama, Damara und San/Khoisan bis auf wenige Ausnahmen nicht entgegentraten, ihn vielmehr theologisch legitimierten. Sie haben „somit den Boden für den Tod vieler tausender Angehöriger der namibischen Volksgruppen mit vorbereitet, die sowohl in den Kriegshandlungen selbst als auch bei der Internierung in Konzentrationslagern der deutschen Schutztruppen ums Leben kamen. Zwar haben (soweit es aus den Quellen zu ersehen ist) die nach Südwestafrika entsandten deutschen evangelischen Pfarrer nicht selbst direkt zu den Massentötungen aufgerufen, dennoch prägte ein tiefsitzender Rassismus, gespeist aus einem kulturellen Überlegenheitsgefühl und einer tief gegründeten Angst um die eigene, möglicherweise gefährdete Identität ihr Denken und vergiftete ihr Reden und Handeln.“12 Die EKD hat einen Prozess der Aufarbeitung begonnen und mit einem Satz einen wichtigen Beitrag geleistet für die Kirche der Zukunft: „Dies ist eine große Schuld und durch nichts zu rechtfertigen.“13
Herrschaftskritik, mithin auch an der eigenen Herrschaftsausübung, als Bestandteil christlicher Mission beinhaltet, die Erinnerung an jene wachzuhalten, die nicht überlebt haben, die ausgelöscht wurden, physisch wie diskursiv. Wie sich diese Erinnerung mit der kreativen Gestaltung der Kirche von morgen verbindet, zeigt die Bewegung „Bibel in gerechter Sprache“ (BigS). Sie hat ihre Wurzeln in feministischer Theologie, Befreiungstheologie und christlichjüdischem Dialog und zielt darauf, die biblischen Texte so zu übersetzen, dass ihre Botschaft der Gerechtigkeit für Frauen, für jüdische Menschen und für Arme deutlich(er) hörbar wird. Richtungsweisend ist die BigS nicht nur bezüglich der Inhalte, sondern ebenso bezüglich der Entstehungsform. Sie stellte keine Auftragsarbeit eines Bibelwerks dar, sondern war ein offenes, partizipatives Projekt. Über Jahre brachten etwa 300 Gruppen und Einzelpersonen ihre Perspektiven ein, ihre Voten flossen ein in die Arbeiten der 52 Übersetzer*innen. Wenn heute die Frage gestellt wird, wie das geht mit der partizipativen Kirche, ist die BigS-Bewegung m.E. ein gutes Beispiel.
Diskussion in drei Runden
1. Runde
Was müsste geschehen, um die evangelische Kirche so richtig vor die Wand zu fahren?
Jede Person notiert ihre Einfälle auf farbigen Kärtchen. Die Moderation nimmt die Notizen entgegen und pinnt sie an eine Pinnwand. Gemeinsam werden die Karten thematisch geordnet.
2. Runde
Was davon hat die Kirche schon ganz oder in Teilen umgesetzt?
Besprochen wird, welche der in der ersten Runde gesammelten Ideen bereits tagesaktuell sind. Die Moderatorin nimmt die entsprechenden Karten ab und heftet sie separat auf eine Pinnwand.
3. Runde
Wie müsste für mich eine Kirche sein,die ich lieben könnte?
Entspricht das dem Zustand, den ich sehe?
Dr. Eske Wollrad ist Theologin und war Geschäfts- führerin der Evangelischen Frauen in Deutschland. Seit 2016 ist sie Geschäftsführerin des Evangeli- schen Zentrums Frauen und Männer und verant- wortet als Herausgeberin leicht & SINN.
Die letzte Ausgabe der leicht&SINN zum
Thema „Bauen“ ist Mitte April 2024
erschienen. Der Abschluss eines Abonnements
ist aus diesem Grund nicht mehr möglich.
Leicht&Sinn - Evangelisches Zentrum Frauen und Männer gGmbH i. L. | AGBs | Impressum | Datenschutz | Cookie-Einstellungen | Kontakt
Wenn Sie noch kein Passwort haben, klicken Sie bitte hier auf Registrierung (Erstanmeldung).