Ausgabe 2 / 2020 Artikel von Johanna Gutowski

Doch gestalten können wir diese Welt

Von Johanna Gutowski

„Niemand sucht aus“ – Das Gedicht ist 1972 im ersten Lyrikband von Gioconda Belli erschienen. Auch wenn es vor fast 50 Jahren verfasst wurde, scheint es, als wäre es für unsere Zeit geschrieben. In dieser Zeit der Krise und des Umbruchs können wir mit diesem Gedicht über aktuelle gesellschaftspolitische Fragen sprechen. Und wir können Mut fassen, um das Samenkorn, das wir in uns tragen, zum Wachsen zu bringen.

Man sucht sich das Land seiner Geburt nicht aus | und liebt doch das Land,
wo man geboren wurde

Gioconda Belli stammt aus Nicaragua. Wie sie, konnten auch wir uns die Verhältnisse nicht aussuchen, in die wir hineingeboren wurden. Keine*r kann sich aussuchen, welche ökonomischen Mittel die jeweilige Herkunftsfamilie für Bildung und Ernährung zur Verfügung hat. Auch nicht das Geschlecht, die Hautfarbe oder die nationale Identität. Dabei bestimmen diese Faktoren stark über den Verlauf unseres Lebens. Auch Gioconda Belli schreibt: „Zwei Dinge, über die ich nicht entschied, entschieden über mein Leben: das Land in dem ich geboren wurde, und das Geschlecht, mit dem ich zur Welt kam.“1 Weltweit werden Frauen aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert. Sie verdienen im Durchschnitt 23 Prozent weniger als Männer und leisten weltweit den größten Anteil an unbezahlter Sorgearbeit.2 Diese ungleiche Verteilung von Sorgearbeit trifft Frauen in Deutschland, in den europäischen Nachbarländern, in Nicaragua und in ganz Lateinamerika. Darüber müssen wir reden, denn diese ungleiche Verteilung hat langfristige Auswirkungen. Durch geringe oder gar keine Entlohnung verdienen diese Frauen weniger und geraten dadurch in Altersarmut. Zudem tragen starre Rollenbilder dazu bei, dass Frauen auch die Hauptverantwortung für die Sorgearbeit zugeschrieben wird.

Man sucht sich die Zeit nicht aus, in der man die Welt betritt, | aber muss Spuren hinterlassen in seiner Zeit. | Seiner Verantwortung kann sich niemand entziehen.

Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern wird durch die Corona-Pandemie und die mit den Schutzmaßnahmen verbundenen Herausforderungen ungeschönt sichtbar, wenn nicht sogar verstärkt. Schon vor der Krise standen vor allem Frauen vor der Schwierigkeit, Erwerbstätigkeit und Sorgearbeit zu vereinbaren. Mit flächendeckenden Schließungen von Betreuungseinrichtungen, Homeoffice und Homeschooling hat sich das noch einmal zugespitzt. In vielen Ländern Lateinamerikas sind arme Menschen besonders stark von der Krise betroffen, weil für viele die Lebensgrundlagen durch fehlende Einkommen plötzlich wegbrechen. In Ländern wie Nicaragua hingegen schränkt sich die Bevölkerung selbst ein, weil der Präsident nicht handelt.3

Gioconda Belli mahnt: „Seiner Verantwortung kann sich niemand entziehen.“ Jede einzelne von uns kann dort anfangen, wo sie ist, um unsere Gesellschaft gleichberechtigter und fairer auszurichten und zu strukturieren.

Wir suchen den Zeitpunkt nicht aus, zu dem wir die Welt betreten, | doch gestalten können wir diese Welt, | worin das Samenkorn wächst, | das wir in uns tragen.


Wir können die Welt gestalten, schreibt Belli. Das kann im Kleinen sein. Etwa wie in Chile, wenn sich Nachbar*innen organisieren, um gemeinsam Essen zu verteilen, weil die Lebensmittelpakete der Regierung nicht bei allen ankommen.4 Oder wenn Menschen den im Rahmen des Corona-Konjunkturpaketes beschlossenen Familienbonus an Familien spenden möchten, die ihn wirklich benötigen.

Ungleichheit im Blick zu haben und sichtbar zu machen, ist wichtig. Dazu muss sich auch strukturell etwas verändern. So kritisiert zum Beispiel der deutsche Frauenrat, dass in der aktuellen Krisenbewältigung zu wenige Frauen an Entscheidungen beteiligt sind und fordert eine geschlechtergerechte Krisenpolitik.5

Jede Zeit des Umbruchs birgt neue Möglichkeiten in sich. Möglichkeiten der Gestaltung, des Überwindens von alten Gewohnheiten und ungerechten Strukturen. „Mut wächst“ ist das Jahresthema 2020/21 des Frauenwerks der Nordkirche. Jetzt ist die Zeit, in der Mut wachsen kann.6

Wenn wir das Samenkorn, das wir ins uns tragen, wachsen lassen, können wir diese sich auftuende Möglichkeit ergreifen und mit wachsendem Mut diese Welt gerechter gestalten.
Anmerkungen
1) Gioconda Belli: Die Verteidigung des Glücks. Carl Hanser Verlag: München 2001, S. 9
2) https://www.oxfam.de/unsere-arbeit/themen/soziale-

ungleichheit (23.06.2020)
3) https://lateinamerika-nachrichten.de/artikel/ortegas-skandaloeses-desinteresse/ (30.06.2020)
4) https://lateinamerika-nachrichten.de/artikel/solidarische-suppenkueche-gegen-die-coronakrise/ (30.06.2020)
5) Vgl. https://www.frauenrat.de/mit-einer-feministischen-aussenpolitik-und-internationale-zusammenarbeit-weltweit-gegen-corona/ und https://www.frauenrat.de/fuer-eine-geschlechtergerechte-krisenpolitik/ (09.06.2020)

6) https://www.morgen-war-alles-gut.de/ (30.06.2020)

Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit / 120 min

Die vorgeschlagene Gruppenarbeit braucht circa zwei Zeitstunden. Sie kann vor Ort oder im digitalen Raum durchgeführt werden.

Für die Vor-Ort-Variante halten Sie als Material Papier, Stifte, Moderationskarten, Moderationswand und Pinn-Nadeln bereit.

Für die Online-Variante bitten Sie die TN, Papier und einen gut leserlichen Stift bereitzuhalten.

Es ist anstrengend, lange vor dem Bildschirm konzentriert an einem Workshop teilzunehmen. Achten Sie daher auf die Bedürfnisse Ihrer TN nach einer Pause von circa 20 Minuten.

Wenn Sie TN haben, die zum ersten Mal an einer Online-Videokonferenz teilnehmen, bieten Sie nach Möglichkeit am Tag zuvor einen „Testlauf“ an, bei dem Einwählen und Umgang mit Kamera und Mikrofon geübt werden können und bei Bedarf telefonische Unterstützung gegeben wird.

Wenn alle TN sich zugeschaltet haben, stellen Sie nach der Begrüßung kurz die Regeln der Online-Kommunikation vor: Bitte das Mikrofon auslassen, wenn andere sprechen, sich per Handzeichen oder über den Chat zu Wort melden.

Einstieg:
Bitten Sie jede TN, auf ein weißes Blatt Papier eine Pflanze zu malen, die dafür steht, wie es ihr aktuell geht. Nach circa 5 Min bitten Sie jede TN einzeln, ihren Namen zu sagen und kurz und knapp etwas zu ihrer Zeichnung zu sagen. [circa 15 Minuten]

Bitten Sie die TN, die Zeichnung aufzubewahren, weil Sie werden später darauf zurückkommen werden.

Impuls für die Diskussion:
Verteilen Sie Kopien des Gedichts von Gioconda Belli und lesen es dann vor.

Für die Online-Variante können Sie dazu auch Ihren Bildschirm teilen und das Gedicht z.B. mittels eines Word-Dokuments oder über eine PowerPoint-Präsentation visualisieren.

Bitten Sie die TN zu überlegen: Was bedeutet es für mich, dass ich mir das Land und die Zeit, in die ich geboren wurde, nicht aussuchen kann? Was bedeutet dies für Frauen in anderen Ländern, auf anderen Kontinenten? Welche Möglichkeiten hätte ich vielleicht nicht gehabt?

Die TN können ihre Antworten auf Moderationskarten schreiben.

Für die Online-Variante notieren Sie die Antworten der TN in einem geöffneten Word-Dokument und machen dies für alle sichtbar, indem Sie „Bildschirm freigeben“ anklicken.

für Geübtere: Sie können zur Visualisierung die Kartenabfrage des Tools Oncoo verwenden (https://oncoo.de/oncoo.php). Die TN schreiben auf der Schüler*innenseite ihre Antworten als Stichpunkte auf virtuelle Karten. Wenn die Karten abgeschickt werden, können Sie die Lehrer*innenoption verwenden und die Karten über den geteilten Bildschirm präsentieren. Sie haben auch die Möglichkeit, die Antworten zu clustern.

für weniger Geübte: Als Abonnent*in können Sie auf leicht-und-sinn.de unter dem „Material zum Download“ dieser Ausgabe eine präzise Anleitung zur Verwendung des Tools Oncoo herunterladen.

Wenn alle Antworten gesammelt sind, tauschen Sie sich in der Gruppe darüber aus.  [circa 20 Minuten]

Impuls:
Das Land und die Zeit, in der wir geboren werden, bestimmen nicht zuletzt, mit welchen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern wir konfrontiert werden. Wo und in welchen Formen erlebe ich das heute? Wo und in welchen Formen erleben das Menschen in anderen Ländern?

Gemeinsam können die TN Beispiele aus unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen zusammentragen – kurz und ohne die Beiträge der anderen zu kommentieren oder zu diskutieren.

Impuls für den Austausch:

Doch gestalten können wir diese Welt, | worin das Samenkorn wächst, | das wir in uns tragen.

Wie kann und muss die Welt gestaltet werden, dass Geschlechtergerechtigkeit erreicht werden kann? Was kann und muss sich strukturell und kulturell verändern, was kann auf individueller Ebene geschehen? Was kann von uns ganz konkret dafür getan werden? [circa 25 Minuten]


In der Online-Variante können Sie, wenn das bei Ihrem Konferenztool möglich ist, die TN in der Gruppenphase in separate Räume – sogenannte Breakout Rooms – verteilen. Alternativ können Sie vor dem Workshop weitere Konferenzen anlegen, die dann als Gruppenräume zur Verfügung stehen.

Anschließend stellen die TN einander eine der Handlungsoptionen vor, die in der Gruppe besprochen wurden. Sind diese Optionen umsetzbar? Wann fangen die TN damit an? Was hindert sie daran, ins Handeln zu kommen? [circa 30 Minuten]

Abschluss:

Kommen Sie nun auf die gemalte Pflanze zurück. Bitten Sie die TN, ihrer Pflanze einen Samen hinzuzufügen und zu überlegen, was der Samen braucht, damit der Mut zum Handeln wachsen kann. Abschließend teilen die TN diesen Gedanken miteinander. [circa 20 Minuten]

Dr. Johanna Gutowski hat Ethnologie und Romanische Philologie studiert und promovierte uber die Libation ch’alla in Bolivien – eine Trankopferritual fur die pachamama, die Mutter Erde, und andere Entitaten. Zurzeit arbeitet sie als Referentin fur gesellschaftspolitische Fragen aus Frauensichten beim Frauenwerk
der Nordkirche.
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